2022
72. Internationale Filmfestspiele Berlin
10. Februar – 20. Februar 2022
„This is not the Berlinale we anticipated having when we were planning it last summer, but compared to the situation we had one month ago, I think it’s a great achievement [...]. I think it’s an important signal to the film industry that it is possible to have a festival even in pandemic times [it’s] important for the city of Berlin as a signal to keep cultural life alive [and] it can be an important signal for the festivals to come after us.“
Carlo Chatrian (in „The Hollywood Reporter“, February 17, 2022)
Nach dem – trotz aller Widrigkeiten – erfolgreichen Jahr 2021 folgte 2022 eine weitere von der Pandemie geprägte Berlinale-Edition, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Das Virus hatte sich verändert. Nach einem ruhigen Sommer verbreitete sich ab November 2021 die bald schon dominierende Coronavariante Omikron, die zwar um ein Vielfaches infektiöser als ihre Vorgängerinnen war, aber in weniger Fällen zu schweren Krankheitsverläufen führte. Die Hospitalisierungsrate bzw. die freien Kapazitäten auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser wurden so zu den neuen Leitsternen der hiesigen Gesundheitspolitik, an denen sich auch die Möglichkeiten für den Kulturbetrieb entschieden. So konnten die Berliner Kinos im Gegensatz zum Vorjahr über den Herbst und Winter hinweg geöffnet bleiben, wenn auch unter strengen Auflagen.
Mit Blick auf die Frage, in welcher Form die 72. Berlinale stattfinden konnte, blieb die Situation jedoch prekär, denn niemand wagte konkrete Vorhersagen für die kommenden Wochen oder gar Monate zu treffen. Europa glich einem Flickenteppich, Kinos wurden geschlossen, dann wieder geöffnet. In Frankreich explodierten die Fallzahlen, gingen in die Hunderttausende, und es war nur eine Frage der Zeit, wann diese „Omikron-Wand“ – man sprach längst nicht mehr von einer „Welle“ – auch in Deutschland ankommen würde. Der Albtraum, ein Festival mit internationalen Gästen in dieser unübersichtlichen Situation planen zu müssen, wiederholte sich. Wie Katja Nicodemus es in einem Interview mit „NDR Kultur“ zusammenfasste: „Ich weiß nicht, ob man die Kultur [...] über das Risiko eines erhöhten Infektionsgeschehens stellen sollte. Aber ich wollte auch nicht in der Haut der Berlinale-Leitung stecken und die Verantwortung für diese Antwort übernehmen“ (19.01.2022).
Garantien gab es keine, zumal sich die politische Landschaft, die maßgeblich über den weiteren Coronakurs entscheiden würde, im September gewandelt hatte. Die Merkel-Jahre in Deutschland waren zu ihrem Ende gekommen, mit Olaf Scholz als neuem Kanzler stand die SPD an der Spitze einer Ampelkoalition. Zudem musste nicht nur das Bundeskanzleramt mit seinen Staatsminister*innen neu aufgestellt werden, auch auf Landesebene wurden die Karten neu gemischt. Die Position der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die den größten Teil des Festivalbudgets zur Verfügung stellt, wurde Anfang Dezember mit Claudia Roth neu besetzt. Franziska Giffey wurde die neue Regierende Bürgermeisterin, die über die Neugestaltung der Covid-Verordnung zu entscheiden hatte.
Quo vadis, Berlinale?
Die Festivalleitung stand vor einer Gemengelage mit vielen neuen Akteur*innen und musste die unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Interessen und Bedürfnisse einbeziehen und abwägen.
Auf der einen Seite konnte Ende Dezember niemand eine Garantie dafür geben, dass das Festival im Februar nicht doch noch kurzfristig abgesagt werden müsste. Auf der anderen Seite wäre eine Berlinale in Präsenz ein wichtiges und starkes Zeichen für die Kinolandschaft, die seit fast zwei Jahren massiv unter den Beschränkungen gelitten hatte. Auf der einen Seite wollte niemand ein Superspreader-Event riskieren, auf der anderen gab es deutliche Zeichen von Filmemacher*innen, Produzent*innen und Verleiher*innen, dass sie ihre Werke unbedingt vor Publikum präsentieren wollten und auch das Publikum selbst sehnte sich nach einem Festivalerlebnis.
Es entbrannte zum wiederholten Male die Diskussion um ein digitales – bzw. hybrides – Festivalformat. Einige Festivals hatten im Laufe des Jahres neben den Vorstellungen im Kino auch digitale Angebote zum Teil ihrer Strategie gemacht. Die Debatte drehte sich dabei weniger um ein Entweder/Oder – gesucht wurde ein Ausgleich zwischen den Formen der Rezeption – und langfristig um die Perspektiven der sich wandelnden Institutionen Kino und Festival. Wie Sebastian Seidler argumentierte: „Ein hybrides Festival bietet die Möglichkeit [...] die Filme einem breiten Publikum zu präsentieren. Endlich geht es um das Wesentliche. Streaming bedeutet nicht Untergang, [...] es erlaubt auch Menschen abseits der Großstädte, Filme zu entdecken, durch die sie sich vielleicht überhaupt erst wieder in das Kino verlieben“ („taz“, 4.02.2022).
Für die Festivalleitung waren diese Überlegungen indes zu keinem Zeitpunkt eine brauchbare Alternative. Wie Mariette Rissenbeek in einem Interview Ende Januar betonte: „Eine Online-Variante wird es nicht geben. Die Filme, die wir akquiriert haben, könnten nicht einfach online gehen [...]. Diese Filme brauchen auch eine Präsenz vor Ort, um für sich zu werben, sich dem Publikum zu präsentieren. Deswegen suchen sie ja ein Festival“ (Im Interview mit Peter Zander, „Berliner Morgenpost“, 27. Januar 2022).
Das Festivalformat 2022
Und so wurde am 12. Januar schließlich die endgültige Entscheidung über das 2022er-Format verkündet: Die Berlinale würde als Präsenzveranstaltung stattfinden, wenn auch mit einer um 50 Prozent reduzierten Auslastung der Spielstätten und unter strikten Hygienemaßnahmen. Die Tage, an denen Premieren mit internationalen Gästen stattfinden, wurden auf sieben reduziert, das Programm auf „nur“ 256 Lang- und Kurzfilme fixiert. Die offizielle Preisverleihung terminierte man auf den Mittwoch, ab dem zweiten Festivaldonnerstag würde der Publikumstag – traditionellerweise Wiederholungsvorstellungen ohne Besuch der Filmteams am letzten Berlinale-Sonntag – auf vier Tage ausgeweitet. Partys und Empfänge wurden seitens des Festivals ausgesetzt, um Menschenansammlungen möglichst zu vermeiden und Kontakte zu minimieren. Der European Film Market mit dem Berlinale Co-Production Market sowie Berlinale Talents und der World Cinema Fund Day sollten wie im Vorjahr digital stattfinden.
Der Plan für ein Präsenzfestival wurde in der Medienlandschaft kontrovers diskutiert. Am 19.01.2022 titelte „Zeit Online“ „Wie im falschen Film“ und bewertete die Entscheidung als „unverantwortlich“ und „gestrig“ (Wenke Husmann). Was viele Kommentator*innen übersahen: Die Berlinale lebt nicht nur von den Filmen, Serien und Installationen allein, grundlegend ist der – gemeinsame – Gang ins Kino, das Erleben eines Festivals an einem bestimmten Ort, die Resonanz der Filme. Wie Hanns-Georg Rodek in seinem späteren Resümee anmerkte: „Es ist [...] nicht möglich, Film und Stadt einfach voneinander abzukoppeln, wie das geschähe, würde man sich nur den Film ins Wohnzimmer holen. Eine hybride Berlinale wäre der Anfang eines Selbstmords auf Raten gewesen. Man war so klug, nicht auf die Hybrid-Forderungen einzugehen – weil man Filme im Kino sehen soll und weil die meisten Produzenten ihre Filme zurückgezogen hätten, wäre die Berlinale kein Präsenzfestival geworden“ („Die Welt“, 16.02.2022).
Carlo Chatrian legte in einem sehr offenen und ehrlichen Text mit dem Titel „Standhaft bleiben“ noch einmal nach und definierte Funktion und Mission der Berlinale sehr klar: „Auf einem Festival werden die Filme in einem Raum gesehen, der niemandem gehört. Wer ihn betritt, stimmt unabdingbaren Regeln zu. An einem Festival teilzunehmen bedeutet: eine Erfahrung gemeinsam mit anderen machen, die oft nicht den gleichen Hintergrund oder Geschmack und andere kulturelle Vorlieben haben. Wer sich gemeinsam mit anderen einen Film an einem öffentlichen Ort ansieht, lernt Offenheit und Demut – und das scheint uns heute unverzichtbar.“ Die Berlinale positionierte sich somit klar als Protagonistin und Bewahrerin einer Kinokultur, die sich nicht allein über eine bestimmte Ästhetik, sondern auch über eine spezifische Art der Architektur und des Gemeinschaftsgefühls definiert.
Die Filmteams waren begeistert von der Möglichkeit, bei den Premieren ihrer Filme in Berlin anwesend sein zu können und wurden schließlich auch zahlreich während des Festivals begrüßt. Bis zur Eröffnung der 72. Berlinale wurde die Infektionslage laufend evaluiert. Die Festivalleitung bestätigte immer wieder, dass es bei der Entscheidung für ein Präsenzfestival bleiben würde. Hygienekonzepte wurden in Abstimmung mit den Gesundheitsbehörden geschrieben und angepasst, am Ende waren sie restriktiver als es für Kinovorführungen jenseits der Festivals der Fall war.
Das Ticketing für Akkreditierte wurde erstmals online abgewickelt, auch um Menschenansammlungen zu vermeiden. Eine Vorsicht, die angesichts der Infektionslage dringend geboten war. Am Tag der Berlinale-Programmpressekonferenz am 19. Januar überstieg die Zahl der gemeldeten Fälle in Deutschland erstmals die Marke von 100.000 und der Höchststand der Omikron-Verbreitung wurde für Mitte Februar, also genau während der Festivaltage, erwartet. Eine große Fürsprecherin fand das Festival in der neuen Kulturstaatsministerin, die sich dafür einsetzte, den Wunsch nach einem Präsenzfestival Realität werden zu lassen („Wir wollen mit dem Festival ein Signal an die gesamte Filmbranche, an die Kinos und Kinogänger und die ganze Kultur setzen. Wir brauchen das Kino, wir brauchen die Kultur“, wie sie beharrte („RedaktionsNetzwerk Deutschland“, 12.02.2022)) und die schließlich bei der Eröffnungszeremonie am 10. Februar im Berlinale Palast eine flammende und begeisternde Rede für das Kino und die Kultur hielt.
Lasset die Spiele beginnen
So nahmen die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin ihren Lauf. Eine Edition, die als eine der denkwürdigsten in die Annalen eingehen sollte. Die Atmosphäre am Potsdamer Platz war nicht nur für eingefleischte Fans gewöhnungsbedürftig, das Treiben am Roten Teppich auf ein Minimum reduziert.
Da auch der öffentliche Kartenverkauf rein digital stattfand und die Potsdamer Platz Arkaden sich immer noch im Umbau befanden, fehlte – bedingt durch das Corona-Schutzkonzept – eine zentrale Anlaufstelle vor Ort für alle Festivalbegeisterten. Jonathan Romney fühlte sich in die Zeit vor 1989 zurückversetzt: „All this made the unusually quiet Palast area feel like an art installation tribute to the bygone days of Checkpoint Charlie“ („The Guardian“, 19.02.2022). In seiner Beschreibung der Edition als „strange“ traf er sich mit dem deutschen Kollegen Moritz Holfelder: „Es war eine seltsame Berlinale. [...] Was sonst die Filmfestspiele so besonders macht, das Zusammentreffen mit befreundeten Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt auf einen Plausch kurz vor oder nach den Vorführungen, fiel [...] diesmal weg. Und wenn man abends das Kino verließ und auf den ausgestorbenen Potsdamer Platz trat, kam man sich bisweilen vor wie in einer Geisterstadt [...]. Mitunter wirkte es, als hätte man der Berlinale das Herz herausgerissen“ („br24.de“, 17.02.2022). Einmal mehr zeigte sich, dass die Berlinale mehr ist als die Summe ihrer gezeigten Werke. Begegnungen und Austausch, der Festivaltrubel, all das ist nicht Beiwerk, sondern das Zentrum des Festivals.
Covid blieb auch während des Festivals omnipräsent. Maskenpflicht, tägliche Tests und das Schachbrettmuster, nach dem die Besucher*innen in den Kinos verteilt wurden, prägten das Geschehen. Am deutlichsten war der Einfluss des Virus bei der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Isabelle Huppert zu spüren. Einen Tag vor der Zeremonie wurde die Schauspielerin positiv getestet und konnte nicht anreisen. Den Feierlichkeiten tat dies keinen Abbruch. Per Video wurde die Preisträgerin im Berlinale Palast zugeschaltet und verfolgte live die sehr persönliche Laudatio ihres Kollegen Lars Eidinger. Ihre Ausstrahlung wirkte in diesem Format geradezu magisch auf das begeisterte Publikum.
Filme mit und ohne Corona
Die schwächste Präsenz entwickelte das Virus indes auf der Leinwand. In nur zwei der 18 Filme im Wettbewerb gab es Masken zu sehen, das Accessoire, das für fast alle Bewohner*innen des Planeten Erde spätestens im vorherigen Jahr zum selbstverständlichen Utensil ihres Alltags geworden war. Diese Nichtpräsenz war eine durchaus bewusste Entscheidung des Auswahlkomitees: „Grundsätzlich muss man festhalten, dass die Pandemie und der Lockdown einen starken Eindruck auf Filmemacher:innen hinterlassen haben. Viele der eingereichten Filme wurden während des Lockdowns gedreht. Das bedeutet: ein Handlungsort, wenige Figuren. Von ihnen haben wir aber nur wenige ausgewählt. Wir hatten den Eindruck, dass sie sich doch zu sehr ähneln und vor allem zu sehr ähnliche Themen behandeln“ (Carlo Chatrian im Interview mit Thomas Schultze, „Blickpunkt:Film“, 28.01.2022). Auch in den Filmen des Panorama-Programms spielte das Virus kaum eine Rolle, aber wie im Wettbewerb übten die Filme oft den Nahblick in spezifische Milieus, zeigten Familienkonstellationen und Paarbeziehungen. „Das Private, die Familie, die Kinder, Ehe und Liebe, Krankheit und Tod, werden offenbar anders zum Thema nach mehreren weltweiten Lockdowns“, wie Gunnar Decker schrieb („nd“, 18.02.2022).
Einen Ausreißer in dieser Hinsicht bildete das Forum. Die Häufigkeit von Filmen, die sich direkt mit der Pandemie beschäftigten, erklärte Sektionsleiterin Cristina Nord: „Wir zeigen meist Filme, die zu produzieren vergleichsweise wenig Geld kostet, die ohne Stars auskommen und die sich einer radikalen, persönlichen Perspektive verschreiben. Das bedeutet, dass die Filmemacher*innen, die uns interessieren, meist geschmeidiger und schneller auf aktuelle Entwicklungen reagieren können [...]“ (Im Interview mit Kira Taszman, „filmdienst.de“, 16.02.2022).
Und auch die neuen Sektionsleiter*innen des Forum Expanded, Ala Younis und Ulrich Ziemons, beschrieben in einem Interview ausführlich den Einfluss des Virus sowohl auf die Werke als auch die Arbeit der Kurator*innen (Younis und Ziemons hatten die Leitung von Stefanie Schulte Strathaus, einer der Gründer*innen der Sektion, bereits im August 2021 übernommen). Bei den Berlinale Series schlug sich die Pandemie auf indirekte Weise in den Werken nieder, wie die Leiterin Julia Fidel ausführte: „I think there is a little less experimentation but a lot of really strong, classic storytelling. Creators are building themselves a certain framework, say within detective or hospital shows, and then pushing those boundaries“ (im Interview mit Aaron Rottenberg, „list23“, 31.01.2022).
Im Wettbewerb fiel zudem die hohe Anzahl an alten Bekannten auf. „Zwölf der 18 Regisseure und Regisseurinnen waren schon mal auf dem Festival zu Gast, acht liefen schon mal im Wettbewerb, fünf haben sogar schon mal einen Bären gewonnen“ (Katja Nicodemus im Interview mit Claudia Christophersen, „NDR Kultur“, 19.01.2022). Der Schwerpunkt lag dabei deutlich auf dem Autor*innenkino, das Line-Up war mit Namen wie Claire Denis, Ulrich Seidl, Hong Sangsoo, François Ozon, Paolo Taviani und Ursula Meier beeindruckend bestückt. Diese Auswahl wussten viele Kritiker*innen zu schätzen, Andreas Busche attestierte im „Tagesspiegel “, „dass Carlo Chatrian in seinem dritten Jahr als künstlerischer Leiter das Profil des Festivals weiter geschärft hat, mit einem stärkeren Fokus auf Dokumentarfilme, avancierte Erzählformen und das Autorenkino“ (19.01.2022). Andere hingegen vermissten schmerzhaft ein Staraufgebot mit prominenten Namen im Programm, das für gesteigerten Trubel am Roten Teppich hätte sorgen können. Wie David Steinitz schnippisch formulierte: „Nichts gegen Filmkunst und Experimente, gegen langgediente, aber trotzdem unbekannt gebliebene Autorenfilmer [...]. Aber als A-Festival braucht man zusätzlich schon a bisserl Glamour“ („Süddeutsche Zeitung“, 10.02.2022).
Ein Abend der Frauen
Auch wenn ein wenig ambivalent, so waren sich doch alle über die Entscheidungen der Internationalen Jury in einem einig: Diese Nacht gehörte den Frauen. Besonders hervorgehoben wurde, dass mit Carla Simón und ihrer Produzentin María Zamora mit Alcarràs die dritte RegisseurIN in Folge den Hauptpreis bei einem der großen europäischen Festivals gewann (nach Julia Ducournau mit Titane in Cannes und Audrey Diwan mit L’événement in Venedig). In Zeiten, in denen die Frauenquote in allen Bereichen argwöhnisch beobachtet wurde, konnte die 73. Berlinale vollends überzeugen: Mit Natalia López Gallardo (Preis der Jury), Claire Denis (Beste Regie), Meltem Kaptan (Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle), Laura Basuki (Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle), Laila Stieler (Bestes Drehbuch) wurden in acht Kategorien sechs Frauen ausgezeichnet. Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung ging an Rithy Panh und seine Mitstreiterin Sarit Mang. Hong Sangsoo wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Und dies von einer Internationalen Jury, die unter dem Vorsitz von M. Night Shyamalan beinahe paritätisch besetzt war.
2019 war auf dem T-Shirt von Rajendra Roy (damals Mitglied der Internationalen Jury) „THE FUTURE OF FILM IS FEMALE“ zu lesen gewesen, diese Ankündigung hatte sich - zumindest an diesem Abend im Jahre 2022 - erfüllt. Und über allen strahlte die deutsch-türkische Comedienne Meltem Kaptan, die ihrem starken Auftritt in Andreas Dresens Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush einen weiteren, diesmal auf der Bühne des Berlinale Palastes, folgen ließ: „Dass Schauspieler Leinwandpräsenz haben oder zumindest haben sollten, gehört zum Handwerk. Wer sie nicht hat, muss sie lernen. Die Wirkung von Meltem Kaptan aber ist damit noch lange nicht beschrieben, nicht der Effekt, wenn sie eine Bühne betritt wie jene des Berlinale-Palasts zur Preisverleihung der 72. Internationalen Filmfestspiele, nicht diese Energie, die direkt aus der Erde in sie fährt - und die sie direkt an andere Menschen weitergibt, als wäre sie ein Medium“ (Sonja Zekri, „Süddeutsche Zeitung“, 17.02.2022).
Von vielen vermisst auf der Liste der Bären-Gewinner*innen wurden indes zwei Männer: Michael Koch, der für Drii Winter nur eine Lobende Erwähnung erhielt, und Ulrich Seidl.
Wie Jessica Kiang schrieb: „But for all its sunshine and sad, brave wisdom, ‘Alcarràs’ was, for me, outmatched by a much wintrier competition title. Ulrich Seidl’s ‘Rimini’ is an uncompromising, coldly provocative drama that gathered no prizes, which is a shame. But that its star, Michael Thomas, playing a washed-up club singer in an off-season Italian beach town, was not specifically recognized is more or less a crime“ („The New York Times“, 17.02.2022). Ulrich Seidl konnte sich zumindest damit trösten, dass der von ihm produzierte Sonne von Kurdwin Ayub mit dem GWFF Preis Bester Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde.
Zukunft mit Ungewissheiten
Am Ende der 72. Berlinale blieben Erleichterung, vorsichtige Freude und viel Hoffen und Bangen mit Blick auf die Zukunft. Mit 156.000 verkauften Tickets konnte man angesichts der reduzierten Platzkapazitäten durchaus von einem Erfolg sprechen und es überwog bei vielen das Glück, endlich wieder Filme im Kino sehen und Festivalatmosphäre atmen zu können. So resümierte etwa Jessica Kiang: „The category error from complainants is to compare this reduced-attendance edition with Before Times Berlinales. The real comparison is with last year’s online version, which debuted a stronger selection of films but didn’t feel like a festival at all. Consider that lonely experience as the alternative and the staircases, seating hassles and swabbing become a small price to pay“ („The New York Times“, 17.02.2022). Und Anke Sterneborg fügte in ihrem Text auf „rbb24.de“ an: „Was sonst noch bleibt von diesem Festival? Der Mut oder auch die Waghalsigkeit von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek dem Virus ein Präsenzfestival abzutrotzen. Es wurde nun kein Superspreading-Event, wie manche befürchteten, sondern ein starkes Zeichen für das Kino, die Kultur, wie andere hofften. Eine Berlinale im Ausnahmezustand, großes Glück, Filme im Kino sehen zu können mit Gästen auf der Bühne und Zuschauern auf den Plätzen – davon schwärmten viele Filmemacher in diesen Tagen“ (21.02.2022).
Andere Kommentator*innen sahen die Lage aus einer anderen Perspektive: „Die Berlinale hat sich behauptet. Sie ist aus dem Abgrund des letzten Jahres auferstanden, wenn auch mit Blessuren, Verlusten an Aura und Bedeutung. Ihre strukturellen Probleme aber sind geblieben. Das Weltkino, zumal jenes aus Amerika und Fernost, ist kein selbstverständlicher Gast mehr in Berlin. [...] Die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der Programmleiter Carlo Chatrian sind jetzt seit drei Jahren im Amt. Sie werden die Filmfestspiele bald neu aufstellen müssen, um ihre Position unter den Festivals zu halten. Mit oder ohne Pandemie“ (Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.02.2022).
Auffällig war zudem die Entkopplung von Festival und European Film Market. Während die eine Seite stark unter den Beschränkungen zu leiden hatte, war sie für die andere die Chance, in neue Dimensionen vorzustoßen: „The downbeat feel at the Berlin festival this year contrasted with the optimism and bustling business of Berlin’s European Film Market [...].“ („The Hollywood Reporter“, 16.02.2022).
Am Ende des Festivals gab es einen besonderen Abschied: Für sowohl Linda Söffker in der Perspektive Deutsches Kino als auch Maryanne Redpath bei Generation war die 72. Berlinale die letzte Edition als Sektionsleitung.
Und mit Blick auf die Weltlage wurden die Zeiten so unsicher wie lange nicht mehr: Nur vier Tage nach Ende des Festivals, am 24. Februar 2022, gab Wladimir Putin seinen Truppen den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine. Eine Entscheidung, die die globalen Kräfte- und Bündnisverhältnisse komplett neu mischte und die politische Landkarte auf Jahre hinaus neu zeichnen würde. Und dies mit wahrscheinlich noch verheerenderen Konsequenzen als jenen, die das Coronavirus mit sich brachte, das kurz nach Ende der 70. Berlinale endgültig über die Welt hereingebrochen war.
Die Berlinale 2022 in Zahlen
Besucher*innen (bei Corona-bedingt reduzierten Platzkapazitäten von 50 %) |
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Kinobesuche | 223.627 |
Verkaufte Eintrittskarten | 156.472 |
Fachbesucher*innen | |
Akkreditierte Fachbesucher*innen (ohne Presse) | 8.799 |
Herkunftsländer | 130 |
Presse | |
Pressevertreter*innen | 1.628 |
Herkunftsländer | 82 |
Screenings | |
Anzahl Filme im öffentlichen Programm | 229 |
Anzahl Vorführungen | 1.093 |
European Film Market | |
Fachbesucher*innen | 5.600 |
Anzahl Filme | 827 |
Anzahl Online-Screenings | 1.300 |
virtuelle Stände beim EFM | 220 |
Anzahl Aussteller*innen | 598 |
Berlinale Co-Production Market | |
Teilnehmer*innen | 574 |
Herkunftsländer | 64 |
Berlinale Talents | |
Teilnehmer*innen |
197 |
Herkunftsländer | 72 |
Jahresbudget (vorläufig) | € 28,8 Mio. |
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 10,7 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Coronabedingte Einnahmeausfälle und Mehrausgaben werden darüber hinaus aus Mitteln des Programms NEUSTART KULTUR kompensiert. |
Genderstatistiken 2022
Einreichungen bei der Berlinale 2022 (basierend auf der Berlinale-Datenbank):
- Gesamtzahl der Einreichungen: 6.755
- Regie: 33,4 % weiblich, 57,5 % männlich, 3,1 % nicht-binär, 1,8 % keine Angabe, 4,2 % ausgewogen
- Produktion: 35,8 % weiblich, 46,9 % männlich, 2,7 % nicht-binär, 1,4 % keine Angabe, 13,2 % ausgewogen
Auswahl der Berlinale 2022 (basierend auf der Berlinale-Datenbank):
- Gesamtzahl der ausgewerteten Filme (d.h. Programmauswahl ohne Retrospektive sowie sonstige historische Filme, Installationen und Berlinale Series): 209
- Regie: 39,2 % weiblich, 50,7 % männlich, 2,9 % nicht-binär, 3,4 keine Angabe, 3,8 % ausgewogen
- Produktion: 35,9 % weiblich, 40,2 % männlich, 3,8 % nicht-binär, 4,3 % keine Angabe, 15,8 % ausgewogen
Das vollständige Dossier zur Berlinale-Genderevaluation (1,9 MB)