2023

73. Internationale Filmfestspiele Berlin

16. - 26. Februar 2023

Best of Berlinale 2023

Zahlen und Fakten 2023

„Ich versuche, mit unserem Programm eine Art Landkarte zu erschaffen, in der Zuschauer:innen ihre eigene Route wählen können, entlang der drängenden Fragen der Gegenwart.“
Carlo Chatrian (im Gespräch mit Claudia Reinhard, „Berliner Zeitung“, 01.02.2023)

Die jüngste Jurypräsidentin aller Zeiten. Politisch aktiv wie glamourös. Die charismatische Aura maßgeblich geprägt durch ihre klaren Standpunkte. Die Masse der Fans am Roten Teppich schreit ihren Namen in den kalten Nachthimmel hinaus. Die Crew des Eröffnungsfilms ist gekommen, Stars flanieren in Richtung des Berlinale Palastes, wo sich Minister*innen und internationale Würdenträger*innen die Klinke in die Hand geben. Die Show perfekt inszeniert. An ihrem Höhepunkt stellt Sean Penn den Protagonisten seines Dokumentarfilms Superpower vor: Live-Schalte zu einem Präsidenten, dessen Land, die Ukraine, im Krieg ist. Minutenlang stehende Ovationen. Dann spricht Wolodymyr Selenskyj. Zehn Minuten. Am Ende haben die Besucher*innen, gestandene Filmpersönlichkeiten, mitunter Tränen in den Augen. Auftakt zu den 73. Internationalen Filmfestspielen Berlin.

Politisch gezeichnet

Einen Neustart hatten Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian nach zwei Jahren coronabedingter Unsicher- und Zerrissenheit im Vorfeld versprochen. Der erste Abend übertraf alle Erwartungen, kreierte ein starkes Gefühl der Gemeinschaft in unruhigen und bedrohlichen Zeiten. Was am Ende der 72. Berlinale wie ein Albtraum über Europa eingebrochen war, bestimmte nun die Agenda: der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der sich im Festivalzeitraum jähren sollte. Die Weltpolitik, die brutalen Missklänge von Unterdrückung und Widerstand, Aggression und Verteidigung, beherrschten das diskursive Epizentrum – neben einer fulminanten Rückkehr des Glamours, der von vielen Beobachter*innen in den Vorjahren schmerzlich vermisst worden war.

WOMAN, LIFE, FREEDOM - Mariëtte Rissenbeek, Jurypräsidentin Kristen Stewart, Golshifteh Farahani und Carlo Chatrian bekunden ihre Solidarität mit den Protestierenden in Iran

Das Poster-Girl dieser Allianz bildete Kristen Stewart, Schauspielerin und Regisseurin, die 2023 den Vorsitz der Internationalen Jury übernahm. Auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen war sie ebenso zu finden wie auf den Roten Teppichen der Solidaritätsbekundungen für den Iran und die Ukraine. Und – natürlich, als Protagonistin der queeren Community – bei der Verleihung des TEDDY AWARD. In der Jury an ihrer Seite die Schauspielerin Golshifteh Farahani, die aufgrund der Repressalien des iranischen Regimes ihr Heimatland schon vor Jahren hatte verlassen müssen und die am Vormittag bei der Pressekonferenz den Ton gesetzt hatte: „In a country, like Iran, which is a dictatorship, art is not an intellectual or philosophical thing, it’s essential, it’s like oxygen.” Bei der Eröffnungsgala rief sie im Anschluss an Selenskyj zur bedingungslosen Solidarität mit der iranischen Revolution, wie sie die anhaltenden Kämpfe zwischen Regierung und Bürger*innen explizit nannte, auf: „We need you to stand on the right side of history.“ Entzündet hatten sich die Unruhen am Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini, die von der iranischen Sittenpolizei Mitte September 2022 festgenommen und unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen war. „Jin, Jiyan, Azadî – Woman, Life, Freedom – Frau, Leben, Freiheit!” Die Parole der kurdischen Frauenbewegung wurde im Anschluss zum globalen Schlachtruf, der sein omnipräsentes Echo auch bei der Berlinale fand – als Transparent auf dem Roten Teppich, als Projektion auf einem der Hochhäuser am Zoo Palast.

Russische und iranische Künstler*innen wurden 2023 nicht per se ausgeschlossen, aber die Festivalleitung definierte klare rote Linien: „We already announced in the summer that we didn’t want to boycott either Russia or Iran but that we would very carefully check who is working for whom and which films are financed by which state bodies“ (Mariëtte Rissenbeek, im Gespräch mit Melanie Goodfellow, „deadline”, 20.01.2023).

Seit über 20 Jahren gerne gesehener Gast bei der Berlinale, 2023 als Mitglied der Internationalen Jury: Johnnie To

Die drängenden globalen Konflikte überschwemmten in ihrer Vielzahl an Verästelungen das Herz des Festivals, bildeten seine Substanz. In eher leisen Tönen sprach der Regisseur und Produzent Johnnie To – Altmeister des Hongkong-Kinos und ebenfalls Mitglied der Internationalen Jury – die veränderte Situation für Filmemacher*innen unter der chinesischen Führung in seiner Heimatstadt an: „For me, cinema has always been in the vanguard. When totalitarian rule emerges, when people lose their freedoms, cinema is the first to take the hit. In most cases, cultural production will be forcefully suspended, since the cinema speaks directly to the audience. That’s why dictators always target the cinema. I think Hong Kong … No, sorry. I think all the countries and peoples fighting for freedom across the globe should support the cinema. Because the cinema speaks out on behalf of you.” (zitiert nach „The Hollywood Reporter“, 19.02.2023). Damit war die Achse einer neuen, konkurrierenden Weltordnung komplettiert – wie zur Bestätigung hielten Russland, Iran und China Mitte März ein gemeinsames Militärmanöver ab.

Mit Blick auf die globalen, tektonischen Machtverschiebungen ließ sich auch Carlo Chatrians Ankündigung im Vorwort des Programmheftes verstehen: „Teil der Berlinale zu sein, bedeutet dieses Jahr mehr denn je Stellung zu beziehen für die, die darum kämpfen, ihre Gedanken frei äußern zu dürfen.“ Die Reihen wurden auf dem Konsens von Frieden und Freiheit geschlossen. Für Dissens, wie ihn manche Beobachter*innen vermissten, blieb kaum Raum angesichts der kritischen Weltlage (etwa Andreas Scheiner schrieb am 26.02.2023 in der „Frankfurter Rundschau“: „[Carlo Chatrian] hat ordentlich Ukraine-Dokus programmiert, das ist schön und gut. Aber unangenehme Perspektiven hat er nicht zugelassen. Der Blick nach Russland bleibt verwehrt.“). Eine kontroverse Diskussion entflammte allein um den norwegischen Animationsfilm Helt super von Rasmus A. Sivertsen in Generation Kplus, dessen Premiere aufgrund von Blackfacing-Vorwürfen verschoben wurde.

Zeugnisse einer Welt aus den Fugen: Shidniy front von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko und Sieben Winter in Teheran von Steffi Niederzoll

Der Angriff der Realität

Der Ukrainekrieg zog sich – meist in Formen des Dokumentarischen – quer durch die Sektionen. Da war nicht nur der Hollywoodstar Sean Penn, der sich plötzlich inmitten der brutalen Verwerfungen russischer Aggression wiederfand. Er und sein Koregisseur Aaron Kaufman waren ausgerechnet am 24. Februar 2022, als Putin seinen Angriffskrieg startete, zu Dreharbeiten in Kyiv und bekamen in jener Nacht die Chance, Selenskyj zu interviewen – die Initialzündung für seine filmische Hommage an die Ukraine und ihren Präsidenten. Direkt in die blutigen Kämpfe führte Shidniy front von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko in Encounters. Ungeschönt bringt Titarenko die Bilder, die er als Teil des Sanitätsbataillons Hospitaliter an der Front erbeutete, auf die Leinwand. Ein Blick auf Europa, der ein Jahr zuvor noch vollkommen undenkbar gewesen wäre. Ein Stück zurück in der Geschichte ging Roman Liubyi mit dem Panorama-Beitrag Iron Butterflies, in dem er den Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 im Jahr 2014 rekonstruierte. Wie Thomas Abeltshauser in der „Berliner Morgenpost“ kommentierte: „Mithilfe einer beeindruckenden Collage aus Archivmaterial, Nachrichtenbildern und Videos aus sozialen Medien, entlarvt Liubyi die Strategien und Mechanismen russischer Kriegsführung, die gezielt mit Desinformation und Propaganda arbeitet, lange bevor der Begriff Fake News populär wurde. Und sensibilisiert damit auch für den Umgang mit Informationsquellen heute“ (14.02.2023). Und auch im Forum, bei Generation und den Berlinale Shorts waren Filme zum Thema Ukraine zu finden. Der European Film Market stimmte in den Kanon ein und legte mit einer ganzen Reihe von Aktivitäten einen Schwerpunkt auf das erschütterte Land.

Mit dem iranischen Kino verbindet die Berlinale eine lange Tradition – man denke an Jafar Panahi, Asghar Farhadi oder Mohammad Rasoulof – und auch 2023 war es stark vertreten. Das Panorama eröffnete mit dem Animationsfilm La Sirène von Sepideh Farsi, der sich dem iranisch-irakischen Krieg der 1980er Jahre widmet. Steffi Niederzoll wurde für ihre Dokumentation Sieben Winter in Teheran, die vom Schicksal der zum Tode verurteilten Iranerin Reyhaneh Jabbari erzählt, mit dem Kompass-Perspektive-Preis ausgezeichnet. Weitere Titel waren bei Encounters, Forum & Forum Expanded und Generation zu finden. Eine nicht zu leugnende neue und politisch aufgeladene Wirklichkeit hielt Einzug ins Programm, wie Carlo Chatrian im Vorfeld des Festivals angekündigt hatte: „Die Berlinale wird die Realität sehr genau widerspiegeln. Das gilt für den Dokumentar-, aber auch für den Spielfilmbereich. Künstlerinnen und Künstler wollen hier ganz klar Statements setzen“ (Im Interview mit Peter Zander, „Berliner Morgenpost“, 21.01.2023). Die Kunst bezog Stellung und die Berlinale bereitete ihr die perfekte Bühne. Panels bei Berlinale Talents und ein WCF Day, der sich den Themen Iran und „Funding Cinema Cultures During Crises And War Time“ widmete, rundeten das Gesamtbild ab.

Ausverkauft: die Akademie der Künste bei der Premiere des Encounters-Beitrags mul-an-e-seo von Hong Sangsoo

Vielfältige Reaktionen auf ein breites Programm

Die Resonanz auf das Festivalprogramm beschränkte sich jedoch nicht nur auf seine politische Dimension. Die breit gefächerten Sektionsprogramme wussten zu überzeugen, der Wettbewerb wurde von der internationalen Presse als ausgewogen und in einem positiven Lichte gesehen. Jonathan Romney urteilte im „Guardian“: „Berlin has often been seen as programming too earnestly, its regard for cinematic art often eclipsed by its sense of political responsibility. These days, (…) the festival is fearless about foregrounding cinema with a capital C, with an eye to adventure. This year’s competition included some films that were as challenging as we’ve seen here in a while, along with others that were hugely accessible” (25.02.2023). Und Jessica Kiang ließ in der „New York Times“ sogar verlauten: „This Year, the Berlin Film Festival Sparkles“ (24.02.2023).

Die Bilanzen der deutschsprachigen Kommentator*innen fielen bisweilen kritischer aus. Bemängelt wurde die Abwesenheit der globalen Konflikte und die Tendenz der Werke, sich ins Private zurückzuziehen. Wie Katja Nicodemus in der „Zeit“ nüchtern schrieb: „Quer durch die Kontinente hat sich die Großfamilie ihren Platz als Kinometapher des postpandemischen Zeitalters erobert. Was diese Filme erzählen (Konflikte von Transkindern, sozialer Abstieg, generationelle Brüche), scheint die Schwelle der (Eltern-)Häuser allerdings nicht zu verlassen. Wie ihre Familiensysteme kreisen die Filme um sich selbst“ (01.03.2023). Viele Stimmen forderten mehr Mut für die Hauptsektion des Festivals – ein kinematografischen Risiko, das oft jenseits des Berlinale Palastes in der Akademie der Künste bei Encounters gefunden wurde: „Immer klarer wird, dass die von Chatrian eingeführte Reihe Encounters den Wettbewerb qualitativ überschattet. (…) Der Wettbewerb braucht künftig mehr solcher Filme, um nicht mit einem Kino des guten Willens im künstlerischen Mittelmaß zu verschwinden. (…) Interessante ästhetische Positionen (auch radikale und völlig abwegige) gab es dieses Jahr genug“ (Andreas Busche, „Tagesspiegel“, 25.02.2023).

Mit John Trengoves Manodrome im Wettbewerb vertreten: Schauspieler Adrien Brody

Manche der herbsten Kritiker*innen des Wettbewerbs schienen allerdings in einer Endlosschleife gefangen und malträtierten die Sektion mit den immer gleichen, mittlerweile in die Jahre gekommenen Argumenten: die Klage über das vermeintliche Fehlen großer US-amerikanischer Produktionen, der Vergleich mit den Festivals von Cannes oder Venedig. Was dabei übersehen wurde, war die bewusst eingeschlagene Richtung des Festivals hin zum unabhängigen Film, ohne jedoch dabei die größeren Produktionen aus den Augen zu verlieren. Aufmerksame Beobachter*innen wussten dies durchaus zu goutieren. Arabella Wintermayr entgegnete im „freitag“: „Gerechtfertigt ist diese fatalistische Abrechnung nicht unbedingt. Mehr noch, teilweise verfehlen die gesetzten kritischen Spitzen schlicht ihr Ziel. Treffen sie doch nicht das, was die Internationalen Filmfestspiele Berlins im Kern, und das nicht erst seit heute, ausmachen“ (Ausgabe 09/23). Und wenn sie später ergänzt: „Die Berlinale ist eine Liebeserklärung an das Arthouse-Kino, insbesondere an seine mitunter sperrigen Spielarten“, so bekräftigte sie die Route, die Chatrian in Interviews immer wieder explizierte: „The festival has become probably the best support for independent cinema. It’s good to give room to new voices and this year, we have done a great job” (im Gespräch mit Melanie Goodfellow, „deadline”, 23.01.2023).

Die Bären

Unbestritten war die Tatsache, dass die Bandbreite an filmischen Formen im Wettbewerb so breit war wie nie zuvor. Mit Art College 1994 von Liu Jian und Suzume von Makoto Shinkai fanden gleich zwei Animationsfilme Eingang und mit Nicolas Philiberts Sur l’Adamant konnte erst zum zweiten Mal in der Festivalgeschichte – nach Gianfranco Rosis Fuocoammare 2016 – ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären gewinnen. Philiberts Langzeitbeobachtung einer Einrichtung für psychisch Kranke am Pariser Seine-Ufer war der Überraschungsgewinner des Abends, auf den im Vorfeld niemand gesetzt hätte. Favoriten wie Past Lives von Celine Song gingen hingegen leer aus. Estibaliz Urresola Solagurens 20.000 especies de abejas konnte zumindest den Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle einheimsen – in Person von Sofía Otero, die mit ihren neun Jahren zur jüngsten Gewinnerin eines Hauptpreises aller Zeiten aufstieg.

Die jüngste Gewinnerin aller Zeiten: Sofía Otero, ausgezeichnet für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle in Estibaliz Urresola Solagurens 20.000 especies de abejas

Die Entscheidungen der Internationalen Jury spiegelten zudem die starke Präsenz deutscher Produktionen im 2023er Wettbewerb wider: Drei der fünf nationalen Filme wurden ausgezeichnet. Christian Petzold gewann den Silbernen Bären Großer Preis der Jury für Roter Himmel, Angela Schanelec wurde für ihre - vor allem international oft hochgelobte – freie Ödipus-Variation Music mit dem Preis für das Beste Drehbuch bedacht. Und Thea Ehre wurde für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle ausgezeichnet – auch wenn viele Betrachter*innen dazu tendierten, ihr die Hauptrolle in Christoph Hochhäuslers Bis ans Ende der Nacht zuzusprechen. Damit konnte seit der Einführung der genderneutralen Preise 2021 kein Mann mehr einen Darsteller*innenpreis gewinnen. Und dies war auch 2023 kein Zugeständnis an die Forderungen des Zeitgeistes – sowohl Ehre als Otero spielen trans*-Charaktere –, wie Claudia Reinhard betonte: „Wer hier von politisch motivierten Preisen sprechen will, hat die fantastischen Darbietungen und auch Filme wahrscheinlich nicht gesehen“ („Berliner Zeitung“, 26.02.2023).

Mehr Highlights

Über mangelnde Starpower durfte man sich 2023 nicht beschweren: Fan Bingbing, Peter Dinklage, Jesse Eisenberg, Cate Blanchett, John Malkovich, Sydney Sweeney, Helen Mirren und viele andere waren zu Gast. Und bei der Vergabe des Goldenen Ehrenbären gerieten alle ins Schwärmen. Geehrt wurde eine Regielegende, an Prominenz kaum zu überbieten, die Hollywood über viele Jahrzehnte mit ihrem Schaffen geprägt und immer wieder neu erfunden hatte: Steven Spielberg. Der Tumult am Roten Teppich vor der Preisgala stand in Sachen Lautstärke und Fanmassen dem Eröffnungsabend in nichts nach. Eine andere Legende – Bono von U2 – hielt eine flammende Laudatio, während sich der Ehrengast bescheiden gab: „Ich bin überwältigt, weil ich alleine nichts vollbracht habe. Alle meine Filme habe ich in Zusammenarbeit mit großartigen Menschen gedreht. Mein ganzes Leben, meine Familie – alles ist Zusammenarbeit“ (zitiert nach „Der Spiegel“, 22.02.2023). Und Daniel Kothenschulte schwärmte in der „Frankfurter Rundschau“: „Welches Thema auch immer man an den berühmtesten lebenden Filmemacher herantrug – und man muss gerechterweise sagen, aus jeder Frage sprach echte Bewunderung –, seine Antworten verwandelten es gleichsam in Gold“ (22.02.2023).

Glückliche Gewinner*innen: Das Team von The Good Mothers Daniel Frigo, Elisa Amoruso, Julian Jarrold, Alessandro Saba

2023 wurde zudem erstmalig der Berlinale Series Award verliehen und damit der erste Preis solcher Art bei einem A-Festival. Die Wahl der Jury fiel auf die Mafiaserie The Good Mothers, die mit Disney+ einen starken Broadcaster im Rücken hatte. Gleichzeitig konnten sich Mette Heeno, André Holland und Danna Stern dem Charme der norwegischen Low-Budget-Serie Arkitekten nicht erwehren und sprachen ihr eine Lobende Erwähnung aus.

Neue Spielstätten

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hatte mittelbar direkten Einfluss auf die Festivalvorbereitungen. Durch die Embargos, die gegen Russland ausgesprochen wurden, stiegen die Energie- und insgesamt die Produktions- und Verbraucher*innenpreise – oft schwindelerregend. Das Budget musste aufgestockt, die Ticketpreise leicht erhöht werden. Und auch im Hinblick auf die Spielstätten musste die Festivalleitung wie schon in den Jahren zuvor neue Lösungen finden, weil die gewohnten nicht zur Verfügung standen. Der Friedrichstadt-Palast konnte aufgrund von Sanierungsarbeiten nicht bespielt werden. Im Zuge von Umbaumaßnahmen schrumpften die Platzkapazitäten des CinemaxX um mehr als die Hälfte, so dass große Premieren ein neues Zuhause finden mussten, weil die Säle des CinemaxX nur noch für Pressevorführungen und Industry-Screenings genutzt werden konnten. Mit der Verti Music Hall wurde in Friedrichshain rechtzeitig Ersatz gefunden. Allerdings verlor der Potsdamer Platz durch den Wegfall eines weiteren Stammkinos – nach dem CineStar 2020 – als Festivalzentrum weiter an Bedeutung. Einzig der Berlinale Palast und das Kino Arsenal blieben als öffentliche Festivalorte erhalten. Die restlichen Spielstätten verteilten sich nun quer über die Hauptstadt. Mariëtte Rissenbeek hob die positiven Aspekte dieser Entwicklung hervor: „Wir wollen die neue Situation auch als Chance begreifen. Berlin ist so groß, und das Publikum kommt von überallher. Deshalb finde ich es keine schlechte Idee zu sagen, ‚Wir kommen zu euch!‘, anstatt dass alle Zuschauer:innen zum Potsdamer Platz kommen müssen“ (im Gespräch mit Claudia Reinhard, „Berliner Zeitung“, 01.02.2023). Anlässlich von Sonne und Beton von David Wnendt, einer Adaption des gleichnamigen Gropiusstadt-Romans von Felix Lobrecht, war die Sonderveranstaltung Berlinale Goes Kiez zum ersten Mal in jenem Ortsteil des Berliner Bezirks Neukölln zu Gast.

Q&A mit Sonne und Beton-Regisseur David Wnendt im UCI Luxe Gropius Passagen

Alte Bekannte in neuer Funktion

Gelungene Einstände feierten zur 73. Berlinale die neuen Sektionsleiter*innen Jenni Zylka und Sebastian Markt. Trotz ihrer Premieren sorgten sie für viel Kontinuität. Markt hatte schon lange Jahre unter seiner Vorgängerin Maryanne Redpath programmgestaltend für Generation gearbeitet. Jenni Zylka, die die Perspektive Deutsches Kino im August von Linda Söffker übernommen hatte, war vor allem durch ihre langjährige Tätigkeit als Moderatorin der Berlinale-Pressekonferenzen bekannt. Zudem gehörte sie schon seit 2006 dem Auswahlgremium des Panoramas an. Mit Barbara Wurm, die kurz nach dem Festival als Nachfolgerin von Cristina Nord verkündet wurde, fand zudem ein weiterer interner Wechsel statt – vom Auswahlgremium des Wettbewerbs zur Spitze des Forums.

Ein verschwundenes Virus

Mit dem Virus, das das globale wie lokale Miteinander für drei Jahre reguliert hatte, hatte man sich indes arrangiert. Es verschwand nicht, wohl aber das Interesse an ihm. Seltsam leise wurde es aus den Schlagzeilen verabschiedet und geriet so Stück für Stück in Vergessenheit (auch im 2023er-Programm spielte es mit Ausnahme von Stefano Savonas Le mura di Bergamo kaum eine Rolle). Die Zahl der Geimpften und Genesenen sorgte in den Augen der Verantwortlichen für jene „Grundimmunisierung der Bevölkerung“, die ein Auslaufen jeglicher Beschränkungen möglich machte. Das Tragen einer Maske in den Spielstätten wurde zwar noch empfohlen, eine Pflicht bestand jedoch nicht. Im Umkehrschluss war die gute Nachricht, dass die Säle wieder voll bespielt werden konnten. Im Vorfeld war die Sorge noch groß, ob die Zuschauer*innen, Herzstück eines Publikumsfestivals wie der Berlinale, nach zwei Pandemieeditionen zurückkommen würden. So gab Mariëtte Rissenbeek Ende Januar im Gespräch mit „Variety“ zu Protokoll: „However the current situation in German cinemas is a bit different than in the pre-pandemic days. Not all of the audience has gone back into movie theaters. The festival can be a great motivator for people to bring people back, and that’s how we want it to work” (im Gespräch mit Mick Vivarelli, 23.01.2023). Doch schon der Eröffnungsabend zeigte, dass die Bedenken unbegründet waren: „Schluss mit Lockdown, Masken und dem Verzicht auf das Bad in der Menge. (…) Endlich! Das Glück steht den Berlinale-Fans ins Gesicht geschrieben“ (Christiane Peitz, „Der Tagesspiegel“, 16.02.2023). Am Ende der elf Tage Festival waren 327.600 Tickets verkauft worden – vor dem Hintergrund einer geringeren Anzahl an Filmen und Vorstellungen und der leicht reduzierten Platzkapazität in den Spielstätten bedeutete dies eine höhere Auslastung als vor Corona. Und ein Zeichen der Hoffnung für eine sich noch immer erholende Kinolandschaft. Wie es Carlo Chatrian auf dem ersten Roten Teppich des Festivals griffig zusammenfasste: „We’re back!“

Die Berlinale 2023 in Zahlen

Besucher*innen  
Kinobesuche 447.900
Verkaufte Tickets 327.600
   
Fachbesucher*innen  
Akkreditierte Fachbesucher*innen (ohne Presse) 17.733
Herkunftsländer 132
   
Presse  
Pressevertreter*innen 2.745
Herkunftsländer 81
   
Screenings  
Anzahl Filme im öffentlichen Programm 300
(inkl. 13 Installationen bei Forum Expanded)
Anzahl Vorführungen 1.021
   
European Film Market  
Fachbesucher*innen 8.927
Anzahl Filme 773
Anzahl Screenings 1.533
Stände / Offices 230
Anzahl Aussteller*innen 612
   
Berlinale Co-Production Market  
Teilnehmer*innen 601
Herkunftsländer 59
   
Berlinale Talents  
Teilnehmer*innen 203
Herkunftsländer 68
   
Jahresbudget € 32,3 Mio.
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 12,9 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.