2007 | Generation
'Was hier passiert, gehört uns.'
Zu ihrem 30. Jubiläum präsentiert sich die Berlinale-Sektion für Kinder- und Jugendfilme mit einem neuen Namen: Generation. Am inhaltlichen Engagement der Arbeit ändert sich damit freilich nichts, eines lässt sich jedoch bereits prophezeien: Noch nie konnte die Sektion auf eine solche Bandbreite an Filmen zurückgreifen wie in diesem Jahr - und noch nie gab es eine solche Vielfalt an Themen und Genres. Ein Gespräch mit Thomas Hailer, Maryanne Redpath und Florian Weghorn über das Generation-Programm 2007 und über die Herausforderung, als Erwachsene ein Filmprogramm für Kinder und Jugendliche zu machen. Es sei falsch, dieses Publikum nur deshalb ernst zu nehmen, weil es "die Kinogänger von morgen" seien. Generation ist für Kinogänger von heute.
Zur Berlinale 2007 wird die Sektion für Kinder- und Jugendfilme erstmals den neuen Namen Generation tragen. Ihr seid gerade dabei, die Filme auszuwählen. Wie hat denn die Branche auf den neuen Namen reagiert, hat sich etwas geändert?
Thomas Hailer: Zunächst einmal sind uns in diesem Jahr deutlich mehr Filme angeboten worden, und wir vermuten, dass das auch mit dem Namen zu tun hat. Bei Kinderfilmfest/14plus haben sich viele bei der Filmanmeldung noch gedacht: "Also da gehöre ich nicht hin", obwohl der Film vielleicht sogar gepasst hätte. Wir haben aber auch beim Recherchieren und auf unseren Reisen gemerkt, dass die Ressentiments gegenüber unseren spezifischen Zielgruppen abgenommen haben. Wir müssen weiterhin mit den Leuten reden und unser erweitertes Verständnis von Filmen für Kinder und Jugendliche erklären. Aber das ist durch den neuen Namen Generation leichter geworden – plötzlich finden Produzenten das junge Publikum spannend.
Den Blick scharf halten
Ist das Mehr an Filmen denn vor allem quantitativ, oder ist die Auswahl, auf die ihr zurückgreifen könnt, auch qualitativ noch besser geworden?
Florian Weghorn: Das Mehr an Filmen fordert uns auf jeden Fall heraus, den Blick scharf zu halten, denn zugleich ist die Bandbreite auch größer geworden. Ein Film wie der bereits ausgewählte Trigger bereichert unser Programm mit einer ganz klassischen Komponente: ein gut gemachter Pferdefilm, der auch weiterhin seinen Platz bei uns hat und sein Publikum finden wird. Auch U, ein französischer Animationsfilm, ist ein schön gemachter Kinderfilm im besten Sinne. Es wurden aber auch viele Filme gesichtet, die zwar nicht für ein jugendliches Publikum gemacht wurden, die aber schon von sich aus unserem erweiterten Verständnis entgegenkommen. Wir redefinieren diese Filme für unsere Zielgruppen, indem wir sie ins Programm nehmen.
Maryanne Redpath: Weiterhin auffällig ist, dass wir in diesem Jahr viele Generationenfilme bekommen haben, also Filme, die sich explizit mit dem Verhältnis von alten und jungen Menschen und ihren jeweiligen Lebenswelten auseinandersetzen. Auch das könnte ein Effekt des Namens sein, da offenbar einige Leute Generation erst einmal thematisch gelesen haben. Ein Musterbeispiel dafür ist der US-amerikanische Beitrag Man in the Chair: Ein Jugendlicher trifft auf einen alten Hollywood-Veteran und bekommt Zugang zu einer für ihn völlig fremden Dimension: dem Leben alter Menschen. Er wird als Jugendlicher mit der Frage konfrontiert, wie man in unserer Gesellschaft altert.
Der neue Name war ja auch ein Wagnis. Überraschen euch diese Effekte nun?
TH: Nein, mich überrascht das überhaupt nicht. Dass die Auswahl größer wird, entspricht ja dem, was wir seit Jahren zu vermitteln versuchen: Die Sektion hat kein Dach oben drauf, es gibt wenige Themen, die sich per se nicht für ein junges Publikum eignen. Und wir zeigen ja auch nicht Filme nur für Kinder beziehungsweise nur für Jugendliche. Zum erweiterten Verständnis gehört auch, bei 14plus einen Film zeigen zu können, der eine kindliche Hauptdarstellerin hat, dessen Machart aber eher für ein jugendliches Publikum geeignet ist.
MR: Bei der diesjährigen Auswahlarbeit haben wir unglaublich viele gewalttätige und krasse Jugendfilme gesehen: Sex, Drogen, Selbstmord, Mord. Das stieß bei mir an Grenzen, gebe ich zu. Wir müssen uns sehr genau überlegen, was wir davon unserem Publikum zeigen wollen. Einerseits gibt es Leute, auch Jugendliche, die sagen: "Es ist gut, dass solche Filme gemacht werden, denn das ist die Wahrheit, das ist unsere Realität und damit müssen wir zurechtkommen." Auf der anderen Seite diejenigen, die sagen: „Zeigt den Jugendlichen bloß nicht solche drastischen Dinge, denn die gehen raus und schießen los.“ In diesem Spannungsfeld müssen wir uns positionieren. Das ist eine sehr wichtige und auch interessante Diskussion.
Wahrscheinlich ist es fruchtbarer, euren Fokus mit den Produzenten und Filmemachern anhand der Erzählperspektive und des Themas zu diskutieren, als allein über die Zielgruppe.
FW: Wir sind Teil einer großen Branchenveranstaltung für Professionelle, bestehend aus Markt und Kino. Im Festival haben wir die Chance, ihnen unsere Sichtweise sowohl über die Zielgruppenfrage als auch filmimmanent schmackhaft zu machen. In erster Linie geht es auch bei uns um hervorragende Filme, die eben mit großer Anteilnahme von einem jungen Publikum gesehen werden, weil die Geschichten oder Erzählweisen auch für sie interessant sind. Unser offener Ansatz sorgt für Entspannung bei den Produzenten, denn sie erkennen, dass sie bei uns nicht das Label „Kinderfilm“ oder „Jugendfilm“ verpasst bekommen, sondern dass ihr Film eine attraktive Zielgruppe hinzugewinnt, an die sie bislang vielleicht gar nicht gedacht hatten.
Keine Genregrenzen für Kinder und Jugendliche
Oft werden Filme für Kinder und Jugendliche immer noch als ein eigenes Genre missverstanden, das sich über das Alter der Zielgruppe definiert. Das Generation-Programm 2007 präsentiert nun aber gerade Vielfalt auch bei den Genres: Drama, Komödie, Musical, Animation, einen Pferdefilm… Gibt es überhaupt etwas, was ihr nicht im Angebot habt?
FW: Tatsächlich haben wir in diesem Jahr die Chance, einmal zu zeigen, dass es keine Genregrenzen für Kinder und Jugendliche gibt. Es wird gesungen, es wird spannend werden und es wird ganz großartige Lacher geben. Vom Märchen bis zur beißend genau beobachteten Milieustudie ist die Vielfalt enorm. Sogar ein Geisterfilm aus Thailand ist im Programm, ein richtiger Thriller. Und zwar bei Kplus.
Was zeichnet denn einen Thriller für 12jährige aus?
MR: Für mich ist wichtig, dass ein guter Geisterfilm für Kinder einerseits nicht verkitscht ist, und andererseits nicht ins Psychopathische kippt. Wir möchten, dass die Filme ihr Genre ernst nehmen, und das tut Dek Hor (Dorm). Er will nicht schocken, aber er verniedlicht auch nicht sein eigenes Angstpotenzial.
TH: Einerseits erzählt Dek Hor eine spannende Geistergeschichte, auf einer anderen Ebene aber auch die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Jungen, die beide einsam sind: Der eine kommt neu in ein Internat und ist dort ein Außenseiter, und der andere ist der Geist eines Jungen, der in diesem Internat tödlich verunglückt ist. So erzählt der Film auch vom Geheimnis des Lebens. Er sagt: Dein Leben trägt manchmal Dinge in sich, die nicht klar sind, die dir Angst machen, aber es gibt Wege da raus. Die Ebene der Freundschaft kreist dabei um ganz ähnliche Fragen wie in anderen Freundschaftsgeschichten auch, wo es keine Geister gibt: Wie finde ich Freunde in einer neuen Situation? Wie gehe ich mit meinem Alleinsein um? Dek Hor wird für einige Diskussionen sorgen – perfekt für Kplus.
MR: Dek Hor ist ein Geisterfilm für Kinder, der konsequent spannend ist – und zwar auch für Erwachsene. Der Film gibt keinen falschen Trost, etwa indem der Geist zwischendurch auch mal richtig albern wäre. Viele Filme verfallen in dieses scheinbar kindliche Muster, sobald es um beängstigende Themen geht. Solche Filme haben eigentlich Angst vor ihrem Publikum – Angst, Kindern real Angst zu machen.
Gegenüber dem etwas sperrigen früheren Namen "Kinderfilmfest/14plus" hat "Generation" etwas Verbindendes. Was verbindet denn diese Generation, wenn man sich die Filme dieses Jahrgangs ansieht?
TH: Es gibt dieses Jahr auffallend viele Filme im Sichtfeld von 14plus, in denen die Protagonisten zwar ein hartes Brot zu kauen haben, aber zugleich auch etwas Kreatives dagegen setzen, den Tanz zum Beispiel. Im indischen Film Vanaja geht es um ein Mädchen, das in einem strengen Kastensystem aufwächst. Sie wird unfreiwillig schwanger und das Tanzen wird für sie zum Lebenselixier. Bei einem indischen Film denkt man da vielleicht voreilig an Bollywood-Folklore, aber das Tanzen wird in diesem Film immer elementarer, es wird für das Mädchen zum Kampf um ihre Würde, zum Weg zurück ins Leben.
Habt ihr das Gefühl, ihr lernt durch die Filme eure Zielgruppe immer besser kennen? Oder bleibt da immer auch eine nagende Ungewissheit, ob man als Erwachsener eigentlich wirklich verstehen kann, was Kinder und Jugendlichen heute bewegt?
FW: Wir lernen jedes Jahr etwas durch die Filme, die wir sichten. Aber die Filme bilden das Leben ja nicht eins-zu-eins ab. Ebenso wenig müssen wir uns ein Detailwissen darüber aneignen, wie es in deutschen Familien oder Schulen aussieht, bevor wir einen Film ins Programm nehmen können, der sich mit diesen Themen beschäftigt. Ein Spielfilm ist kein Dokumentarfilm; so real er auch scheinen mag, seine Kraft ist die Phantasie, die er weckt.
"Gebt uns den Film und schaut, was dann im Zoo-Palast los ist."
TH: Im Auswahlgremium sitzen vier Erwachsene mit einem sehr unterschiedlichen persönlichen Erfahrungshintergrund und einer selbstbewussten und zugleich kritischen Herangehensweise an die Filme. Im letzten Jahr hatten wir bei Droemmen die starke Intuition, dass dies ein toller Film für uns ist. Aber wir mussten kämpfen, um ihn zu bekommen. Wir haben gesagt: "Gebt ihn uns mal und schaut euch an, was im Zoo Palast los sein wird." Wir hätten gewettet, dass genau das passiert, was dann passiert ist: Als der Schulrat im Film den Schülern sagt, "Ich habe euch die traurige Mitteilung zu machen, dass unser Herr Direktor verstorben ist", jubeln zuerst 150 Kinder auf der Leinwand – und dann jubeln 1000 Kinder im Zoo-Palast. Das finden einige Erwachsene zwar ein bisschen beklemmend, aber der Film fängt es souverän auf. Es ist unser Job, solche Sachen vorher zu erspüren und dann unserem Gremiumsentscheid zu vertrauen.
Ihr fühlt euch offenbar nicht genötigt, ein Konsensprogramm zu machen.
TH: Nein, das müssen wir nicht. Wir sind Erwachsene, die ein Filmprogramm für Kinder und Jugendliche machen. Wir geben nicht vor, selber Kinder zu sein. Aber wir lesen uns nachher die Fragebögen durch und sehen dann, wo wir richtig oder falsch gelegen haben.
FW: Kinder finden es gut, dass Erwachsene ein Programm für sie machen, von dem sie sich ernst genommen fühlen, das ihnen etwas zutraut und auch ihre Kritik herausfordert. Ich glaube, das respektiert ein Kind mehr, als wenn Erwachsene versuchen, sich auf die Ebene des Kindes herunterzubeugen.
Gerade erst vermeldeten die deutschen Kinos einen Anstieg der Besucherzahlen im laufenden Jahr. Ganz oben bei den Box Office Hits stehen regelmäßig so genannte "Filme für die ganze Familie". Ihr betont, dass für euch "Filme für Kinder und Jugendliche" nicht gleichbedeutend ist mit "Familienunterhaltung". Wie wichtig ist es euch eigentlich, dass Eltern mit ihren Kindern gemeinsam ins Kino gehen? Kino ist ja auch ein Rückzugsort, ein intimer Ort, ein Ort, wo man sich selbst zum Geheimnis werden kann. Ist allzu viel Generationendialog da nicht störend?
TH: Es gibt ein paar klassische Modelle, wie sich unser Publikum zusammensetzt. Zum einen Familien, zum anderen Schulklassen, die mit ihren Lehrern kommen. Bei älteren Kindern und den Jugendlichen bilden sich auch Banden, die eigenständig entscheiden, dass sie zur Berlinale gehen und was sie dort sehen wollen. Uns sind alle drei Konstellationen gleich lieb. Durch das Pilotprojekt mit den Schulen bekommen wir mit, wie unsere Filme einen Dialog in den Klassen initiieren können. Aber wir sehen auch, wie toll es für Familien ist, sonntags gemeinsam zur Berlinale zu gehen.
MR: Man sollte auch nicht vergessen, dass Familie neben dem traditionellen Verständnis auch heißen kann: der Mitbewohner, die Tante, der beste Freund des Bruders. Entsprechend gibt es auch viele ältere Bezugspersonen, mit denen Jüngere ins Kino gehen.
FW: Es ist natürlich wichtig, zwischen einem gemeinsamen Kinoerlebnis und einem didaktischen Anliegen zu unterscheiden, das davon ausgeht, dass Filme nur verständlich sind, wenn sie von einem Erwachsenen begleitet werden. Letzteres widerspricht unserem Ansatz, denn unser Angebot richtet sich direkt an den jungen Zuschauer. Dafür steht zum Beispiel auch die Website der Jungen Journalisten – eine echte Meinungsplattform im Netz. Unsere Zuschauer wissen: „Was bei Generation passiert, gehört uns.“
TH: Eine Zuschauerin erzählte mir einmal, dass ihr Patenkind mit sechs Jahren auf der Berlinale war und bei uns das erste Mal ins Kino gegangen ist. Der Junge kam tief beeindruckt nach Hause – vom Festival, von dem Film, von der Tatsache, dass der Hauptdarsteller nachher auf der Bühne stand. Als ihn seine Mutter fragte, wie es war, sagte er: "Geheim, darüber möchte ich mit niemandem sprechen". Dem Jungen war wichtig, dass das sein Erlebnis war und auch blieb.
Die Anfänge: Kinder fordern ihr eigenes Programm
Die Sektion wird 30. Von der Gründung erzählt man sich die Anekdote, dass eine Gruppe Kinder den damaligen Festivalleiter Wolf Donner besucht und erfolgreich Lobbyarbeit für ein eigenes Kinderprogramm betrieben habe.
MR: Zuerst hat Wolf Donner gekontert: "Aber wie wollen wir das denn machen? Die meisten Filme sind ja nicht auf Deutsch." Und die Kinder haben von sich aus gesagt, dass man die Übersetzung ja einsprechen könne…
TH: Ich habe das neulich noch einmal nachgelesen. Die Kinder haben Wolf Donner vor laufenden Kameras ganz förmlich das Versprechen abgenommen: "Ich gelobe feierlich, dass ich im nächsten Jahr… auweia!" – und da gab es schon kein Zurück mehr.
Lebt die Sektion immer noch mit diesem Geist, von ihrem Publikum gepusht zu werden?
TH: Oh, und wie! Versuch mal, die Sektion abzuschaffen. Da würden dir die Leute aber ordentlich Dampf machen.
MR: Manchmal heißt es ja: "Generation ist wichtig, denn das sind die Kinogänger von morgen". Darauf erwidern wir: Falsch, das sind unsere Kinogänger von heute.