2013 | NATIVe
Von filmischen Entdeckungen
Ab 2013 widmet sich die Berlinale in einer Sonderreihe den filmischen Erzählungen indigener Völker. Im ersten Jahr der Reihe werden unter dem Titel „NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema“ 24 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus Australien, Ozeanien, Nordamerika und der Arktis gezeigt. Im Interview betont Kuratorin Maryanne Redpath die Vielfältigkeit der indigenen Filmkunst und formuliert das Vorhaben, mit der Reihe eine besondere Plattform des Austausches zu schaffen.
Wie ist die Idee zu dieser Reihe entstanden?
Als Delegierte der Berlinale reise ich jedes Jahr nach Australien und Neuseeland, schaue Filme und mache eine Vorauswahl für alle Sektionen unseres Festivals. Im Laufe der Jahre sind so sehr gute Kontakte zur Aboriginal-Filmindustrie und der Maori-Filmindustrie entstanden. Vor vier oder fünf Jahren hat mich Dieter Kosslick auf meiner Reise begleitet, wir waren gemeinsam auf dem Empfang der „Indigenous Unit“ von Screen Australia, wo alljährlich indigene Filmschaffende zusammenkommen. In jenem Jahr fand das Treffen am Hafen von Sydney in einer wirklich tollen Atmosphäre statt, wir sind dort sehr beeindruckenden Leuten aus der Filmbranche begegnet. Unter dem Eindruck der gemeinsamen Reise haben wir dann beschlossen, dieses Projekt auf den Weg zu bringen.
Wie kamen die anderen Regionen dazu?
Am Anfang haben wir an eine einmalige Sonderreihe gedacht. Allerdings haben sich schnell neue Kontakte in die USA, Kanada, aber auch nach Norwegen und Südamerika ergeben, daraus ist ein richtiges Netzwerk entstanden. Das Thema „indigenes Kino“ hat sich als so reichhaltig und vielfältig erwiesen, dass wir uns vorstellen können, die Reihe fortzusetzen. Wie der Name „NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema“ schon sagt, ist es eine Reise. Keine Reise mit einem konkreten Anfang und einem Ziel. Es ist „Work in Progress“ und so soll es auch bleiben. Dieses Jahr konzentrieren wir uns auf vier Regionen, die wir ganz bewusst über Staatsgrenzen hinaus definieren: Ozeanien, Australien, Nordamerika und die Arktis. Das gibt uns die Möglichkeit, nicht nur an Oberflächen zu kratzen, sondern auch in die Tiefe indigener Kulturen vorzustoßen. Insgesamt haben wir 24 Filme im Programm.
Wie definiert Ihr die Begriffe „Native“ und „indigen“ und damit auch die Auswahlkriterien für die Sonderreihe?
Ich möchte das Wort „Definition“ an dieser Stelle eigentlich vermeiden. Vielmehr habe ich das Bild eines Kontinuums vor Augen, in dem alle Filme existieren – das indigene und das nicht-indigene Kino. Manche Filme sind mehr auf der indigenen Seite anzusiedeln und manche weniger. Es ist ein dynamischer Austauschprozess, der auf allen Ebenen stattfindet. Ein entscheidender Punkt ist sicher, dass fast alle Filme der Sonderreihe von indigenen Filmkünstlern gedreht wurden.
Die Indigenen Australiens, die Maori, die Inuit und die Native Americans haben erst vor etwa 40 Jahren angefangen, selbst die Kamera in die Hand zu nehmen. Uns interessiert also in erster Linie, von wem die Filme gemacht wurden, und weniger, über wen. Auch wenn die Herkunft der Filmteams natürlich nicht das einzige Kriterium ist. Ten Canoes von Rolf de Heer zum Beispiel, siedle ich aufgrund seiner Geschichte klar im indigenen Umfeld an, obwohl der Regisseur in den Niederlanden geboren wurde. Es geht auch nicht darum, eindeutig vorherrschende Genres zu definieren. Man darf nicht nur klischeehaft an schamanische Geschichten denken, die auf die Leinwand kommen. Die gibt es zwar auch, aber genauso brisante Filme über den heutigen Alltag indigener Völker. Unsere Reihe will damit die Vielfalt der indigenen Filmkunst zeigen und feiern. Dazu laden wir Teilnehmer aus der ganzen Welt ein, miteinander zu diskutieren und sich auszutauschen. Die Berlinale kann dafür eine Plattform bieten und Aufmerksamkeit schaffen. Wir sind alle gespannt, welche Früchte dieses Engagement tragen wird.
Im Grunde beziehen wir uns auf die Deklaration der UNESCO von 2007, die das Ziel formuliert, die Rechte indigener Menschen zu schützen und diese universell zu verankern. Die Deklaration bezieht sich auf Bevölkerungen dieser Welt, die kolonialisiert wurden, ihrer Kulturen und ihres Landes beraubt wurden. Sie leben zwar immer noch in ihren traditionellen Regionen, sind aber nicht wirklich an den institutionalisierten politischen Machtgefügen vor Ort beteiligt.
Erfordert ein neues Bewusstsein für indigene Völker auch neue Benennungen oder Begriffe?
Seit der UNESCO-Deklaration ist „indigen“ das einzige Wort, das von indigenen Menschen mehr oder weniger akzeptiert wird. Ich denke aber, dass die Begrifflichkeit vor allem für uns - als eine von westlichen Werten dominierte Gesellschaft - wichtig ist, um diese Kulturen fassbarer zu machen. Als der Filmemacher von Skins, Chris Eyre, einmal gefragt wurde, wie er angesprochen werden wolle, ob „indigen“, „Indianer“ oder „Cheynenne“ oder ganz anders, hat er geantwortet: „Chris. Ich heiße Chris.“ Jede Definition kommt schnell an ihre Grenzen. In diesem Projekt geht es auch darum zu lernen, wie man darüber sprechen kann.
Faszinierende Dokumentationen
Auffällig ist, dass es sich bei den älteren Filmen in der Reihe fast ausschließlich um Dokumentarfilme handelt. Spielfilme von indigenen Filmemachern scheinen anfangs die Ausnahme gewesen zu sein.
Ja, das ist tatsächlich so. Das Medium Film wurde zuerst als Möglichkeit gesehen, die eigene Kultur und Tradition zu bewahren und die jahrhundertealte mündliche Erzähltradition auch visuell neu zu fassen.
Viele ältere Filme von nicht-indigenen Filmemachern haben eine ethnographische, beobachtende Herangehensweise. Viele haben eine integere Haltung und erzählen tolle Geschichten, können aber per se nur eine Außenperspektive sein. Das National Film Board of Canada hat da einen anderen Ansatz. Schon vor Jahren hat man dort angefangen, mit der ausdrücklichen Erlaubnis der indigenen Community Sonnenzeremonien in Reservaten zu filmen, um diese Traditionen zu bewahren. Und genau darum geht es uns auch: um Erlaubnis zu fragen. Dafür stehen uns zehn internationale Berater zur Seite, die das eigentliche Rückgrat des Projekts bilden.
Ein gutes Beispiel aus unserem Programm ist der 30-minütige Dokumentarfilm Ngangkari von Erica Glynn, in dem es um die spirituellen Heiler Australiens geht. Erica Glynn, die das Projekt auch berät, hat vor mehreren Jahren drei Ngangkari bei ihrer Arbeit gefilmt, von denen inzwischen zwei bereits traurigerweise verstorben sind. Die Aboriginals verstehen ihre Toten als Spirits, also als Geister, die eigentlich nicht mehr gezeigt werden dürfen. Bevor wir den Film in die Reihe aufgenommen haben, hat Erica Glynn um Erlaubnis gebeten, ihn zeigen zu dürfen. Am Anfang des Films gibt es deshalb einen Hinweis darauf.
Worum geht es in den weiteren Dokumentarfilmen?
Wir zeigen Ngangkari in Kombination mit zwei weiteren kurzen Dokumentarfilmen, die gemeinsam einen Kern der Reihe bilden.
Bastion Point Day 507 ist ein echtes Zeitdokument. Seit den 1970er Jahren kämpft die Maori-Protestbewegung darum, die ihnen versprochenen Landrechte zurückzugewinnen. Merata Mita, die vor eineinhalb Jahren verstorbene Ko-Regisseurin des Films, war eine zentrale Figur des indigenen Kinos über Neuseeland hinaus. Sie hat beim Sundance Indigenous Lab gearbeitet und war eine engagierte Mentorin für junge indigene Filmemacher. Wir wollen sie im Rahmen dieser Reihe ehren.
Auch der dritte Film ist von einer sehr wichtigen Frau des indigenen Kinos, Alanis Obomsawin: Richard Cardinal: Cry from the Diary of a Métis Child. Der Film erzählt von den so genannten Gestohlenen Generationen. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden sowohl in Kanada als auch in Australien Kinder von ihren Völkern und ihren Familien getrennt. Richard Cardinal war ein besonders tragischer Fall der 1980er Jahre in Kanada. Er war ein poetisch begabter, sensibler Junge, der durch 28 Pflegefamilien und -Heime geschleust wurde. Mit 17 Jahren nahm er sich das Leben. Dieser Film, der auch auf der Basis seines Tagebuchs entstand, hat damals ein unüberhörbares Zeichen gesetzt.
Alle diese Filme finden einen ganz besonderen Zugang zu ihren Themen und Protagonisten. Wie auch der zweite Dokumentarfilm von Merata Mita, Saving Grace, Te Whakarauora Tangata. Auf schonungslose Art und Weise setzt sie in ihrem Film dem weitverbreiteten Bild des gewalttätigen, tätowierten Maori-Mannes ein weiches, sanftes Bild entgegen und zeigt, wie die Männer Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.
Filmische Herausforderungen
Du hast auf Besonderheiten im Umgang mit bestimmten Themen und mögliche Konflikte, die dabei entstehen können, hingewiesen, wie es am Beispiel von Ngangkari über die verstorbenen Heiler der Fall ist. Inwiefern entsteht dadurch ein eigenes Narrativ? Oder richten sich die Filme hauptsächlich an ein unspezifisches Publikum und entsprechen westlichen Sehgewohnheiten?
Das ist sehr unterschiedlich. Einige Filme aus dem Programm liefen sehr erfolgreich im Kino und auf internationalen Festivals. Beneath Clouds war 2002 Teil des Berlinale Wettbewerbs, On the Ice hat 2011 den Preis Bester Erstlingsfilm gewonnen. Ten Canoes und Samson & Delilah wurden in Cannes ausgezeichnet. Andere Filme wie etwa Ngati von Barry Barclay oder Turangawaewae – A Place to Stand von Peter Burger sind richtige Entdeckungen.
Wie in allen Kulturen gibt es auch im indigenen Kino sehr spezifische Ausdrucksweisen. Das Besondere hier ist, dass man neue Lebensweisen, neue Wege, neue Realitäten aus einer Innensicht gespiegelt bekommt, mit denen das europäische Publikum wenig vertraut ist. Trudell beispielsweise ist ein Dokumentarfilm über den in Europa nahezu unbekannten Aktivisten, Dichter, Schauspieler und Sänger John Trudell. Er ist einer der Hauptakteure des American Indian Movement. Der Film zeigt die wichtigsten Stationen seines Lebens und seiner Arbeit.
Entdeckungen gibt es aber nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene. Ten Canoes arbeitet beispielweise mit einer Erzählstruktur, die drei Zeitebenen ineinander verwebt und eine alte Mythologie aus der Zeit des vorkolonialen Australien erzählt. Der Film meistert die Herausforderung, bestimmte - auch spirituelle Ebenen - filmisch zu vermitteln. Die Sámi zum Beispiel erzählen, tanzen und trommeln ihre Geschichten über mehrere Tagen und Wochen hinweg. Tag und Nacht, ohne Anfang, Mitte, Ende. Wie lässt sich diese Magie in einem Film transportieren, ohne Außenstehende zu langweilen? Wie kann man das Zuschauern nahe bringen? Das sind für mich spannende Fragen, denen wir nachgehen wollen.
Boy ist ein Film, auf den ich mich im Kontext dieser Reihe noch einmal ganz besonders freue: Eine pfiffige Komödie mit traurigen Zwischentönen und einer Tiefe, der sie ohne Verkrampfung gerecht wird. Der Regisseur Taika Waititi, der in diesem Jahr Mitglied der Jury für den Preis Bester Erstlingsfilm ist, hat eine sehr eigene Handschrift, einen ganz besonderen Humor und entwirft in Boy ein äußerst modernes Bild der post-post-kolonialistischen Maori-Gesellschaft. Boy ist ein elfjähriger Junge, der mit seiner Oma und seinen Geschwistern in einem ziemlich heruntergekommenen Haus an der Ostküste Neuseelands lebt. Seine Mutter ist bei der Geburt seines Bruders gestorben, und sein Vater sitzt im Gefängnis. Doch für Boy ist er der Größte. Der zweite Mann in seinem Leben ist Michael Jackson, den Boy abgöttisch verehrt. Als der Vater aus dem Gefängnis entlassen wird und mit cooler Lederjacke in einem schicken Schlitten vorfährt, bricht ein emotionales Chaos in dem Jungen aus. Er will seinen Vater regelrecht erobern, aber natürlich ist nichts so wie er sich das vorgestellt hatte.
Innovatives Genrekino
Auch On the Ice und Samson & Delilah haben Genre-Anklänge...
On the Ice ist ein ganz toller Krimi, der in Alaska auf dem ewigen Eis spielt. Qalli und Aivaaq sind lässige Jungs, die nachts auf Hiphop-Partys gehen und tagsüber Seelöwen auf traditionelle Art der Iñupiat jagen. Als es dabei zu einem tödlichen Zwischenfall kommt, entwickelt sich die Geschichte zu einem spannenden „Who-Done-It?“.
Samson & Delilah von Warwick Thornton ist ein Roadmovie und eine drastische Neuinterpretation der biblischen Geschichte. Zugleich erzählt der Film von einer zarten ersten Liebe zwischen zwei traumatisierten Jugendlichen. Sie verlassen ihre vertraute, aber auch desperate Umgebung im australischen Outback und schlagen sich in der Stadt als Außenseiter durch. Beide geraten in lebensbedrohliche Situationen. In dieser Geschichte kommt es zum bewegendsten Drogenentzug, den ich jemals in einem Film gesehen habe. Samson & Delilah ist auch ein sehr fein gezeichneter Film. Er reflektiert unsere westliche Sicht auf die Dinge und vermittelt gleichzeitig viel über das Leben indigener Australier und die Kraft ihrer Traditionen.
Gibt es verbindende Themen im indigenen Kino, die sich unabhängig von Regionen festmachen lassen?
Auf unterschiedlichste Weise thematisieren viele Filme das Weggehen, die Verlorenheit in der „neuen“ Welt mit daraus resultierenden Konflikten. Eine Wiedereroberoberung der eigenen Wurzeln stellt oft einen Rettungsanker dar. An der Stelle und über die Regionen hinaus sehe ich deutliche thematische Gemeinsamkeiten zwischen den Filmen. Und auch hier darf man sehr gespannt sein, welche neuen Zusammenhänge sich aus den Gesprächen und dem Austausch der Filmschaffenden selbst ergeben werden.