2011
61. Internationale Filmfestspiele Berlin
10. – 20. Februar 2011
„Wenn Politik, Fantasie und Glamour synchron gehen, wenn der Festivalplanet und die wirkliche Welt ihre Bahnen kreuzen, sind das kostbare, magische Momente.“ – Christiane Peitz, Der Tagesspiegel, 20.2.2011
Was tun, wenn die Utopien des Kinos von den Ereignissen in der Welt eingeholt und überholt werden? Angesichts der Umbrüche in der arabischen Welt ließ sich der Eindruck gewinnen, dass die wichtigsten Bilder zu Beginn des Jahres 2011 weder im Kino noch im Fernsehen, sondern auf den Videoplattformen und den sozialen Netzwerken im Internet zu finden waren. Zur Jahreswende hatte sich die Jasminrevolution in Tunesien ereignet. Sie entwickelte sich schnell zum „Vorbild für Millionen von Arabern, die seit Jahrzehnten unter ihren korrupten Herrschern leiden“, wie auf Spiegel Online zu lesen stand. Am zweiten Tag des Festivals legte der ägyptische Präsident Husni Mubarak aufgrund der ungebrochenen Demonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz seine Ämter nieder. Eine Epoche ging zu Ende, war Mubarak doch 20 Jahre lang der (un-)umstrittene Alleinherrscher des arabischen Landes. Tag für Tag, Land um Land flammten neue Formen des freiheitlichen Widerstandes auf und in den Festivaltagen wurde die weltpolitische Karte ein Stück weit neu geschrieben.
Die Berlinale sieht grün
Ein Einbruch des Politischen bewegte auch den Eröffnungsabend der 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin im Berlinale Palast, in dem ein Stuhl gezwungenermaßen leer bleiben musste: derjenige des iranischen Filmemachers Jafar Panahi. Der Regisseur konnte seinen Platz in der Internationalen Jury nicht einnehmen, weil man ihn und seinen Regie-Kollegen Mohammad Rasoulof aufgrund eines geplanten Films in ihrem Heimatland zu sechs Jahren Gefängnis und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt hatte. Während der Eröffnungsgala verlas Jurypräsidentin Isabella Rossellini einen offenen Brief Panahis – ein bewegender Moment, in dem eines klar wurde: Der Regisseur würde sich weder seine Hoffnung noch seine Träume nehmen lassen. „Die Wirklichkeit ist, dass mir für 20 Jahre das Denken und Schreiben untersagt wurden. Aber sie können mich nicht davon abhalten zu träumen, dass in 20 Jahren die Verfolgung und die Einschüchterung durch Freiheit und freies Denken ersetzt sein werden“, ließ der Regisseur verkünden. Und mit Blick auf die tagesaktuelle Berichterstattung im Februar 2011 konnte der Eindruck entstehen, dass sich diese Vision in Teilen der arabischen Welt zumindest für den Moment bereits zu erfüllen begann.
Die Berlinale reagierte auf das Ausreiseverbot des Jurymitglieds. Neben der Ausrichtung einer Podiumsdiskussion mit iranischen Filmemachern und Künstlern zu den Themen Zensur und Einschränkung der Freiheit und Meinungsäußerung in Iran gab es ein Sonderprogramm mit einigen Filmen von Jafar Panahi in mehreren Festivalsektionen zu sehen. Höhepunkt war die Vorführung von Offside (Silberner Bär – Großer Preis der Jury 2006) im Rahmen des Wettbewerbs. Auf dem Roten Teppich versammelten sich die Größen der deutschen Filmlandschaft, um ihre unbedingte Solidarität mit dem iranischen Filmemacher in aller Sichtbarkeit zu demonstrieren. Das Motto war Grün, die Farbe der niedergeschlagenen iranischen Revolution von 2009.
Doch alle Aufrufe halfen nicht – Panahi durfte den Iran nicht verlassen. Umso erfreulicher, dass der Film eines anderen iranischen Regisseurs mit dem Goldenen und gleich zwei Silbernen Bären ausgezeichnet wurde: Jodaeiye Nader az Simin. Neben dem Preis für den Besten Film wurde Asghar Farhadis Familiendrama mit zwei Silbernen Bären für die Leistungen des Schauspielerinnen- und des Schauspieler-Ensembles ausgezeichnet. Der ungarische Regisseur Béla Tarr erhielt für seinen – nach eigener Aussage letzten – Film A torinói ló den Großen Preis der Jury. Der Silberne Bär für die Beste Regie blieb in Deutschland: Ulrich Köhler durfte den Preis für seine Arbeit an Schlafkrankheit mit nach Hause nehmen. Der mexikanische Film El premio von Paula Markovitch wurde mit zwei Bären bedacht: Der Kameramann Wojciech Staron und die Szenenbildnerin Barbara Enriquez teilten sich den Preis für eine Herausragende Künstlerische Leistung ex aequo. Der amerikanische Regisseur Joshua Marston und sein Co-Autor Andamion Murataj wurden für ihr Drehbuch zu The Forgiveness Of Blood ausgezeichnet, der deutsche Regisseur Andres Veiel erhielt für seinen ersten Spielfilm, Wer wenn nicht wir, den Alfred-Bauer-Preis. Erstmals seit 2002 war die Verleihung der Hauptpreise der Kurzfilmsektion Berlinale Shorts wieder Teil der offiziellen Abschlussgala und das koreanische Kino triumphierte: Das Regieduo PARK Chan-wook und PARK Chan-kyon sicherte sich mit PARANMANJANG den Goldenen Bären, Yang Hyo-joo wurde für Pu-Seo-Jin Bam mit dem Silbernen Bären geehrt.
Die in der Presse durchweg mit Wohlwollen und Zufriedenheit aufgenommene Verkündung der Preisträger bildete den Abschluss eines breit gefächerten Wettbewerbsprogramms: „[D]ie Filme dieses Jahrgangs brauchen Offenheit“, schrieb Robert Weixlbäumer im tip Magazin über die Verschiedenartigkeit und Eigenständigkeit der filmischen Ansätze, die in der Auswahl zu finden waren. Diese Vielfalt entsprach genau dem von Festivaldirektor Dieter Kosslick ausgegebenen Motto der Berlinale 2011, nach dem viele Türen in die „Zukunft des Kinos als Kunstform“ aufgestoßen werden sollten.
Den Auftakt der 61. Berlinale hatte der Western True Grit von Joel und Ethan Coen gemacht, Stars und Sternchen tummelten sich auf dem ersten Roten Teppich des Jahres. Die Coen-Brüder hatten ihre Schauspieler Jeff Bridges und Josh Brolin mitgebracht, deren Erscheinen allerdings noch von einem 14-jährigen Mädchen überstrahlt wurde: Hauptdarstellerin Hailee Steinfeld verzauberte mit ihrem Lächeln die versammelte Riege an Schaulustigen und Fotografen. Für die enthusiastischen Fans unter den Berlinale-Besuchern sollten sich im Laufe des Festivals noch zahlreiche Möglichkeiten ergeben, bei den Auftritten von Helena Bonham Carter, Colin Firth, Diane Kruger, Harry Belafonte, Ralph Fiennes, Jeremy Irons, Kevin Spacey und vielen weiteren an die begehrten Autogramme der Stars zu gelangen. Lim Soo-jung und Hyun Bin, die Hauptdarsteller aus dem Wettbewerbsbeitrag Saranghanda, Saranghaji Anneunda, sorgten bei ihrer Ankunft am Roten Teppich gar für tumultartige Szenen unter ihren überwiegend asiatischen Fans.
Neue Techniken des Sehens
Eine Weltpremiere in neuem Gewand feierte der Berlinale-Trailer am 13. Februar: Erstmals wurde er in 3D präsentiert. Der 13. Februar war überhaupt der Stichtag für den Einzug der 3D-Technik in das Repertoire der Berlinale. Gleich drei 3D-Filme erlebten an diesem Sonntag ihre Welt- oder Europapremiere und die Mischung hätte bunter nicht sein können. Mit Michel Ocelots Les contes de la nuit sorgte ein französischer Animationsfilm für den Auftakt. Gefolgt wurde er von den Filmen zweier deutscher Regiegrößen von internationalem Rang. Wim Wenders präsentierte den Tanzfilm PINA als filmisches Denkmal an die 2009 verstorbene Choreographin Pina Bausch und von Werner Herzog gab es am Ende des Abends noch den Dokumentarfilm Cave Of Forgotten Dreams zu sehen. Herzog verstand es, die ältesten Spuren menschlicher Bildproduktion – die Höhlenmalereien im südfranzösischen Chauvet – mit dem kinematographischen State of the Art gekonnt zu verknüpfen. Die Welturaufführung von PINA lockte die deutsche Politprominenz in den Berlinale Palast: Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich ebenso wie Bundespräsident Christian Wulff und der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Bernd Neumann mit fescher 3D-Brille. Die Berlinale setzte mit dieser Filmauswahl durchaus ein Zeichen: weg vom Mainstream-Kino, bei dem die 3D-Technologie bisher vornehmlich zu finden war, hin zum Arthouse-3D-Cinema.
Ein Klassiker der Moderne
Die Retrospektive war in diesem Jahr dem 2007 verstorbenen schwedischen Regisseur Ingmar Bergman gewidmet. Sektionsleiter Rainer Rother stellte die Filmreihe in den Kontext der Ausstellung „Ingmar Bergman – Von Lüge und Wahrheit“ im Berliner Museum für Film und Fernsehen, in der bisher unveröffentlichte Materialen aus Bergmans Nachlass zu sehen waren. Dieses Gesamtpaket sollte neue Blicke auf einen zu Unrecht bereits als erschlossen geltenden Filmautoren eröffnen, so Rother. Als Gäste durfte er langjährige Weggefährten Bergmans wie die Schauspielerinnen Liv Ullmann und Harriet Andersson oder den schwedischen Filmemacher Stig Björkman in Berlin begrüßen.
Die Hommage würdigte 2011 mit Armin Mueller-Stahl einen der größten deutschen Schauspieler. Ein umfangreiches Programm, das mit Filmen von Frank Beyer bis zu David Cronenberg alle Facetten der Schaffenskraft Mueller-Stahls beleuchtete, erreichte seinen Höhepunkt mit einer Galavorstellung von Music Box, dem Gewinner des Golden Bären 1990. An diesem Abend wurde Mueller-Stahl der Goldene Ehrenbär für sein Lebenswerk überreicht und Laudator war kein geringerer als der Regisseur des Films: Costa-Gavras. Der griechisch-französische Filmemacher konnte sich so auf seine Art revanchieren – hatte Armin Mueller-Stahl doch die Laudatio gehalten, als er 2002 eine Berlinale Kamera erhalten hatte.
Filme auf Augenhöhe
In der Kinder- und Jugendsektion Generation konnten die Premieren des Kplus- und 14plus-Wettbewerbs erstmals wieder unter einem gemeinsamen Dach im Haus der Kulturen der Welt stattfinden, nachdem der Zoo Palast aufgrund von Umbauarbeiten nicht als Spielstätte zur Verfügung stand. Sektionsleiterin Maryanne Redpath und ihr Stellvertreter Florian Weghorn freuten sich über Filme auf Augenhöhe mit den Themen und Blicken der jüngeren Generation und einen insgesamt sehr starken Jahrgang 2011. So überraschte es nicht, dass der Gewinnerfilm der 14plus-Jugendjury, On the Ice von Andrew Okpeaha MacLean, bei der Berlinale-Abschlussveranstaltung auch noch mit dem Preis für den Besten Erstlingsfilm bedacht wurde.
In der Perspektive Deutsches Kino debütierte Linda Söffker mit Bravour als neue Sektionsleiterin. Sie präsentierte ein junges deutsches Kino, das neue Sichtweisen zeigte und sich zwischen den Koordinaten einer eigenen Handschrift und einer ungebrochenen Experimentierlust der Regisseure positionierte. Der deutsche Filmemacher Romuald Karmakar konnte als Juryvorsitzender des Preises „Dialogue en perspective“ gewonnen werden, bei dem am Ende ein Film die Nase vorn hatte, der das etablierte Kino mit neuen Formen des kinematographischen Erzählens bereichern konnte: Die Ausbildung von Dirk Lütter. Die Perspektive Deutsches Kino hatte auch den Dokumentarfilm Stuttgart 21 – Denk mal! eingeladen und verschaffte damit der deutschen Aktualität zivilen Ungehorsams ihren Raum – war der Begriff des „Wutbürgers“ doch 2010 zum Wort des Jahres gewählt worden. Und dennoch - angesichts der Bilder eines entfesselten Bürgerkrieges in den Städten Libyens, die gegen Ende des Festivals zunehmend in das öffentliche Bewusstsein drangen, schienen die Strategien des Widerstandes gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs längst eine Fußnote der Geschichte.
Das Forum widmete sich mit seinen Filmen verstärkt dem Ausloten familiärer Beziehungen. Die Frage nach möglichen Formen der Vergemeinschaftung zog sich wie ein roter Faden durch die Programmgestaltung. Und „[c]ineastisch lohnte es sich ... mehr als je zuvor, ins Forums-Programm zu schauen“ (Günter H. Jekubzik, Filmtabs, 18.2.2011). Dreileben, eine dreiteilige Gemeinschaftsarbeit von Dominik Graf, Christian Petzold und Christoph Hochhäusler, gehörte im Programm auch international zu den meistbeachteten Beiträgen. In der kleinen Retrospektive des Forums ließ sich ein hierzulande fast gänzlich unbekannter japanischer Regisseur entdecken: Shibuya Minoru. Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in Ägypten gelang es dem Forum gar, kurzfristig ein Programm namens „Traces of Change in Egypt“ mit Kurzfilmen und Trailern unabhängiger Filmemacher aus Ägypten zusammenzustellen, während auf einem Monitor im Foyer des Filmhauses Videobriefe von Teilnehmern der dortigen Proteste zu sehen waren, die sich an das Berlinale-Publikum richteten.
Das Panorama feierte das Weltkino in all seiner Vielfältigkeit. Sektionsleiter Wieland Speck lobte die ungebrochene Kraft des Independent-Kinos. Die Filme verorteten sich zwischen den Polen eines hermetisch-intimen Befindlichkeitskinos und Genre-Handwerk. Die Panorama Dokumente entwarfen anhand auffallend vieler (Künstler-)Porträts unter anderem interessante Blicke auf die Randzonen deutsch-deutscher Geschichte. Das Bild der innerdeutschen Beziehungen seit den 1950er Jahren kristallisierte sich anhand illustrer Figuren wie dem Nachtclub-Besitzer Rolf Eden oder dem Fotografen Herbert Tobias.
Gute Ernährung, ökologisch verantwortungsvoll hergestellte Lebensmittel, faire Handelsbedingungen und nicht zuletzt die genussvolle Verbindung von Film, Küche und Kultur - die Themen des Kulinarischen Kinos sind mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dementsprechend beliebt war auch seine fünfte Ausgabe, dieses Mal unter der Überschrift „Give Food a Chance“. Als weiterer Publikumsliebling wurde die 2010 ins Leben gerufene Reihe „Berlinale goes Kiez“ mit ungebrochenem Erfolg fortgesetzt. Von Steglitz bis Friedrichshagen verwandelte sich Abend für Abend ein Berliner Programmkino zum Schauplatz des Fliegenden Roten Teppichs. Prominente Kinopaten wie Tom Tykwer, Leander Haußmann und Marie Bäumer begrüßten die Zuschauer und die Filmteams.
Und während beim neunten Berlinale Talent Campus 350 junge Filmschaffende unter der Überschrift „Framespotting: Filmemacher positionieren sich“ hoffnungsfroh an ihrer persönlichen Ausrichtung auf das internationale Filmgeschäft feilten, konnten der European Film Market und der Berlinale Co-Production Market sich über einen starken Jahrgang mit guter Stimmung, zufriedenen Teilnehmern und vielen erfolgreichen Geschäftskontakten freuen.
Einen Tag nach dem Ende der 61. Berlinale brannten in einem weiteren arabischen Land – diesmal in Libyen – Regierungsgebäude, und so konnte wiederum der Eindruck entstehen, das Festival sei von den weltpolitischen Realitäten überholt worden. Aber nur, wenn man eine Tatsache außer Acht lässt – dass sich Politik nicht nur auf den öffentlichen Plätzen und in den Stimmen tausender Menschen herstellt, sondern vor allem auch in den intimsten, privatesten und alltäglichsten Handlungen – wie sie sich der Gewinner des Goldenen Bären Jodaeiye Nader az Simin zum Thema nimmt. Und dass die Kämpfe um Freiheit noch lange nicht gewonnen sind, das bewies die Geschichte um Jafar Panahi, dem der Blick auf die Realisierung seiner Träume zumindest vorläufig entzogen wurde.
Die Berlinale 2011 in Zahlen
Besucher | |
---|---|
Kinobesuche | 484.860 |
Verkaufte Eintrittskarten | 299.562 |
Fachbesucher | |
Akkreditierte Fachbesucher (ohne Presse) | 15.532 |
Anzahl Herkunftsländer | 115 |
Presse | |
Pressevertreter | 3.825 |
Herkunftsländer | 81 |
Screenings | |
Anzahl Filme im öffentlichen Programm | 352 (davon 100 Kurzfilme) |
Anzahl Vorführungen | 932 |
European Film Market | |
Fachbesucher | 6.982 |
Anzahl Filme | 741 |
Anzahl Screenings | 1.046 |
Stände auf dem EFM (Martin-Gropius-Bau & Business Offices) |
132 |
Anzahl Aussteller | 400 |
Berlinale Co-Production Market | |
Teilnehmer | 483 |
Anzahl Herkunftsländer | 43 |
Berlinale Talent Campus | |
Teilnehmer | 356 |
Anzahl Herkunftsländer | 87 |
Jahresbudget | € 19,5 Mio. |
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 6,5 Mio. vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. |