2017 | Panorama
Getting Away With It
Mit 51 Filmen aus 43 Ländern zeigt das Panorama 2017 eine globale kinematographische Gesamtschau. Im Interview spricht Kurator Wieland Speck über das Geschichtsbewusstsein in vielen Filmen des diesjährigen Programms, Pararealitäten von ISIS bis Trump und die verschwundene Leichtigkeit des Erzählens.
Mir scheinen 2017 viele Filme den Blick auf die Erinnerung bzw. den Akt des Erinnerns zu richten. Istiyad Ashbah (Ghost Hunting), Tania Libre, El Pacto de Adriana, Casting JonBenet, um nur einige zu nennen…
In diesen Filmen treten die Filmemacher einen Schritt zurück und schauen genauer hin. Das ergibt tatsächlich einen roten Faden im Programm. Viele Filme zeigen die Scheußlichkeiten der Vergangenheit. Auch der US-amerikanische Film Bones of Contention von Andrea Weiss, der sich auf die Suche nach den verschollenen Gebeinen des hingerichteten Schriftstellers Federico García Lorca begibt und die verschüttete und auch bewusst verdrängte Vergangenheit Spaniens findet.
Sind die Mechanismen der Verdrängung vergleichbar?
Ich glaube ja. Wir leben in einem Land, das glücklicherweise sehr viel Erfahrung mit dem Erinnern hat, auch wenn es „von außen“ angetrieben werden musste. Die 68er-Generation zwang die Gesellschaft, Farbe zu bekennen. Vorher hat sie versucht, sich durchzumogeln. Der Erfolg, den die Welt heute in dieser deutschen Vergangenheitsbewältigung sieht, war ein langer Weg.
In Ländern wie Spanien ist die Faschistenzeit noch nicht so lange her, genau wie in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Es waren überall sehr ähnliche Mechanismen am Werk, was auch dem spanischen Kulturkreis geschuldet ist. Der Junta-Gedanke und die Massenmorde wurden in die Neue Welt erst importiert. Das bringt Bones of Contention sehr gut auf den Punkt.
In Tania Libre begleitet die Regisseurin Lynn Hershman Leeson die kubanische Künstlerin Tania Bruguera zu ihren Traumatherapie-Sitzungen, die notwendig wurden, weil Bruguera acht Monate in ihrem Heimatland als Dissidentin interniert war. Fidel Castro wurde ja anlässlich seines Todes von Links reichlich verklärt, hier lässt sich das noch einmal mit der politischen Realität abgleichen.
El Pacto de Adriana ist eine sehr persönliche Aufarbeitung eines Willkürsystems. Adriana ist die Lieblingstante der Regisseurin Lissette Orozco. Während eines Familienbesuchs entsteht der Verdacht, dass sie für Pinochets Geheimpolizei DNA aktiv war. Die Tante mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren kostet sehr viel Mut. Der Film ist gegen alle Widerstände entstanden. Es sind oft Einzelpersonen, die sich um die verdrängte Vergangenheit kümmern, weil es die Gesellschaft als Ganzes nicht leistet.
Ein weiterer starker Film, der sich mit dem (falschen) Erinnern beschäftigt, ist Casting JonBenet von Kitty Green. Er beschäftigt sich mit dem medial zum Spektakel aufgeblasenen und nie geklärten Mord an der sechsjährigen Schönheitskönigin JonBenét Ramsey. Trotz des Labels Dokumentarfilm driftet der Film ins Fiktionale…
Das Fiktionale ist die Bandbreite der Erinnerung, die nie richtig funktioniert. Vieles, an das man sich zu erinnern glaubt, stimmt so nicht. Und das liegt nicht daran, dass so viel gelogen wird. Das Gehirn arbeitet einfach anders, als wir das gerne hätten, wenn wir uns Geschichte vorstellen. Casting JonBenet zeigt viele Individuen mit vielen unterschiedlichen Erinnerungen an dasselbe Ereignis. Der Film evoziert eine gemeinsame Erinnerung, auch wenn es zum Zeitpunkt des Mordes wenig Gemeinsamkeit unter diesen Leuten gab. Obwohl sie zumindest mittelbar dabei waren. Green veranstaltet Probeaufnahmen mit allen Menschen, die damals im selben Ort lebten und lässt sie ihre Wahrheiten aussprechen. Mit dieser Methode kommt sie der Wahrheit näher, weil viele Köpfe sich damit befassen müssen. Eine Taktik wie die Familienaufstellung, die versucht an Verschüttetes, Verdecktes und Verleugnetes zu kommen. In der Schlussszene zeigt jede Figur in einer gemeinsamen Szene, was sie als Wahrheit gefunden hat.
Die Technik der körperlichen Reinszenierung und Wiederholung nutzt auch Raed Andoni in Istiyad Ashbah (Ghost Hunting), um den Traumata palästinensischer ehemaliger Gefangener eines israelischen Gefängnisses auf die Spur zu kommen – und seinen eigenen verdrängten Erinnerungen.
No Intenso Agora (In the Intense Now) wirkt formal sehr experimentell. Welche Zeit- und Bildebenen verwebt der Film ineinander?
No Intenso Agora ist ein Essayfilm, was wir im Panorama immer schon mochten. Die Form eröffnet die Möglichkeit, künstlerisch-gestalterisch eine Weltsicht zu erzeugen, ohne Identifikationsangebote streuen zu müssen. Der Film geht von einer Familiengeschichte der 1960er Jahre aus. Der brasilianische Regisseur João Moreira Salles wurde durch wiedergefundenes Bildmaterial inspiriert, das seine Mutter ohne jeglichen politischen Anspruch 1966 in China gedreht hat. Salles bringt es in einen politischen Kontext, stellt es dem 68er Paris gegenüber, wo die Familie teilweise lebte, um dann auf den zeitgleichen Aufstand in Rio de Janeiro zu verweisen. Es gibt auch viele Hinweise auf Berlin, Daniel Cohn-Bendit bildet die Brücke. Der Prager Frühling ist ein weiterer Komplex, der eingearbeitet wird. Damals eine grundlegende Erfahrung, die viele Menschen gerade in meiner Generation politisiert hat. Durch die Verknüpfung mit dem Prager Frühling und dem 68er Paris ist No Intenso Agora auch ein hervorragender Beitrag zu unserem 2017er Schwerpunkt „Europa Europa“. In vielen Filmen des diesjährigen Programms kann man verfolgen, wo wir herkommen und wo es hingehen könnte.
Die Fallstricke der Realität
Was meinst Du damit genau?
Beispielsweise die Aufstände und die Ansätze von linken Bewegungen damals zeigen bereits alle Elemente, die jetzt von den Rechten genutzt werden. Die Chuzpe auf die Straße zu gehen und Dinge laut einzufordern ist eine linke Chuzpe. Die Rechten haben das übernommen und zur Überschrift des Zeitgeistes gemacht: „To get away with it“ - Behauptungen aufstellen und damit durchkommen. Sie glauben Lügen sei nicht schlimm, wenn man damit durchkommt. Die Wirklichkeit hat sich inzwischen in eine Pararealität verabschiedet. Donald Trump wird zum wichtigsten Mann der Welt und das kann einfach nicht richtig wahr sein. Eine große intellektuelle Schicht befindet sich in einer Verleugnungshaltung und will es nicht glauben. Trump ist ein Meister des Damit-Durchkommens. Er nutzt einen ganz primitiven Effekt, der viele Stimmen bringt. Denn das ist es, was viele sich eigentlich wünschen: damit durchkommen bei Rot über die Ampel zu rasen usw.
Das spiegelt sich auch in Tiger Girl von Jakob Lass auf eine ganz interessante Weise. Eine junge Frau will Polizistin werden, scheitert aber an der Aufnahmeprüfung. Also zieht es sie ins Security-Gewerbe. Sie trifft auf eine junge Frau, bei der man nicht genau weiß, ob sie Punk oder Nazi ist. Ihre Anarchie befreit die verhinderte Polizeianwärterin. Tabus werden gebrochen, Schwellen überschritten. Die Dynamik zwischen den Beiden driftet nach einem Höhepunkt in die falsche Richtung und die Wilde entdeckt ihre Moral. Eine totale Rollenumkehr, die die Freundschaft zerstört. Ein interessantes Experiment. Eine Emanzipation die zu etwas ganz Entsetzlichem führt. Vergleichbar den Schwellen, die ISIS-Kämpfer überschreiten. Die sponti-linke Forderung nach Enthemmung wird im Ergebnis pervertiert.
Tahqiq fel djenna (Investigating Paradise) von Merzak Allouache untersucht die Pararealität fundamentalistischer Islamisten unmittelbar… Ausgangspunkt sind You-Tube-Videos von eher scheinheiligen Predigten…
In Algerien sind die Menschen so fassungslos wie bei uns, wenn sie diese Predigten sehen - eine gute Lehrstunde für alle, die den Islam als Ganzes verteufeln. Im Film zieht eine junge Journalistin los und will wissen, was die männliche Welt für ein Bild vom Paradies hat. Sie findet 17-jährige, die die Idiotien aus den Videos nachplappern und tatsächlich überzeugt sind, dass der Märtyrertod eine gute Strategie ist, um möglichst schnell an Wein und Weiber zu kommen. Eine totale Katastrophe.
Und relativ absurd. Ist diese Naivität nicht lächerlich?
Manchmal, aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Es ist absolut absurd. Im Prinzip hängen sie tatsächlich dem gleichen Lügen nach, das Trump zum amerikanischen Präsidenten gemacht hat. Darüber kann man eigentlich auch nur lachen, aber nicht aus Spaß. Das Postfaktische hat die Wirklichkeit aufgelöst. Fakten werden Alternativfakten gegenüber gestellt, Realität und Wirklichkeit werden zwei Paar Schuhe. Das erleben wir im Moment. Wir leben in einer Zeit, die nicht wissen will, was ist, sondern nur das möchte, was sich gerade durchsetzt. „Getting Away With It“. Ganz primitiv.
Ein weiterer Film, der vom Verschwinden der Realität auf mehreren Ebenen erzählt, ist Kaygı (Inflame) von Ceylan Özgün Özçelik. Das Thema ist besonders heikel, weil der Film in der Türkei spielt, wo die Realität gerade durch das Wollen der Regierung ersetzt wird…
Kaygı folgt dezidiert einer ausgebooteten und zensierten türkischen Journalistin. Nach ihrer Entlassung driftet sie in den Wahnsinn, der allerdings durch ein Trauma ausgelöst wird – das des verheimlichten gewaltsamen Todes ihrer Eltern. Auch hier kehrt die Vergangenheit massiv wieder. Die Verschwundenen verschwinden nicht. Wie wir es schon mit Blick auf Lateinamerika oder Spanien gesehen haben.
Als Möglichkeit der Auflösung der Realität mit den Mitteln des Kinos entgegenzuwirken empfand ich beispielhaft God’s Own Country von Francis Lee. Ein Film der sehr genau hinschaut…
Ein Erstlingsfilm, der ganz klassisch inszeniert ist. Er zeigt die verkorkste Gefühlswelt, die wir alle aus der Familie mitbringen – und die Möglichkeit auszubrechen. Ein junger Bauer lebt auf einem alten Bauernhof mit Schafzucht, den er allein bewirtschaften muss, weil sein Vater nicht mehr kann. Er holt sich Hilfe - einen rumänischen Wanderarbeiter - der in Rumänien selbst Bauer war. Die beiden entdecken ihre Leidenschaft füreinander, aber der Yorkshire-Bauer traut sich nicht, darin seine Zukunft zu sehen. Der Rumäne haut ab und verdingt sich auf einem modernen Hof in einer komplett denaturierten Art der Landwirtschaft. Bis dahin geht Brokeback Mountain - aber God's Own Country geht darüber hinaus.
Schwarze Geschichte
Einen weiteren Schwerpunkt im Programm bildet die schwarze Geschichte. Einen historischen Blick öffnet Vazante von Daniela Thomas. Wie wichtig ist es, auch bei diesem Thema geschichtsbewusst zu arbeiten?
Vazante erzählt von der Sklaverei in Brasilien und so von einem wesentlichen Teil schwarzer Geschichte und der Geschichte Brasiliens, auch wenn der Film mitunter die weißen Figuren im Fokus hat. Ein unfassbarer Raubbau, den die Welt mit schwarzen Menschen betrieben hat. Ein zweiter Film zu diesem Thema ist Joaquim von Marcelo Gomes im Wettbewerb, auch aus Brasilien. Brasilien hat als letztes Land, erst 1888, die Sklaverei abgeschafft. Der Film macht intensiv erfahrbar, was Sklaverei heißt und wie sie funktionierte. Man sieht schwarze Menschen in Ketten, die sich untereinander kaum unterhalten können, weil sie aus ganz verschiedenen Ecken der Welt verschleppt wurden und keine gemeinsame Sprache haben. Auch mit den Sklavenhaltern kann keine Kommunikation zustande kommen. Der Minenbau zu Babel, wenn man so will, weil Vazante vor dem Hintergrund des Rohstoffabbaus spielt – der Ort des Geschehens heißt heute noch Minas Gerais.
I Am Not Your Negro von Raoul Peck zeigt eine der Schlüsselfiguren der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen der 1950er und 60er Jahre: den afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin. Schafft es der Film, die Brillanz seiner Worte in die Bilder zu bringen?
James Baldwins Worte entfalten im Film eine unheimliche Kraft - ein brillanter New Yorker Denker, Redner und Schriftsteller. Eine emanzipierte schwarze Figur aus den 1950ern, Wortführer und offensichtlich schwul, was ihre Gesamtdimension direkt noch einmal verdoppelt. Dieser Film ist eine großartige Kulturstudie.
Mit Strong Island kommt das diesjährige Programm dann im zeitgenössischen schwarzen Amerika an und dem in die Kultur eingeschriebenen Rassismus. Der Regisseur Yance Ford versucht die Hintergründe des Todes seines Bruders zu recherchieren – und trifft auf eine Wand des Schweigens. Der Film erzählt Geschichte im Kleinen aber in großer Vision, macht deutlich, warum so viele schwarze Männer nicht mal das mittlere Alter erreichen - weil sie erschossen werden.
Die Geschichte von Berlin
Berlin und vor allem Berliner Geschichte ist ebenfalls stark im Programm vertreten. Neben den beiden Elektronik-Musikdokumentationen Denk ich an Deutschland in der Nacht und Revolution of Sound. Tangerine Dream zeigt Jochen Hick die Erinnerung an seine Stadt in Mein wunderbares West-Berlin…
Ein Komplementärfilm zu seinem Out in Ost-Berlin - Lesben und Schwule in der DDR von 2013. Mit Mein wunderbares West-Berlin blickt Hick auf die Anfänge der Schwulenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren. Er betrachtet das aus der Aufbruchszeit heraus, vor den 80ern. Ein sehr schöner Ansatz... Die Stadt wird von Vielen als heute aufregender als vor dem Mauerfall beschrieben. In meinen Augen ist sie eher gewöhnlicher geworden, in West und Ost.
Allerdings trägt das typische Berliner Glücksversprechen heute noch. Underground-Helden wie Bruce LaBruce (The Misandrists) und Shu-Lea Cheang (Fluidø) kommen nach Berlin, um hier ihre wildesten Filme zu drehen und wir zeigen sie. Oder Berlin Syndrome von Cate Shortland - hier zieht es eine junge australische Backpackerin auf der Suche nach Glück und sexueller Befreiung in die Stadt. Ihre Hoffnungen enden allerdings in einem Albtraum.
Das bringt mich zu meiner letzten Frage: Monika Treut erhält 2017 den Special-TEDDY-Award. In ihrem Film Die Jungfrauenmaschine von 1988, den Ihr zu diesem Anlass zeigt, bricht eine naive Journalistin nach Amerika auf, wo ihr Susie Sexpert über Minuten ihre immense Dildosammlung zeigt. Gibt es diese erzählerische Leichtigkeit heute noch?
Nein, das ist ein Phänomen der 1980er und ist in dieser Form nicht mehr zu finden. Die Professionalisierung hat uns sehr beschränkt.