2014 | Panorama
Was das Kino vermag
Mit 52 Filmen gibt das Panorama 2014 einen Überblick über das aktuelle Weltkino. Im Interview spricht Sektionsleiter Wieland Speck über die Risiken der Emanzipation, die ungebrochene Kraft des Kinos und die bevorstehende Rückkehr in den Zoo Palast.
Mit Blick auf das Programm 2014 fällt auf, dass fast jeder Film zumindest einen politischen Unterton hat. War diese Thematisierung der herrschenden Situation und ihrer Veränderbarkeit eine bewusste Entscheidung?
Weltveränderung ist dem Panorama Herzensangelegenheit. Der politische Fokus liegt sicherlich an dem Filter, den wir als Programmmacher darstellen – aber wir haben die Filme nicht selbst gemacht. Die Themen liegen in der Luft und wir sammeln sie ein. Durch unsere Auswahlreisen und unsere Delegierten in verschiedenen Ländern bekommen wir tatsächlich ein gutes Bild von dem, was politisch – im Sinne von Teilhabe an der Gesellschaft und sei es durch Widerstand – aktuell passiert. Vor allem die Angst, dass es zu bald zu Ende sein könnte mit diesem Raubzug, bei dem sich einige auf Kosten der breiten Masse bereichern, ist spürbar.
In Nước (2030) zum Beispiel, dem Eröffnungsfilm des Hauptprogramms, zeigt der junge vietnamesische Regisseur Nguyen-Vo Nghiem-Minh eine Welt, in der die Klimaerwärmung den Meeresspiegel so weit angehoben hat, dass die Hälfte des anbaufähigen Landes unter Wasser steht – und thematisiert die Gier der Multikonzerne, die aus dieser Situation Profit schlagen wollen. Die Filme im Programm entwerfen eine großartige Bandbreite an Alternativen und Alternativen zu finden ist eine schöpferische Kraft. Und die gute Nachricht ist, dass der Opportunismus der letzten zehn Jahre hinter uns liegt. Es gibt wieder Spaß am Widerstand. Diese Kombination kennen wir aus den 1970er Jahren, wo ich herkomme.
Kann man diesen Vergleich zu den 1970er Jahren auch auf ästhetischer Ebene herstellen?
Das Zurückgehen zu Mustern, die als beeindruckend erlebt wurden, ist immer spürbar. In den letzten drei Jahren erleben wir eine Abkehr von der konventionellen Art und Weise zu erzählen. Der junge chinesische Regisseur Zhou Hao greift in Ye (The Night) stilistisch 15-30 Jahre zurück; auf frühe Wong Kar Wais und die Gefühlswelten Rainer Werner Fassbinders - mit der Kamera, der Montage. Ich sehe da viele Querverbindungen, was in diesem speziellen Fall erstaunlich ist. Zhou Hao ist 21 Jahre alt, kommt aus der Volksrepublik China, wo der Zugang zum Weltkino nicht der allerbeste ist und macht einen Film, der an Werke erinnert, die länger zurückliegen als er lebt. Das zeigt, dass Themen und Formen tatsächlich in der Luft liegen und sich unbestreitbar wieder materialisieren können – was im Falle von Ye ästhetisch wie inhaltlich äußerst wagemutig und grandios gelungen ist.
Die Risiken der Emanzipation
Wie jedes Jahr bildet das schwul-lesbische und Transkino einen Schwerpunkt. Wie wichtig ist es, dass das Panorama den Prozess der Emanzipation über die Jahre begleitet, sichtbar gemacht und reflektiert hat?
Wir haben inzwischen amerikanische Filme, die aus der Top-Notch-Situation der Bewegung heraus entstanden sind. Am Ende der Emanzipation stehen die ganz normalen Probleme auf der Tagesordnung. Aber dieser Luxus eines normalen Lebens ist der Ausnahmefall. Schwule und Lesben werden nach wie vor von kaum einer Kultur als immanent anerkannt, sie gelten als Störung von Außen, die man abwehren muss. Das hängt mit dem Einsatz von Sexualitätsformatierung als Machtmittel innerhalb von Staats- und Gesellschaftsgefügen zusammen. Ein ganz bitteres Thema, weil man kaum dagegen ankommt. Sexualität wird benutzt, um die Leute zu katalogisieren, sie in einem gewissen Formrahmen zu halten. Homosexualität ist dabei nur ein Opfer der allgemeinen Einstellung gegenüber Sexualität und ihrem Missbrauch. Das ist ein Dauerthema des Panoramas, für viele sogar eine Motivation, Filme zu machen. Die Festivals dieser Welt haben lange weggeschaut, wir haben das immer gezeigt. Dadurch hatten wir schon in den 1980er Jahren einen Sonderstatus mit allen positiven und negativen Effekten. Manche behaupteten, wir würden Propaganda oder irgendetwas Unlauteres machen, weil wir gezeigt haben, was ist.
Wie hast Du das Outing des Fußballspielers Thomas Hitzlsperger empfunden, das vor wenigen Wochen auf eine immense mediale Resonanz gestoßen ist?
Da ist das Thema plötzlich an der populärsten Stelle des Gesellschaftskörpers angekommen. Ein schöner Schritt, der ein Bewusstsein von Homosexualität als etwas Existentem erzeugt. Wladimir Putin hat ja bis vor kurzem noch so getan, als gäbe es Homosexualität gar nicht. Mittlerweile können die Russen nicht mehr wegschauen. Homosexualität ist ein Fakt und kommt nicht von Außen, im Gegenteil, die heterosexuelle Familie kreiert schwule und lesbische Kinder. Diese Erfahrung muss bewusst sein, ehe der erste Schritt zur Emanzipation gemacht werden kann. Der Moment, in dem das passiert, ist sehr gefährlich für Lesben und Schwule. Die Heimlichkeit bietet ja auch Schutz und wer will schon mit seiner Sexualität aus dem Hemd hängend durch die Gegend laufen? Das ist eine intime Situation, die entblößend ist, egal um welche Sexualität es geht. Nur wenn der Widerstand gegen eine bestimmte Gruppe dermaßen vehement und existenzbedrohend ist, dann hat der Einzelne die Pflicht, politisch zu werden.
Mit Viharsarok (Land of Storm) haben wir einen Film im Programm, der sich um einen schwulen Fußballspieler dreht. Er kehrt aus Deutschland zurück, weg von der Macho-Fußballwelt auf den Hof des Großvaters, um Bienen zu züchten. Er steckt den Kopf nicht in den Sand, es ist keine Flucht, sondern er will eine Alternative aufbauen auch zu dem, was auf dem Land gar nicht mehr oder nur falsch existiert. Diese Rückkehr aufs Land ist im Übrigen ein roter Faden im Programm. In In Grazia Di Dio (Quiet Bliss) ist ein kleiner Familienbetrieb aufgrund der Wirtschaftslage nicht mehr überlebensfähig. Drei Generationen von Frauen beginnen, ihr Essen selbst anzupflanzen. Da steckt eine sinnstiftende Vision drin. Die Männer sind verschwunden, die Frauen fühlen sich gemeinsam wohl in einer Welt, die sie sich selbst geschaffen haben. Und das Aufbrechen der Kleinfamiliendiktatur ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt, weil sie eine Sackgasse ist.
Es gibt sehr viele Filme im diesjährigen Programm, die sich all die festgefahrenen Situationen noch einmal genauer anschauen, um sie aufzubrechen. Another World thematisiert die Occupy-Bewegung. In Concerning Violence geht es um die Folgen der Kolonialisierung Afrikas. Ich sehe da einen starken Zusammenhang zu emanzipatorischen Themen wie in Vulva 3.0, Fucking Different XXY oder Through a Lens Darkly, wo die Geschichte der Fotografie aus afroamerikanischer Perspektive neu erzählt wird. Das sind alles Elemente, die in dieselbe Kerbe hauen, wir wollen diese Welt so begreifen, dass wir Teil davon sind und aktiv sein können.
Die Standardisierung und wie ihr zu entkommen ist, scheint mir ein weiterer roter Faden im Programm zu sein. Sei es die körperliche Normierung in Vulva 3.0 oder die Standardisierung des Subjektes in Ya Gan Bi Haeng (Night Flight). Ist es eine der genuinen Aufgaben des Kinos, Filme zu machen über die Mutierten, die Widerständler?
Ich möchte dem Kino keine Aufgabe formulieren, aber es macht eigentlich auf ganz natürliche Art und Weise Filme über Leute, die weniger normiert sind. Das Kino kann Menschen zusammenbringen und ein anderes Bild vorgeben. Das ist es, was mich an Kino wirklich interessiert. In Fucking Different XXY arbeiten sieben transsexuelle, transidentische Regisseure zu Sexualitäten, die sie selbst nicht leben. Sie zelebrieren den Blick auf das Andere und das ist eine extrem interessante Herangehensweise.
Ya Gan Bi Haeng könnte man auch mit Hoje eu quero voltar sozinho (The Way He Looks) gegenlesen, einem brasilianischen Film über einen blinden Schüler, der mit seiner Behinderung in einer normalen Schule zurechtkommen muss. Was wir irgendwann erreichen wollen, ist dort schon geschafft: die Menschen werden nicht in Extraschuhkästen sortiert – auch wenn in diesem Fall der Schüler Hänseleien über sich ergehen lassen muss. Da geht es natürlich um Normierung, zumal der blinde Junge auch noch seine schwule Liebe zu einem neuen Schüler entdeckt. Was das Kino sehenswert macht, ist die Überschreitung diese Normierungen. Der südkoreanische Regisseur von Ya Gan Bi Haeng, LeeSong Hee-il, ist schon zum dritten Mal bei uns und präsentiert jedes Mal eine hochintelligente Art und Weise, das aus der Norm gefallene Individuum zu begleiten. Er zeigt die Empfindungen als große persönliche Geschichte und als Analyse der koreanischen Gesellschaft, in der die Menschen extrem unter Leistungsstress stehen.
Die Verarmung der Welt
Viele der Protagonisten im Programm müssen aufgrund ihrer finanziellen Lage ein neues Leben beginnen. Gibt eine neue globale Klassengesellschaft über alle Ländergrenzen hinweg?
Im Prinzip beschreibst Du eine Grundkonstellation des Kinos, die besseren Filme haben so eine Struktur: Der Einzelne muss sich zurechtfinden und meistens hat er etwas, das uns anspricht, sonst entsteht ja nicht der Sog, sich eine Geschichte erzählen zu lassen. Das ist die Art, in der wir miteinander umgehen, weil wir voneinander lernen und inspiriert werden wollen. Im griechischen Na kathese ke na kitas (Standing Aside, Watching) ist es eine junge Frau, die aus der Stadt zurück aufs Land kommt. Der Ort hat sich verändert, inzwischen herrscht ein fürchterlicher, gewalttätiger Patriarch. Wie formatiert sie diese kleine Welt jetzt so um, dass sie dort leben kann? Diese klassische Fragestellung, taucht tatsächlich in mehreren Filmen auf. In Bai Mi Zha Dan Ke (The Rice Bomber) wird ein taiwanesischer Bauer zum Terroristen, weil die Regierung die Weichen falsch gestellt hat. Die Klassensituationen haben sich nicht groß verändert, es sind eher Machtstrukturen, um die es geht. Wer hat die Macht, was tut die Macht? Ist die Macht in irgendeiner Weise bearbeitbar? Das sind die übergeordneten Themen, die beispielsweise in beiden indischen Filmen zu finden sind, wo die Klasse Kaste heißt.
In Highway wird eine Frau aus Versehen gekidnappt. Sie ist von einer hohen Kaste, die Diebe, die eigentlich nur das dicke Auto klauen wollten, sind von einer niedrigen – und dürfen eigentlich immer nur die eigene Kaste oder nach unten beklauen. Jetzt sitzen sie in der Patsche, weil sie eine Oberkastenperson entführt haben. Eine großartige Bollywood-Produktion, die – eher ungewöhnlich – eine Frau in der Hauptrolle zeigt. In Papilio Buddha bilden – wie in Highway – die Gruppenvergewaltigungen einen Hintergrund, die ebenfalls immer nur klassenabwärts stattfinden. Niemals wird eine Frau aus einer höheren Kaste als die Täter vergewaltigt; das ist die Systematik und die ist ein systemisches Problem. Der Film greift das an und revoltiert dagegen. Last Hijack erzählt von Fischern mit leeren Netzen, die eigentlich überhaupt nichts mit Verbrechen zu tun haben wollen, aber von Piraten rekrutiert werden und so in die Kriminalität abrutschen. Dasselbe gilt für den Film Bing Du (Ice Poison), in dem ein verarmter Bauer in Myanmar zum Taxifahrer der Drogenkuriere wird.
Die Berlinale setzt 2014 einen Schwerpunkt auf den Dokumentarfilm. Wie sinnvoll ist in Deinen Augen heutzutage noch eine kategoriale Trennung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm?
Wir trennen die Kategorien nicht, Panorama Dokumente zeigt Filme, die eher dokumentarisch sind, aber keine Dokumentarfilme sein müssen. Last Hijack arbeitet mit nachgespielten Szenen und Animationen, also einer Mischung aus verschiedenen Elementen. In Der Kreis werden ebenfalls ganze Szenen von Schauspielern nachgespielt, die echten Protagonisten geben in Interviews Statements dazu ab. Heute gehen alle Formate durcheinander. Im Spielfilm gibt es im diesjährigen Programm eine Tendenz zu „Based on a True Story“. Es ist tatsächlich so, dass das Dokumentarische und das Fiktionale sehr eng beieinander liegen. Im Panorama ist die Unterscheidung zwischen Hauptprogramm und Dokumente hauptsächlich für den Markt gedacht, damit die Einkäufer sich orientieren können. In den 1990er Jahren haben wir uns dafür stark gemacht, dass der Dokumentarfilm wieder einen Platz im Kino findet, aus dem er vollkommen verschwunden war. Das hatte mit Entwicklungen in den anderen Medien zu tun – vor allem dem Fernsehen, wo man immer stärker auf Meinung und Statements ging. Inzwischen ist die Situation wieder besser geworden.
Welche Gefühle hast Du angesichts der bevorstehenden Rückkehr in den Zoo Palast?
Oh, großartig! Da freuen wir uns drauf. Wir waren sehr gerne im Friedrichstadt-Palast, hatten allerdings wegen der Größe des Saals viel Respekt; aber es hat gut funktioniert. Der Zoo Palast ist ein hochemotionales Gebäude für mich, mein erster Film lief 1981 dort auf der Berlinale! Ihn abzureißen oder umzufunktionieren wäre ein kulturelles Verbrechen für Berlin gewesen. Die äußere Hülle des Palastes ist ja geschützt, aber im Inneren hätte alles Mögliche passieren können. Und Yves Saint Laurent, mit dem wir das Programm dort eröffnen, ist ein wunderbarer Film für diesen Anlass, ein großer europäischer Film mit einer schwulen Erfolgsstory. Es ist richtig großes Kino, großartige Schauspieler und das französische Kino hat bei uns sowieso ein Podest. Von daher bin ich sehr glücklich.