2020 | Perspektive Deutsches Kino
Heimatfilm und Heimathorror
Das Programm der diesjährigen Perspektive Deutsches Kino präsentiert sich visuell und formal vielfältig. Ein thematischer Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit Heimat. Sektionsleiterin Linda Söffker über Identitätssuche in schnelllebigen Zeiten, herausragende Dokumentarfilme und Frauen, die die Geschicke der Welt bewegen.
Wie seid Ihr auf Euren diesjährigen Themenschwerpunkt „Heimat“ gekommen, war das Thema von Anfang an da?
Wenn wir das Programm zusammenstellen, haben wir noch kein Thema im Kopf. Es ist eher so, dass uns beim Sichten Dinge auffallen, etwa, dass sich bestimmte Motive wiederholen. Als ich Schlaf von Michael Venus gesehen habe, kam mir die Idee. Der Film wirkt wie ein Heimatfilm, ist aber auf gewisse Weise eine Antithese dazu. Obwohl Schlaf in der Gegenwart spielt, suggeriert er, dass wir uns in den 1950er Jahren befinden. In dem einsamen Waldhotel, in dem der Großteil der Handlung spielt, sieht es aus, als wäre die Zeit stehengeblieben. Und aus diesem Heimatfilm-Setting heraus entwickelt sich dann eine Horrorgeschichte. Sandra Hüller verkörpert eine Mutter, die aufgrund schwerer Traumata immer wieder von furchtbaren Alpträumen heimgesucht wird. Die Träume ziehen sie dermaßen in einen Sog, dass sie fast verrückt wird. Schlaf ist ein Heimatfilm, der im Heute spielt und der viel über unser Land und unsere Vergangenheit erzählt. Beim Blick auf unser Programm ist mir dann aufgefallen, dass jeder Film irgendwie ein Heimatfilm ist - wenn man Heimat als Identität definiert. Heimatfilm ist natürlich nicht im Sinne des Verklärungskinos der 1950er Jahre gemeint, sondern als infrage stellen von Lebensumständen in Deutschland und Europa.
Also wird das Genre Heimatfilm neu definiert?
Das Genre Heimatfilm wurde über die Jahrzehnte hinweg immer wieder hinterfragt und neu definiert. In den 1950er Jahren stellte es mit seinem Kitsch und seiner Verklärung eine Fluchtmöglichkeit dar. So ist der deutsche Heimatfilm in die internationale Filmgeschichte eingegangen. Dieser Heimatbegriff bzw. Heimatfilmbegriff ist heute natürlich negativ konnotiert. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre haben dann Filmemacher wie Volker Schlöndorff oder Rainer Werner Fassbinder ihre Art von Heimatfilm gemacht. Oder auch Edgar Reitz, der eine Heimattrilogie geschaffen hat, in der er ganz normale Menschen in ihrem alltäglichen Leben zeigte. In den 1990er Jahren hat der Heimatfilm sein Zuhause in der deutschen Komödie gefunden. Und heute, in einer Zeit, in der Grenzen fallen und neue Mauern errichtet werden, wird die Frage nach Identität und Heimat wieder brandaktuell.
Ein Film, der diese Fragen nach Identität und Heimat stellt, ist Im Feuer …
Richtig. Der Film von Daphne Charizani thematisiert eine Fluchtbewegung. Rojda ist Kurdin und nach Deutschland immigriert, während ihre Schwester im Irak geblieben ist. Jahre später stehen sich die Schwestern in unterschiedlichen Uniformen gegenüber - die Bundeswehruniform neben die der kurdischen Kämpferinnen. Was macht das mit dem Identitätsgefühl der beiden Schwestern?
Ein ganz anderes Beispiel ist der Dokumentarfilm Walchensee Forever von Janna Ji Wonders, in dem die Filmemacherin ihre eigene Identität befragt. Wo fängt Heimat an und wo hört sie auf? Und gibt es eine Art Familiengedächtnis? Antworten sucht sie in der Geschichte der drei Frauengenerationen in ihrer Familie. Ihre Großmutter führte ein Hotel am Walchensee, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist und gearbeitet hat, bis sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester für ein Leben als Hippie entschied. Beide wanderten nach Amerika aus, um Musik zu machen. Als die Mutter dann nach Deutschland zurückkehrte, wurde sie eine der Haremsfrauen von Rainer Langhans. Janna Ji Wonders befragt Vergangenheit und Gegenwart, ob die Sehnsucht zu einem Ort, dem Walchensee, vererbt werden kann und ob man Heimat im Herzen trägt.
Arbeiten in einer globalisierten Welt
Im Eröffnungsfilm Kids Run lernen wir eine dysfunktionale Familie kennen, bei der ein Gefühl von Heimat noch in weiter Ferne scheint…
Der Film von Barbara Ott erzählt zwar von Dysfunktionalität einer Familie, aber auch, wie sich bzw. ob sich, trotz prekärer Verhältnisse, ein Gefühl von Heimat entwickeln kann. Es geht um den jungen Vater Andi, der drei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen hat. Von beiden lebt er getrennt. Die Kinder sind zwischen den beiden Elternparteien permanent hin- und hergerissen. Während sich Andi gerade so über Wasser halten kann, hat die Mutter einen neuen Partner gefunden. In ihrem neuen Leben gibt es keinen festen Platz für die Kinder. Kids Run zeigt, welche Ursachen es haben kann, dass sich der Begriff von Heimat und Identität verändert. Wenn man sich zum Beispiel plötzlich nicht mehr über Arbeit definieren kann, weil man sie verliert oder nur auf einer Baustelle Schwarzgeld verdient. Wenn man dieses tägliche „Malochen-Gehen“ als Teil seiner Identität begreift und sich dieser Teil plötzlich auflöst - das zählt auf jeden Fall zu den Ursachen. Barbara Ott hat sich bereits in Sunny, mit dem sie den FIRST STEPS Award gewonnen hat, mit dieser Familiengeschichte auseinandergesetzt. In ihrem Langfilmdebüt Kids Run verfolgt sie die Geschichte nun weiter.
Von der Frage, was Identität bedeutet, wenn der Beruf verschwindet, handelt übrigens auch der Dokumentarfilm Automotive. Jonas Heldt war bereits als Produzent mit einem Film bei uns. Automotive ist sein erster langer Film als Regisseur. Seine Protagonistinnen arbeiten in Zuliefer- bzw. Dienstleisterbetrieben für Audi. Die eine am Fließband, die andere als Headhunterin, die Spitzenpositionen besetzt. Beide arbeiten hart und wissen, dass sie in Zeiten von Digitalisierung und Automatisierung nicht ewig gebraucht werden. Und die Fließbandarbeiterin verliert tatsächlich ihren Job. Die Frauen haben sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Leben, aber was sie eint, sind ihre Zukunftsträume: ein Auto, ein entspanntes Leben in einem wärmeren Land. Automotive reflektiert wunderbar, was Zukunft bedeutet, wenn der Arbeitsplatz gefährdet ist.
Frauen, die die Geschicke der Welt bewegen
Es gibt eine auffällige Präsenz von starken Frauen im Programm…
Ja. Sechs von acht Filmen im Programm wurden von Regisseurinnen inszeniert. Zudem sind fast alle Protagonist*innen Frauen. Frauen, die sehr, sehr aktiv und bewusst die Geschicke der Welt lenken. Etwa die Protagonistinnen in Automotive oder Sahra Wagenknecht im Dokumentarfilm Wagenknecht von Sandra Kaudelka. Der Film zeigt das Porträt einer einflussreichen Frau, die sehr ehrgeizig, aber auch einfühlend und lernbereit ist. Wir erfahren, wie sie Politik macht und wie sich ihr ganzes Leben auf ihre Arbeit bezieht. Die Kamera begleitet Wagenknechts Arbeit beobachtend und zeigt keine privaten oder biografischen Einzelheiten. Das finde ich an Wagenknecht sehr gelungen.
Starke Frauen spielen übrigens auch dann eine Rolle, wenn sie gar nicht auftreten. Garagenvolk von Natalija Yefimkina erzählt von Männern im Norden Russlands und ihren sehr unterschiedlichen und vielfältigen Hobbys, denen sie in ihren Autogaragen nachgehen. Der eine hat seine Garage in ein Fitnessstudio umfunktioniert, ein anderer hat ein Labyrinth eingebaut und damit sein Lebenswerk geschaffen. Obwohl Männer im Zentrum stehen, sind Frauen, gerade auch durch ihre Abwesenheit, präsent.
In Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt taucht eine Frau aus dem Nichts auf. Sie ist gleichzeitig die Geliebte eines Vaters und seines Sohnes und wird zur Projektionsfläche der Sehnsüchte beider. Aus dieser Konstellation entwickelt sich ein Spiel mit den Zuschauer*innen: Wer weiß was von wem? Weiß der Vater um das Verhältnis seines Sohnes? Welche Rolle spielen andere Frauen, etwa die Haushälterin, in diesem Kontext? Ein sehr interessantes Werk von Eliza Petkova, die sich mit dem Film neu erfunden hat. Ihr Debüt Zhaleika hat sie 2016 bei Generation präsentiert. Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt ist ihr Abschlussfilm an der DFFB.
Reden über Film, Kompass-Perspektive-Preis und Berlinale Goes Kiez im Gefängnis Plötzensee
Ihr habt auch wieder einen Gastfilm eingeladen, welcher ist es in diesem Jahr?
Wir setzen die Kooperation mit dem FIRST STEPS Award fort und zeigen den Dokumentarfilmgewinner Out of Place von Friederike Güssefeld. Er ist am Berlinale Publikumstag zu sehen und die Künstlerische Leiterin vom FIRST STEPS Andrea Hohnen wird ihn vorstellen. Im Anschluss wird es auch ein ausführliches Publikumsgespräch geben. Das haben wir in den letzten Jahren etabliert und es ist immer gut besucht.
Fernab der acht Premieren. Werdet ihr auch wieder bei Berlinale Goes Kiez dabei sein?
Ja, wir sind mit drei Filmen dabei. Wir zeigen Schlaf in den Neuen Kammerspielen in Kleinmachnow und Walchensee Forever im Moviemento in Kreuzberg. Außerdem sind wir mit unserem Eröffnungsfilm Kids Run im Gefängnis in Plötzensee. Da werden natürlich die Insassen eingeladen, aber auch Publikum der Stadt Berlin ist herzlich willkommen.
Außerdem setzt ihr die Veranstaltungsreihe „Reden über Film“ in der Audi Berlinale Lounge fort. Welche Talks sind zur 70. Berlinale geplant?
In diesem Jahr sprechen wir am 24. Februar mit dem Produzentenverband, da dieser im Herbst letzten Jahres eine Nachwuchssektion gegründet hat. Wir möchten den Vertreter*innen die Möglichkeit bieten, sich vorzustellen. So können Interessierte, aber vor allem Producer*innen der Filmhochschulen und junge Produzent*innen der deutschen Branche mehr erfahren - was der Verein macht, was ihm wichtig ist, warum die Nachwuchssektion gegründet wurde und schließlich auch, ob sie sich selbst dafür engagieren möchten.
Unsere zweite Veranstaltung am 26. Februar wollen wir dem Dokumentarfilm widmen und haben die Regisseurinnen von Walchensee Forever, Janna Ji Wonders, und Wagenknecht, Sandra Kaudelka, eingeladen. Der Titel der Veranstaltung lautet: „Wie sieht ein Drehbuch zu einem Dokumentarfilm aus?“. Bei der Beantragung von Fördergeldern muss immer ein Drehbuch abgegeben werden. Wenn ich im Dokumentarfilmbereich aber im Prozess auch Dinge erforschen möchte und hoffentlich auf Überraschendes stoße: Wie kann ich das vorher überzeugend verschriftlichen und was reiche ich ein? Darüber wollen wir sprechen und haben den Produzenten Martin Heisler (Flare Film) eingeladen, der die beiden Filmemacherinnen gefördert hat.
...und hoffentlich gibt es auch wieder etwas zu gewinnen…
Das gibt es. Die Filme unseres Programms konkurrieren wieder um den Kompass-Perspektive-Preis für den besten Film, der mit 5.000 Euro dotiert ist. Für die Jury konnten wir in diesem Jahr Mia Spengler gewinnen, die vor drei Jahren mit Back for Good bei uns war. Außerdem sind Drehbuchautor Bernd Lange und „Made in Germany“-Geschäftsführerin und Produzentin Melanie Andernach in der Jury. Bernd Lange hat das Drehbuch für zahlreiche Filme von Hans-Christian Schmid geschrieben und Melanie Andernach ist Ko-Produzentin von Talking About Trees – einem Film, der im letzten Jahr sowohl den Glashütte Original - Dokumentarfilmpreis als auch den Panorama-Publikumspreis gewonnen hat.