2020 | Forum Expanded
Reflexion einer sprachlosen Gegenwart
2020 widmet sich Forum Expanded mit dem Thema „Part of the Problem“ der eigenen Involviertheit und den strukturellen Zusammenhängen zwischen den Themen Migration, Rassismus, Sexismus, Staatsgewalt, Kapitalismus, Kolonialismus, Extraktivismus, Klimakrise, Zukunftsangst und Geschichtsverlust. Es wird auf eine Gegenwart geblickt, die viel Sprachlosigkeit auslöst und umso klarere Worte braucht. Sektionsleiterin Stefanie Schulte Strathaus und Kurator Uli Ziemons über das Verhältnis vom Konkreten zum Abstrakten, die Suche nach neuen Ausdrucksformen und ein besonderes Jubiläumsprogramm.
Jogos Dirigidos von Jonathas de Andrade begleitet eine Taubstummen-Gemeinde im Osten Brasiliens, die eine eigene Sprache geschaffen hat. Der kongolesische Kurzfilm Matata von Petna Ndaliko Katondolo wird primär durch Tanz erzählt und Al-Houbut von Akram Zaatari von experimentellen Klängen. Im diesjährigen Programm gibt es eine erstaunliche Vielfalt von Ausdrucksformen starker Künstlerinnen und Künstler. In einer Gegenwart, die auch Anlass zu Sprachlosigkeit bietet...
Stefanie Schulte Strathaus: Wir leben tatsächlich in einer Welt, in der wir permanent mit Situationen konfrontiert werden, in denen wir nicht mehr nur mit Worten ausdrücken können, was um uns herum geschieht. Es kann hilfreich sein, abseits des Erlernten zu schauen, welche alternativen Ausdrucks- und Wissensformen existieren. Unser Programm stellt Arbeiten vor, die dafür Räume öffnen. Sieht man sich als nicht-taubstumme Person etwa Jogos Dirigidos von Jonathas de Andrade an und versucht, die Gebärdensprache, die im Film zu sehen ist, zu verstehen, tritt die eigene Sprache in den Hintergrund.
Dieses Jahr steht bei Euch unter dem Motto „Part of the Problem“. Wie ist das Thema entstanden?
SSS: Alle Themen des Forum Expanded sind durch unsere Diskussionen während der Sichtungen entstanden. „Part of the Problem“ ist in gewisser Weise eine Fortsetzung unseres Themas aus dem letzten Jahr, „ANTIKINO - The Siren’s Echo Chamber“. In einer Gegenwart, die alles in Frage zu stellen scheint, fragt man sich natürlich, welche Rolle die eigene Arbeit darin spielt. Engagiertes Kino zeigt etwas auf, ist aber immer auch selbstreflexiv, indem es sich selbst als Teil des Ganzen hinterfragt. Das gilt für Künstler*innen und Filmemacher*innen, aber genauso für uns als Kurator*innen. Wir haben von Anfang an neue Formate ausprobiert, und auch wieder verworfen, um mit Forum Expanded in der Festivallandschaft Position zu beziehen, und wir haben künstlerische Arbeiten entlang der Frage diskutiert, ob ihr Standpunkt auch formal umgesetzt wurde. Das ist also keine neue Haltung, aber sie erscheint uns wichtiger denn je. Wir können nicht mehr davon sprechen, dass irgendwo da draußen Grenzen verlaufen, die wir ablehnen, ohne wahrzuhaben, dass sie auch durch uns selbst verlaufen.
In der Installation INFINITY minus Infinity von The Otolith Group geht es um das Verhältnis von Kapitalismus und Rassismus – verwoben mit der aktuellen Klimapolitik…
SSS: Die Arbeit bringt einen anderen Aspekt von „Part of the Problem“ auf den Punkt. Oft werden einzelne Themen isoliert in den Blick genommen, obwohl alles strukturell zusammenhängt. Die frühere Forum Expanded-Kuratorin Nanna Heidenreich äußerte sich einmal auf Facebook zur Einzelbetrachtung von Opfergruppen rechter Gewalt: „Es geht, das ist wichtig, hier nicht um 'Alle', aber es hat Struktur. Die müssen wir in den Blick nehmen.“
INFINITY minus Infinity verwebt verschiedene Formate wie Performance, Musik und Text und setzt dabei Geschichte, Gegenwart und Zukunft in ein neues Verhältnis. Dieser transhistorische Raum findet also Entsprechung in der ästhetischen Form, dabei arbeitet die Installation strukturelle Zusammenhänge zwischen Rassismus, Kapitalismus, Kolonialismus und Klimapolitik heraus, die wir vielleicht erst in dieser Form erkennen können, weil wir uns in der Realität davor verschließen.
The Sun ist ebenfalls Teil der Gruppenausstellung im silent green Kulturquartier. Eine ganz einfache aber nicht minder aussagekräftige Arbeit der kanadischen Künstlerin Kika Thorne, die den Klimawandel in den Blick nimmt. Die Projektion einer Sonne speist sich ausschließlich über Solarenergie. Die dafür notwendigen Solarpanel sind auf dem Dach der Ausstellungshalle angebracht. Unmittelbarer kann die Referenz einer Arbeit auf ihre eigene Medialität kaum sein: Sie ist nur zu sehen, wenn draußen die Sonne scheint. Gerade im Februar in Berlin gehen wir damit als Kurator*innen natürlich ein gewisses Risiko ein, denn es gibt kein Back-up. Aber diese Radikalität ist uns wichtig.
Uli Ziemons: Die Arbeit rückt zudem auch unsere Rolle als Ausstellungsorganisator*innen in den Blick. Eine Ausstellung mit Videoinstallationen verbraucht eine erhebliche Menge Strom. Auch darüber muss man sich Gedanken machen. Das bringt The Sun gut auf den Punkt.
Quantum Creole ist eine im Kollektiv entstandenen Arbeit von Filipa César über die Geschichte des Webens in Westafrika. Secrets of a Digital Garden: 50 Villages - 50 Flowers vom Kollektiv RIWAQ behandelt das subversive Potenzial von Saatgut als Erinnerungsspeicher. Was sind die besonderen Qualitäten dieser beiden im Kollektiv entstandenen Werke?
SSS: In beiden Arbeiten geht es um unterdrückte Geschichten des Widerstands und ihr subversives Potential. Der Aspekt der Kollektivität spielt dabei eine große Rolle, es gibt viele Stimmen, die gemeinsam erzählen. Die Webarbeiten in Quantum Creole sind eine Art kreolischer Code, Botschaften des Widerstands, eingewebt in Textilien. Der Film nutzt unterschiedliche Formen der Bildgenerierung, um sie zu lesen. Die Mixed-Media-Installation Secrets of a Digital Garden stellt ein imaginäres Zukunftsszenario im ländlichen Palästina dar: Ein Garten mit 50 digitalen Blumen, die 50 zerstörte Dörfer repräsentieren. In jeder Blütenkapsel verbirgt sich physische und digitale DNA. Die Blumen sind Erinnerungsspeicher, einen Zugang zum Riwaq-Archiv verschafft man sich über das Einscannen von QR-Codes.
Purple Sea und Shipwreck at the Threshold of Europe, Lesvos, Aegean Sea: 28 October 2015 verwenden Material der Künstlerin Amel Alzakout. Sie war auf einem untergehenden Boot mit Migrant*innen nahe der europäischen Küste und hatte dabei eine GoPro-Kamera am Handgelenk. Sie war mehrere Stunden im Wasser…brutale wie persönliche Bilder, die nicht so schnell aus dem Kopf gehen. Gibt die Künstlerin Antworten auf die Frage, wie wir heute mit solchen Bildern umgehen?
SSS: Eindeutige Antworten darauf gibt es nicht. Zu Beginn ihrer Arbeit an Purple Sea wussten Amel Alzakout und ihr Partner und Kollege Khaled Abdulwahed nicht, ob sie überhaupt etwas mit dem Material machen wollten und in welcher Form dies möglich sein könnte. Letztlich haben sie sich entschieden, nur einen kleinen Teil des entstandenen Materials zu nutzen. Ich finde diesen Film extrem mutig, weil er sich der öffentlichen Diskussion über den Umgang mit solchen Bildern aussetzt. Davon einmal abgesehen, dass sich Amel Alzakout natürlich durch den Film wieder selbst mit ihrer eigenen, traumatisierenden Erfahrung konfrontiert. Das Eindrucksvolle an dieser Arbeit ist, dass sie eine abstrakte und eine konkrete Ebene aufmacht und beide Ebenen ins Verhältnis setzt. Auf der Abstraktionsebene erkennt man Muster, Strukturen und Formen, gebildet durch Körper und Kleidungsstücke der Menschen, die im Wasser sind. Gleichzeitig enthalten diese abstrakten Bilder das Wissen um die unmittelbare Verletzbarkeit und existenzielle Gefahr, in der sich diese Menschen befinden. Verbunden werden die beiden Ebenen durch die Stimme von Amal Alzakout und den Text, den sie dazu geschrieben hat.
Forensic Architecture hat dieses Material dann für die Arbeit Shipwreck at the Threshold of Europe, Lesvos, Aegean Sea: 28 October 2015 um anderes Material ergänzt, um das Geschehen möglichst detailgenau zu rekonstruieren, insbesondere die Rettungsaktion, die erst nach sehr langer Zeit einsetzte. Das ist ein ganz anderer Umgang mit dem Material aus einer distanzierteren Perspektive. Wir sind gespannt, in welcher Weise die beiden Arbeiten im Programm des Forum Expanded miteinander kommunizieren.
Eine mutige und persönliche Arbeit ist auch Half Blue von Joe Namy. In Form einer Klanginstallation befasst er sich mit aggressiver Polizeiarbeit…
UZ: Joe Namy setzt sich in seiner Arbeit mit dem gewaltsamen Tod eines engen Familienangehörigen auseinander, der Opfer von Polizeigewalt wurde. Das tragische Ereignis ist der Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit der Militarisierung und Aufrüstung der Polizei in den USA. Das visuelle Hauptelement in der Installation ist ein Polizei-Blaulicht, in das man eintaucht, als wäre man an einem Tatort. Der Künstler schafft einen Raum für Kontemplation, einen Raum, um Menschen zu ehren, die dieser Art von Ungerechtigkeit zum Opfer gefallen sind.
Spannend ist auch die Kurzfilm-Triologie NDN Survival Trilogy der indigenen kanadischen Künstlerin Thirza Cuthand. Sie setzt sich mit extraktivem Kapitalismus und dessen Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung Kanadas auseinander...
UZ: Das sind drei wirklich ganz großartige Kurzfilme von Thirza Cuthand. Sie sind thematisch und ästhetisch miteinander verwoben und thematisieren den „extractive capitalism" auf eine sehr idiosynkratrische, zum Teil auch sehr humoristische Art und Weise, ohne die Schärfe zu verlieren. Passend zu „Part of the Problem“ fragt auch sie sich, was ihre eigene Rolle als Künstlerin in diesem Zusammenhang ist. In einem Teil der Arbeit geht es zum Beispiel um ihre Teilnahme an der Whitney-Biennale im letzten Jahr. Dort gab es zahlreiche Proteste von teilnehmenden Künstler*innen gegen die Tatsache, dass es im Aufsichtsrat des Whitney-Museums eine Person gab, die mit der Produktion und dem Verkauf von Tränengas Profit macht. Thirza Cuthand stellt sich die Frage, ob sie ihre Arbeit zurückziehen soll und lässt uns am Entscheidungsprozess teilhaben.
Gemeinsam mit dem Forum feiert Ihr in diesem Jahr Jubiläum. Es geht um das filmische Erbe des Gründungsjahrs 1971 und um seine Bedeutung für die Gegenwart. Was ist im Sonderprogramm und am Paneltag zu erwarten?
SSS: 1971 war ein besonders spannendes Forums-Jahr voller interessanter, energiegeladener Filme. Immer, wenn ich auf dieses Jahr blicke, denke ich: Was war das für ein Programm! Es gab legendäre Filme, wie zum Beispiel L’Âge d’Or von Luis Buñuel, die wir heute alle kennen, die aber damals unbekannt waren. Von den fast 60 Filmen, die im Gründungsjahr gezeigt wurden, sind über 30 Titel im Archiv geblieben. Schon im ersten Jahr wurden einige Filme deutsch untertitelt, um sie anschließend weiter zu zeigen und im deutschsprachigen Raum zu verleihen. Die dafür erstellten Kopien verblieben im Archiv des Arsenal, viele davon sind heute Unikate. Andere Filme blieben erhalten, weil damals Kollektive wie Newsreel oder Iskra nicht nur die Produktion, sondern auch die Distribution als politische Praxis mitgedacht haben. Ihre Filme sollten in Umlauf kommen, Voraussetzung dafür war eine große Zahl an Kopien. So landeten einige dieser Filme auch bei uns im Verleih. Hinzu kamen persönliche Geschenke, etwa von Med Hondo, der Ulrich Gregor, dem Mitgründer und langjährigen Leiter des Forums eine Kopie seines Films Mes Voisins schenkte. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Arsenal dem unabhängigen, politischen und experimentellen Kino ein Zuhause bietet.
Die Verbindung von Filmgeschichte mit Gegenwartskino hat bereits in den 1970er Jahren die Grundlagen für die Zukunft der Institution gelegt. Die Filme aus dieser Zeit wieder als Programm zur Aufführung zu bringen, finde ich sehr aufregend. Eine Hälfte zeigen wir während der Berlinale, die andere danach im Arsenal.
Am Paneltag setzen wir uns mit der Frage auseinander, welche Bezüge das Programm aus dem Gründungsjahr zur Gegenwart hat. Wir sind der Meinung, dass Werke aus der Filmgeschichte heute zu neuen Filmen werden. Bei den Panels möchten wir Aspekte, um die es damals ging - wie kollektive Arbeit, Feminismus und Dekolonisierung - aufgreifen und in einer Gegenwart diskutieren, in der sie nicht, wie eine Zeit lang angenommen, in den Hintergrund getreten sind, sondern im Gegenteil wieder offen vor uns liegen. Und wer weiß, welche subversiven Botschaften aus den Filmen und Programmen von 1971 uns erst heute erreichen?