2015 | Generation
Hermetisch abgeriegelt
Die Kinder- und Jugendsektion Generation zeigte 2015 66 Filme aus 35 Ländern. Trotz der immensen formalen und inhaltlichen Bandbreite zogen sich Schwerpunkte durch das Programm. Im Interview spricht die Leiterin Maryanne Redpath über den Mut und die Stärke der jungen Protagonisten, über hermetische Welten und buddhistische Weisheiten.
In der Pressemitteilung zum diesjährigen Programm ist von Protagonisten zu lesen, auf deren Schultern zu viel Last liegt. Protagonisten, die nicht Kind sein dürfen, weil sie eine zu schwere Verantwortung zu tragen haben. Wie halten die Kinder und Jugendlichen das aus und welche Wege finden sie, sich aus ihren Situationen zu befreien?
Ich habe mich in diesem Jahr auch bei so manchem Film gefragt: „Wie schaffen die das?“. In fast allen Filmen wollen die jungen Protagonisten etwas verändern in ihrem Leben oder an ihrer Umgebung und nehmen dafür einiges auf sich. In Mina Walking, einer in den Straßen von Kabul gedrehten kanadisch-afghanischen Produktion, trägt die 15-jährige Mina die ganze Last der Welt auf ihren Schultern: ihr Vater ist Junkie, ihre Mutter ist von den Taliban getötet worden, der Opa ist dement, das Haus vom Krieg zerstört. Mina muss sich um alles kümmern und ist dabei unglaublich tapfer, energisch und stark. Sie lässt sich nicht unterkriegen von den Umständen, ihrer Familie, den Erwartungen an sie als Frau. Es ist ein Wunder, dass sie nicht den Mut verliert. Aber sie hat keine Wahl und findet die Kraft letztlich in sich selbst. So lehnt sie eine Hochzeit in die Provinz, die ihrer Familie Geld einbringen würde, vehement ab und trifft stattdessen für sich die Entscheidung, eine Burka zu kaufen, um in der Stadt betteln zu gehen. Diese harte, eigene Entscheidung ist ihr Ausweg.
Auch im Kplus-Programm finden sich diese starken, für sich selbst verantwortlichen Kinder. Nebesnyj Verbljud (Das himmlische Kamel) aus Russland spielt in der kalmückischen Steppe. Eine Kamelmutter ist entlaufen, um ihr Fohlen zu suchen, das verkauft wurde. Der zwölfjährige Bayir macht sich auf einem viel zu großen Motorrad alleine auf, um die Kamelmutter, von der die Existenz der Hirtenfamilie abhängt, zurückzuholen. Bayir nimmt diese Verantwortung auf sich und erlebt ein Abenteuer nach dem anderen.
Min lilla syster (Stella) ist ein Kplus-Film für Zuschauer ab 12 Jahren in dem es um eine Schwesternbeziehung geht. Als die kleinere die Essstörung ihrer großen Schwester bemerkt und sie damit konfrontiert, verbietet die ältere ihr, den Eltern das „gemeinsame Geheimnis“ zu verraten. Auch das ist eine große Verantwortung. Doch die Kleine reagiert sehr sensibel und geht mit der Situation am Ende besser um als ihre hilflosen Eltern.
Die verschiedenen Wege, welche die Protagonisten finden, sich ihren Problemen zu stellen, sind schon sehr beeindruckend. Aber ich sehe es auch durchaus kritisch: Wenn Kinder nicht mehr Kind sein dürfen, ist das immer fatal.
Gibt es auch Filmbeispiele, in denen die Kinder an ihrer Last scheitern?
Eigentlich nicht, wobei das natürlich relativ ist. Mit einer Burka betteln zu gehen, ist natürlich nicht wirklich ein Ausweg. Mina Walking endet nicht mit einem netten Happy End, sondern bleibt sehr offenen und birgt damit die Möglichkeit zur Veränderung. Als Erwachsener ist man geneigt zu sagen, das ist zu heftig, das kann man einem so jungen Publikum nicht zumuten. Aber ich bin mir sicher, dass unsere Zuschauer die Hoffnung spüren werden, für die es über den Film hinweg immer wieder Anhaltspunkte gibt.
Wird der Inhalt auch formal vermittelt?
Ja, auf jeden Fall. In Cloro (Chlorine) aus Italien zum Beispiel, der durch wahnsinnig atmosphärische, lichtdurchflutete Unterwasserbilder einen starken Kontrast zur tristen, grauen, feuchten Abgelegenheit einer Hütte inmitten eines verlassenen Skigebietes schafft. Und so transportieren die Bilder die Gefühle der 17-jährigen Protagonistin, die mit ihrem depressiven Vater und ihrem kleinen Bruder von der italienischen Küste in die Berge gezogen ist und ihre alte Heimat, ihre Freunde und das Synchronschwimmen vermisst.
The Diary of a Teenage Girl ist ein US-amerikanischer Independentfilm, in dem die 15-jährige Minnie ihre Sexualität entdeckt, viel ausprobiert, experimentiert, an ihre Grenzen geht. Ihre Wünsche und Probleme schreibt sie in ein Tagebuch. Und diese Tagebucheinträge werden in Comicsequenzen animiert.
Und auch die vielen Kurzfilme im diesjährigen Programm sind formal sehr stark. Bloodlines ist ein US-amerikanischer Kurzfilm, in dem zwei Brüder um die Anerkennung ihres strengen Vaters kämpfen. Der Film kommt ganz ohne Dialog aus und so wird die Härte und der raue Umgang über stumme Blicke erzählt. In #Ya (#Rise) geht es um die Revolte junger Menschen in Argentinien – sie werfen Steine, beschmieren Wände, rennen weg. Durch den wahnsinnig schnellen Schnitt transportiert der Film ein Lebensgefühl. Und im Kplus-Programm zeigen wir Kacey Mottet Klein, Naissance d’un acteur (Kacey Mottet Klein, Anfänge eines Schauspielers) von Ursula Meier, deren Film L'enfant d'en haut (Sister) 2012 im Wettbewerb lief. In ihrem diesjährigen Kurzfilm kommentiert der junge Schauspieler Kacey Mottet Klein, der auch schon in L'enfant d'en haut mitgespielt hat - Filmausschnitte und spricht über sein Spiel, seine Erfahrung und Entwicklung beim Dreh. Er wird zusammen mit Ursula Meier zur Premiere kommen und ich freue mich sehr darauf, sie kennenzulernen. Der Dokumentarfilm The Face of Ukraine: Casting Okana Baiul (Das Gesicht der Ukraine: Casting Oksana Bajul) begleitet wiederum Mädchen bei einem Filmcasting für die Rolle einer ukrainischen Eiskunstläuferin, die Mitte der 1990er Jahre das erste olympische Gold für die Ukraine gewonnen hat und eine Nationalheldin ist. Ein Mädchen nach dem anderen tritt vor die fest installierte Kamera und beantwortet die Fragen der Caster aus dem Off. Die Mädchen werden zum Teil sehr emotional, einige fangen an zu weinen, denn die Fragen lassen sich auch auf die aktuelle Situation in der Ukraine beziehen.
Hermetische Welten
Auffällig ist, wie viele Filme auf dem Land spielen: die Wüste Gobi, ein Wald in Nord-Schweden, das Hochland Guatemalas.
Es geht um hermetisch abgeriegelte Welten. Flocken spielt in einer Dorfgemeinschaft im Norden Schwedens. Eigentlich eine ländliche Idylle mit Wäldern, Tälern und Bergen, aber was in dieser abgelegenen Gemeinschaft passiert, ist sehr dramatisch. Ein 17-jähriges Mädchen wird von einem Schulkameraden vergewaltigt. Als sie ihre Vorwürfe äußert, will die Gemeinschaft nicht wahrhaben, dass so etwas bei ihnen passieren kann. Selbst der Priester wirft ihr vor, die Gemeinde zu verunglimpfen. Die Situation spitzt sich immer weiter zu, es kommt zu gewalttätigen Übergriffen auf sie und ihre Familie. Die Abgeschlossenheit und Enge ist deutlich spürbar und der vermeintliche Zusammenhalt wird zur Bedrohung. In anderen Filmen ist es weniger dramatisch. Katelijne wächst in Dorsvloer vol Confetti (Konfetti Ernte) in einer streng-christlichen Gemeinde in den Niederlanden auf. Sie fühlt sich wie viele Mädchen in ihrem Alter, entdeckt ihren Körper, will Musik hören, mit ihren Freunden rumhängen - alles Teufelswerk für ihre Familie und die Kirche. Katelijne liebt ihre Eltern und schafft es schließlich doch, sich Schritt für Schritt von ihnen zu lösen. Und nicht zuletzt One & Two, ein US-amerikanischer Independentfilm, in dem ein Geschwisterpaar mit übernatürlichen Fähigkeiten mit seinen Eltern auf dem Land lebt, abgeriegelt von der Außenwelt durch eine riesige Mauer. Die Umgebungen sind nicht immer nur physischer Natur, sondern auch digital: In Wonderful World End kommunizieren die beiden japanischen Mädchen allein über Smartphones oder Chats.
Entsteht der Drang nach Veränderung also erst durch die Begrenzung?
In einigen Filmen sieht man tatsächlich ganz deutlich, wie die Begrenzung Handlungsdrang und Energien bei den Protagonisten freisetzt. Aber es hängt sehr von der zu tragenden Last ab. In vielen Fällen geht es nicht in erster Linie um einen Befreiungsschlag, sondern darum, mit den Umständen zurechtzukommen. La casa más grande del mundo (The Greatest House in the World) aus Guatemala erzählt einen Tag im Leben des kleinen Maja-Mädchens Rocío. Sie ist höchstens sieben Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter und ihrer Oma in den Anden, ganz hoch in den Bergen. Jeden Tag muss die Schafherde zum Weiden getrieben werden. Doch Rocíos Mutter ist schwanger und als die Wehen einsetzen, muss sich die Kleine alleine um die Schafe kümmern und sich ihren Ängsten stellen. Und sie schafft es! Als sie abends endlich zurück nach Hause kommt, möchte sie ihrer Mutter von ihrem Tag erzählen. Doch die ist mit dem Neugeborenen beschäftigt.
Es geht also weniger um einen Ausbruch - Rocío wüsste wahrscheinlich gar nicht wohin, sie kennt ja nichts anderes - als darum, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Ähnlich wie bei den kleinen Mönche in Golden Kingdom (Goldenes Königreich) von Brian Perkins, gedreht in einem Kloster in Myanmar, die auf sich allein gestellt sind, nachdem ihr Lehrer eines Tages weg musste.
Buddhismus in Kplus und die Entdeckung der eigenen Sexualität in 14plus
Religion scheint in diesem Jahr ein großes Thema zu sein. Gerade die christliche Religion hast Du in den erwähnten Filmen als zu enges Korsett beschrieben. Welche Facetten finden sich noch im Programm?
Wirklich bemerkenswert ist, dass im Wettbewerb Kplus fünf Filme laufen, die sich mal vorder-, mal hintergründiger mit dem Buddhismus beschäftigen. Neben den kleinen Mönchen aus Myanmar ist da der tailändische Dokumentarfilm A-wang (Es ist wie es ist) über zwei Jungs, die sich entscheiden, ins Kloster zu gehen. Der eine, um einen Ausweg aus der Armut zu finden, der andere, weil er sich wirklich für die Religion interessiert und Lehrling eines großen Mönchs werden möchte. Gtsngbo (Fluss) ist ein inhaltlich sehr fundierter Film über den tibetischen Buddhismus, in dem ein fünf-jähriges Mädchen ihren Opa kennenlernt, der ein Lama ist und in einer Höhle lebt. In dem bereits erwähnten Celestial Camel ist der buddhistische Glaube Teil des alltäglichen Lebens und in Jia Zai Shui Cao Feng Mao De Di Fang (Der Weg zum Fluss) eine vom Aussterben bedrohte traditionelle Lebensweise der Uiguren. In allen fünf Fällen werden zwar auch die weniger rosigen Seiten der Religion berührt, doch die Darstellung ist insgesamt eher positiv. Allerdings nicht westlich-esoterisch, sondern sehr fundiert und mit tollen Weisheiten, die auch ein junges Publikum in sich aufnehmen wird.
In dem indischen Roadmovie Dhanak (Regenbogen) spielt wiederum der Hinduismus eine Rolle mit Musik, Ghurus und Karma aber auch in Form von Scharlatanen, vor denen sich Pari, die ihrem blinden Bruder helfen möchte, in Acht nehmen muss. Auf einer Werbetafel verspricht Bollywood-Star Shah Rukh Khan „neue Augen“ und so machen sich die beiden auf, ihn zu finden.
Wie immer spielt die Entdeckung der eigenen Sexualität eine große Rolle in vielen 14plus-Filmen. Kannst Du über die Jahre eine Entwicklung dieses Themas feststellen?
Das ist von Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich. Und auch dieses Mal haben wir die unterschiedlichsten Facetten des Themas. Mal geht es um ein Gefühl von Frühlingserwachen wie in The Diary of a Teenage Girl oder Nena (Viel mehr geht nicht), einer niederländisch-deutschen Koproduktion mit Shooting Star Abbey Hoes und Uwe Ochsenknecht, der ihren querschnittsgelähmten Vater spielt und in dem die Aufregungen der ersten Liebe eher in der Nebenhandlung erzählt wird. Mal geht es um Gender, wie in der angedeutet lesbischen Liebe in Wonderful World End. Der Eröffnungsfilm Prins (Prince) aus den Niederlanden, in dem der Protagonist alles versucht, um bei einem Mädchen Eindruck zu schinden und der italienische Film Short Skin, in dem es um eine zu enge Vorhaut geht, sind beide sehr unterhaltsam, gehen dabei aber in die Tiefe und zeichnen ein interessantes Bild vom Verhältnis zwischen den Protagonisten und ihren Müttern. Und dieses Jahr haben wir einige sehr liebenswerte Nerds, die sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht eher tollpatschig anstellen.
El Gurí (The Kid) aus Argentinien ist da eher untypisch für einen 14plus-Film. Es geht nicht um Sex, jedenfalls nicht direkt, und die Hauptfigur ist erst zehn Jahre alt. Hier finde ich die perspektivische Mischung sehr interessant, die sich aus dem Figurenensemble und der Art, wie die Geheimnisse der Erwachsenen langsam ans Licht kommen, ergibt. Ein Film, der für Zuschauer jeden Alters sehr interessant ist.
In beiden Wettbewerben finden sich mehrere Filme, die in der Vergangenheit angesiedelt sind. Welcher Einfluss auf die Geschichten und die Stilistik gehen damit einher?
Ich mag keine reinen Ausstattungs- und Kostümfilme und die meisten Filme sind sehr im Jetzt verankert. Doch es gibt tatsächlich mehrere Filme, in denen der zeitliche Rahmen eine dramaturgische Rolle spielt. Corbo basiert auf historischen Ereignissen. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der sich in den 1960er Jahren in Québec in Kanada einer gewalttätigen, politischen Bewegung anschließt, die für die Unabhängigkeit kämpft. Kar Korsanları (Schneepiraten) spielt zu Zeiten der türkischen Militärdiktatur in den 1980er Jahren. Eine Gruppe Jungs macht sich im Schnee auf die Suche nach Kohleresten. Das Politische bildet die Klammer des Films und der Regisseur Faruk Hacıhafızoğlu möchte in den Q&As auch ein Brücke nach Deutschland und zu den jungen Kohleklauern nach dem Zweiten Weltkrieg schlagen. Im Fall von The Diary of a Teenage Girl vermittelt das historische Setting ein Lebensgefühl: die wilden 1970er Jahre in San Francisco mit Sex, Drugs and Rock’n‘Roll. Die ältere Generation ist so liberal, dass das Mädchen selbst keinen Halt findet, immer weiter geht und auch Dinge tut, die sie später bereut. Einen Film, den ich in diesem Zusammenhang unbedingt noch erwähnen möchte, ist der Dokumentarfilm Coming of Age. Über zwei Jahre begleitet er vier Jugendliche, die im Hochland Lesothos leben, auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben. Dabei geht es viel um Rituale und ich habe darüber nachgedacht, wie wichtig solche Markierungen für junge Menschen seien können, um den Prozess des Erwachsenwerdens bewusst wahrnehmen zu können. Zu wenige Grenzen und zu viele Möglichkeiten können auch Gefahren bergen.
Das Festival und auch der European Film Market öffnen sich in diesem Jahr verstärkt seriellen Formaten. Und auch Generation präsentiert zum ersten Mal eine Serie…
Wir zeigen die ersten fünf Folgen der dänischen Serie Heartless. Ein toller Abschluss am Berlinale Publikumstag. In einer weiteren Sondervorführung läuft That Sugar Film, ein Dokumentarfilm im Stil von Supersize Me, der humorvoll über die Folgen des Zuckerkonsums aufklärt. Den zeigen wir auch am Publikumstag in Kooperation mit dem Kulinarischen Kino.