2015 | Perspektive Deutsches Kino
Familiäre Räume
„A Space Discovery“ – dem Motto der Berlinale Talents 2015 schließt sich die Sektionsleiterin der Perspektive Deutsches Kino Linda Söffker gerne an, denn Räume und Orte spielen eine zentrale Rolle in ihrer Auswahl 2015. Im Interview spricht sie außerdem über einen frischen Wind im jungen deutschen Kino, veränderte Produktionsbedingungen und das Formbewusstsein in den Perspektive-Filmen 2015.
In der Pressemitteilung kündigt Ihr an, dass sich etwas tut im deutschen Film. Kannst Du die aktuelle Stimmung beschreiben?
Es gab zum Beispiel ein Symposium zum „German Mumblecore“, eine Stimmung, in der lustvoll und frei, meist ohne Fördermittel und auf kurzen Wegen produziert wird. Der lange Marsch durch die Institutionen ist den Machern oft zu zeitraubend, auch wenn sie das Geld natürlich gerne nehmen würden. Also drehen sie einfach los. Das klingt jetzt so einfach, ist es aber nicht, da es natürlich auch Selbstausbeutung bedeutet. Mit den Filmen ist zwar kein Geld zu verdienen, sie ziehen nicht das Riesenpublikum, aber sie gewinnen auf diversen Festivals eine Menge Preise und machen die Zuschauer glücklich.
Gilt das nur für die junge Generation?
Die Bewegung ist zwar hauptsächlich von jungen Leuten getragen, aber es gibt auch ältere, die mit dem System vielleicht mal ganz gut gelebt haben, aber mittlerweile keinen Weg mehr für sich sehen. Immer mehr Filmemacher wollen an die Töpfe und für jeden Einzelnen wird es immer schwerer. Viele springen auch hin und her, sie machen mit und ohne Förderung, mit und ohne Fernsehen ihre Filme, so oder so ist das erstmal kein Qualitätsmerkmal.
Gibt es Gründe für diese freiwillig-unfreiwillige Emanzipation von den Fördersystemen und dem Fernsehen?
Es musste ein Umdenken einsetzen, weil so viel produziert wird. In viele Filme kann das Fernsehen als Partner gar nicht einsteigen, es sind einfach zu viele Projekte oder sie passen nicht ins Format. Wir haben dieses Jahr acht lange Spielfilme im Programm und nur zwei sind mit Fernsehgeldern koproduziert. Viele Stoffe werden abgelehnt und trotzdem realisiert. Aus dieser Situation entstehen diese Filmfamilien, in denen jeder alles macht. Der eine macht Kamera, beim nächsten Mal macht er Regie und gleichzeitig Catering. So werden Filme auf die Beine gestellt, die durchaus einen professionellen Anspruch haben. Alles Unprofessionelle wird mit viel Lust und Laune überspielt. Dieses „Wir machen es trotzdem, auch ohne Geld“, setzt ungeheure Kreativität und Lust frei. Diesen Spaß und diese Frische sieht man den Filmen dann auch an.
Dadurch wird Eure Aufgabe letztendlich immer wichtiger. Je mehr produziert wird, desto mehr muss man ja kanalisieren…
Als Festivalmacher hat man die Möglichkeit, beim Publikum auch ein Formbewusstsein zu entwickeln, so dass sich Zuschauer auf Filme einlassen, die anders aussehen und erst einmal fremd sind. Wer bewusst und offen zu einem Festival geht und der Perspektive Deutsches Kino vertraut, freut sich auf Neues und Interessantes. Bei einem Überangebot an deutschen Filmen sind viele dankbar, dass es eine Reihe gibt, auf die man sich konzentrieren kann und die – wie in unserem Fall – einen ausgewählten Blick auf das Nachwuchskino wirft. Sicher erfinden wir das Rad nicht neu, aber wir versuchen, die Leute auch an andere Filmästhetiken heranzuführen und hoffen, dass sie diese in Zukunft dann auch suchen.
Gab es so etwas wie beherrschende Themen dieses Jahr?
Bei uns gibt es – genau wie bei den Berlinale Talents – eine „Space Discovery“ dieses Jahr. Das zeigt sich schon an vielen Filmtiteln im Programm: Freiräume, Ein idealer Ort, Der Bunker, HomeSick, Im Spinnwebhaus.
Ein starkes Formbewusstsein
Ihr sprecht von einem starken Formbewusstsein in diesem Jahr. Lässt sich das an der Inszenierung von Orten erkennen?
Ja. Zum Beispiel Freiräume von Fillippa Bauer ist ein Dokumentarfilm, in dem vier allein lebende Frauen erzählen, wie sie sich mit ihrem Leben in ihrer Wohnung eingerichtet haben seit ihr erwachsenes Kind ausgezogen ist. Die Kamera zeigt nur den Raum, diese Wohnungen und man hört die Stimmen aus dem Off. Im Kopf entwirft der Zuschauer dann alles Mögliche: wer das ist, wie die Mütter wohl aussehen und wodurch sie sich voneinander unterscheiden.
In Sag mir Mnemosyne, einem weiteren Dokumentarfilm, begibt sich die Filmemacherin Lisa Sperling auf die Suche nach ihrem Großonkel, der Kameramann war und den sie nie persönlich kennengelernt hat. Sie gleicht die Orte aus seinen Filmen mit ihren heutigen Aufnahmen ab: Auf der Leinwand wird das alte schwarz-weiße 4:3-Filmmaterial montiert mit den heutigen 16:9-Farbaufnahmen. Die Regisseurin hat Freunde des Großonkels befragt und daraus einen Text gemacht, der wie in einem Essayfilm über die Bilder gesprochen wird und vor dem inneren Auge des Zuschauers diese Person entstehen lässt.
Filme, die sich vom „Dokumentar-als-Spielfilm“-Muster entfernen, sind mir in diesem Jahr oft begegnet. Sprache:Sex von Saskia Walker und Ralf Hechelmann ist auch so einer. Der Film zeigt Interviewsituationen, in denen verschiedene Personen, auch ein Kind, über Sex reden. Mal längere, mal kürzere Abschnitte, die am Ende eine große Geschichte über Intimität ergeben.
Weil wir über Orte sprechen, die meistens sehr eng, sehr konzentriert sind: Es entsteht der Eindruck, dass auch die Geschichten, die erzählt werden, sehr fokussiert auf enge, familiäre Konstellationen sind. Täuscht das?
Nein, das ist schon richtig. Solange ich die Perspektive Deutsches Kino begleite, spielen viele Geschichten in familiären Konstellationen. Der politische Film mit großem gesamt-gesellschaftlichen Anspruch findet sich selten im Nachwuchsbereich, zumindest mit Blick auf den Spielfilm. Beim Dokumentarfilm schon eher, aber da bleibt die entscheidende Frage, ob die Filme dann Reportage-Charakter besitzen oder tatsächlich eine filmische Sprache gefunden haben. Auch in diesem Jahr fokussieren sich die Filme wieder sehr stark auf den familiären Rahmen – ob als Zweierbeziehungen, als brüderliche Verhältnisse oder als Ersatzfamilie wie im Spielfilm Elixir. In Elixir lebt und arbeitet eine Künstlergruppe zusammen in einem ehemaligen Fabrikgebäude. Sie geben sich gegenseitig Halt, unterstützen sich, visionieren und streiten auch - alles wie in einer richtigen Familie. Gleichzeitig zeigt gerade dieser Film, wie diese Konflikte nicht privat bleiben, sondern auch in einem kunstpolitischen Kontext stehen. Alle Figuren entsprechen realen Vorbildern: Künstlern des Surrealismus, die im heutigen Berlin wieder aufeinandertreffen.
Was gibt es noch zu den anderen Spielfilmen und ihren Produktionsbedingungen zu sagen?
Sibylle z.B. ist ein Film, der von Passanten Film mit dem BR koproduziert wurde, da konnte ein Teil sogar in Italien am Gardasee gedreht werden. Dort verbringt Sibylle mit ihrer Familie den Urlaub, wird Zeugin eines Selbstmordes und versinkt in der Folge mehr und mehr in Paranoia. Sibylle wird von Anne Ratte-Polle gespielt, die noch eine zweite titelgebende Rolle in unserem Programm verkörpert, in Wanja. Als Wanja wird sie nach jahrelanger Haft zurück ins Leben geworfen und versucht nun – fernab von Kriminalität und Drogensucht – einen Weg für sich zu finden. Die in Schweden geborene Regisseurin Carolina Hellsgård war mit ihren Kurzfilmen schon auf vielen internationalen Festivals zu sehen, Wanja ist ihr Debutfilm. Bube Stur von Moritz Krämer ist ein Film, der mit geringem Budget von der Deutschen Film- und Fernsehakademie und der Filmuniversität Babelsberg koproduziert wurde. Eine junge Frau kommt zum Arbeiten auf einen Hof im Hochschwarzwald. Nach und nach erschließt sich, dass sie noch ein anderes Motiv besitzt. Der Film konzentriert sich ganz auf diese Figur und den Hof. Trotzdem ist das ein Film, der rausgeht in die Landschaft und den Ort erkundet. Es ist wichtig, wie weit es bis zum Supermarkt ist, ob man mit dem Fahrrad oder dem Moped fährt, wo sich die Dorfjugend trifft und wie die Spielplätze sind. Das spielt alles eine Rolle. Sie sind draußen, aber sie waren nur an dem einen Ort…
Sehr konzentriert auf den Spielort scheint auch Der Bunker von Nikias Chryssos zu sein, der Film klingt nicht besonders realistisch…
Das trifft es. Er ist skurril und löst auch ein bisschen Angst aus: An sich werden ganz normale, vertraute Situationen erzählt. Das einzige, was auf den ersten Blick aus dem Rahmen fällt, ist der Sohn der Familie, der ein Kind ist, aber von einem erwachsenen Schauspieler gespielt wird. Das erzeugt irgendwie Angst. Der Bunker verhandelt Themen wie Erziehung und überzogene Erwartungshaltungen gegenüber Kindern und versetzt den Zuschauer in ein unheimliches Szenario. Ein sehr interessanter Film.
Ist Der Bunker einer jener Filme, die Du als Cross-Genre bezeichnet hast?
Ja. Viele junge deutsche Filmemacher entdecken gerade das Genre für sich. Sie wollen bewährte Muster ausprobieren und mit alten und neuen Motiven kombinieren. Verschiedene Einflüsse werden zu neuen Formen synthetisiert und werden zu einem Cross-Genre. Davon habe ich dieses Jahr viele Filme gesehen und auch einige ins Programm genommen: HomeSick, Sibylle, Der Bunker, auch Im Spinnwebhaus. Letztes Jahr hatten wir die Midnight-Movies, die durch ihren Programmplatz um 23 Uhr ein bisschen herausgehoben waren. Dieses Jahr wollte ich sie ganz normal ins Programm aufnehmen, kein Special Interest... Und plötzlich hatte ich zu viele lange Filme, was mich auf die Idee brachte, unser Schema aufzubrechen und an drei Abenden zwei Premieren zu fahren - um 19:30 und um 20:30 Uhr.
In den letzten Jahren habt Ihr nicht nur Filme gezeigt, sondern auch viel über das Programm diskutiert. Setzt Ihr Eure Gesprächsveranstaltungen 2015 fort?
Ja. „Made in Germany – Reden über Film“ wird mit der Unterstützung von Glashütte Original in der Homebase Lounge fortgesetzt. Wir beschränken uns auf zwei Veranstaltungen, eine fragt nach dem „Freiraum Low Budget“, die andere widmet sich dem „Schutzraum Hochschule“. Auch das Panel mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk wird es wieder geben: zu den Arbeitsbedingungen von Frauen und der Frage nach der Notwendigkeit einer Frauenquote bei der Vergabe von Fördergeldern und Regieaufträgen, eine Diskussion, die momentan in Deutschland verstärkt geführt wird und auch die Initiative „Pro Quote Regie“ sehr präsent gemacht hat. In Frankreich ist das auch ein Thema und die Quoten-Befürworter in Deutschland berufen sich zudem auf eine Gruppe französischer Regisseurinnen. Im Dialog lassen sich Positionen gut abgleichen.