2021 | Forum Expanded
The Days Float Through My Eyes
Als Mitte März 2020 der erste Lockdown begann, bedeutete das in vielerlei Hinsicht einen kompletten Stillstand. Forum, Forum Expanded und ihr „Heimkino“, das Arsenal, begannen jedoch schnell mit digitalen Angeboten zu experimentieren. Sektionsleiterin Stefanie Schulte Strathaus und Kurator Uli Ziemons über ein Jahr, in dem Reisen fast nur in Bildern möglich war, die Zeitlichkeit des Rituals und die Suche nach neuen Formaten für Festivals und das Kino.
Corona war omnipräsent in den letzten zwölf Monaten. Welchen Einfluss hatte das Virus auf euren Auswahlprozess?
Stefanie Schulte Strathaus: Ein Mitglied im Kurator*innenteam, Maha Maamoun, lebt in Ägypten und konnte für die Sichtungen nicht nach Berlin kommen. Deshalb haben wir nur online gesichtet. Wir haben uns zu Sichtungstagen verabredet und alle den Film gleichzeitig gestartet. Wenn er zu Ende war, haben wir uns in einer Videokonferenz getroffen. So haben wir versucht, zumindest das Sichten in der Gruppe und das Gespräch über den ersten Eindruck aufrechtzuerhalten. Für mich persönlich war am schwierigsten, dass ich nicht reisen konnte. Bei den Begegnungen, die ich unterwegs mache, entdecke ich sehr viele Arbeiten, die von sich aus nicht ihren Weg zu uns finden würden. Um das auszugleichen haben wir verstärkt Kolleg*innen um Hinweise und Empfehlungen gebeten. Am Ende haben wir ein genauso gutes Programm wie in den Vorjahren hinbekommen, aber der Weg dahin war anders.
Euer Thema in diesem Jahr, „The Days Float Through My Eyes“, entstammt einem Song von David Bowie. Was verbindet ihr mit dieser Zeile?
SSS: Zunächst einmal haben wir anders als sonst das Thema weniger aus der Diskussion über die Einreichungen hergeleitet als aus der Zeit, in der wir gerade leben. Sie verbindet uns auf eine besondere Art mit den Künstler*innen und Filmemacher*innen, weil wir durch die Lockdown-Maßnahmen – wenn auch mit unterschiedliche Auswirkungen – alle eine sehr ähnliche Erfahrung machen. Der Anspruch des Forum Expanded, Arbeiten zu präsentieren, die sich sowohl durch ihre besondere ästhetische Form als auch eine inhaltliche Auseinandersetzung auszeichnen, hat plötzlich uns selbst massiv herausgefordert: Als Festival mussten wir nun eine geeignete Form finden für diese neue Art der Realität, mit der wir konfrontiert waren.
David Bowie hat „Changes“ vor exakt 50 Jahren geschrieben, weil er das Gefühl hatte, dass er sich in einem Tempo weiterentwickelt und neu erfindet, mit dem das System, das aus ihm einen Musiker macht, nicht mitkommt. Was wir gerade erleben ist eine nie dagewesene Gleichzeitigkeit von Bewegungslosigkeit und Veränderung. Alles bleibt stehen, nichts geht mehr, und gleichzeitig sind wir in einem irrsinnigen Tempo mit Veränderungen konfrontiert. Wir brauchen neue digitale Arbeitsformen, neue Lösungen, neue Festivalformate. Dabei fühlt es sich manchmal an, als würde nicht das Leben gerade an uns, sondern wir am Leben vorbeiziehen. Die ausgewählten Arbeiten holen uns jedoch wieder dorthin zurück.
In diesem Jahr ist eine Art der Zeitlichkeit besonders stark zu spüren, die man auch mit einer bestimmten Bewegungssignatur – den ewigen Kreisläufen während der täglichen Lockdown-Spaziergänge – assoziieren könnte: das Ritual.
Uli Ziemons: Das Ritual und die Frage des Kontakts zu übersinnlichen oder spirituellen Sphären ist tatsächlich sehr präsent in der Auswahl. In Autotrofia verbindet Anton Vidokle sein Interesse am russischen Kosmismus, einer Denkrichtung aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert, mit einem heidnischen Fruchtbarkeitsritual, das in Italien heute noch durchgeführt wird. Im Kosmismus gab es die Idee, dass der Mensch von den Pflanzen lernen könne, Photosynthese zu betreiben, als Ausweg aus dem System, dass er nur überleben kann, wenn er andere Lebewesen tötet. Vidokle nähert sich auf eine sehr humorvolle und performative Art diesem Thema. Dokumentarische Aufnahmen des Rituals werden mit einer fast schon opernhaft inszenierten fiktiven Geschichte verbunden.
Bicentenario spürt der Geschichte des lateinamerikanischen Revolutionärs Simón Bolívar 200 Jahre nach seiner Befreiung Kolumbiens nach. Regisseur Pablo Alvarez Mesa besucht die Orte, an denen Bolívar Schlachten ausgetragen oder Reden gehalten hat und befragt jeweils ein Medium, das versucht, den Geist von Bolívar an diesen Orten zu erspüren. Bicentenario erinnert ein Stück weit an Voices and Shells. Maya Schweizer sucht auch nach Spuren geschichtlicher Ereignisse an bestimmten Orten, nach Gleichzeitigkeiten von Vergangenheit und Gegenwart. Sie versucht sich an einer Art Archäologie im Münchner Untergrund, steigt in die Abwasserkanäle. Dort legt sie Geschichte frei, die der Architektur eingeschrieben aber nicht offensichtlich ist.
Als Sektion habt Ihr seit Jahren mit eurer Archivarbeit eine eigene Art der Archäologie betrieben. In diesem Jahr vermisst man die Präsenz des Archivs im Programm. Ist sie dem neuen Festivalformat zum Opfer gefallen?
SSS: Nein, wir arbeiten nach wie vor zwischen den Festivaleditionen intensiv an Archivprojekten. Diese Arbeit hat aber mittlerweile solche Ausmaße angenommen, dass sie den Rahmen von Forum Expanded sprengen würde, deshalb wird es ab September voraussichtlich im Zweijahresrhythmus eine eigene Veranstaltung dazu geben.
Dennoch ist es uns weiterhin wichtig, Restaurierungen ins Programm zu nehmen und sie den aktuellen Produktionen an die Seite zu stellen, um sie zu neuen Filmen zu machen. 2021 zeigen wir die digital restaurierte Fassung von Cynthia Beatts Böse zu sein ist auch ein Beweis von Gefühl. Der Titel des Films lässt an Gegenwartsdebatten denken, aber er ist aus dem Jahre 1983. Wie bei Maya Schweizer spielt - hier die Berliner - Stadtarchitektur eine große Rolle. Beatt verbindet ihre Erfahrung als eine, deren Muttersprache nicht deutsch ist, mit ihrem Blick auf die Berliner Architektur rund um den Potsdamer Platz (der damals noch ein Niemandsland war) und reflektiert Strukturen von Geschichte und Gegenwart. Heinz Emigholz spielt in diesem Film ihren Dialogpartner.
Auch in Ahorita Frames treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander. Zudem spielt der Film mit einem interessanten Raumbezug, weil er Erfahrungen, die in New York gemacht wurden, nach Tijuana verlegt...
SSS: Regisseurin Angelika Levi holt uns zurück in die Zeit von 9/11 und blickt auf etwas, das damals nicht in den Medien war: Es waren überwiegend migrantische Arbeiterinnen, die nach dem Anschlag die Luxus-Appartements, Büros und Banken von Manhattan reinigen mussten. Ihre Erzählungen werden 20 Jahre später am Grenzübergang PedWest in Tijuana von Migrant*innen aus Guatemala und Venezuela und von Mexikaner*innen, die aus den USA nach Tijuana deportiert wurden, in Szene gesetzt.
In Fragen von Zeit und Raum sind einige Filme in der Auswahl geradezu überwältigend in ihrem Hier und Jetzt und der körperlich-sinnlichen Erfahrung, die durch sie erlebbar wird. In The Coast zeigt Sohrab Hura badende Menschen bei einer religiösen Zeremonie, das Graben in der Erde während des Rituals in Autotrofia erscheint wahnsinnig taktil. Nimmt man diese Ebene durch Corona, die Isolation und den Mangel an Sinnlichkeit, anders wahr?
SSS: Ich persönlich habe diesen Zusammenhang besonders stark bei Saba' sanawat hawl delta al-neel (Seven Years Around the Nile Delta) von Sharief Zohairy gespürt. Ein klassischer Reisefilm, also ein Genre, das wir gut kennen, und dennoch sieht man den Film heute anders. Wir haben ihn in dieser außergewöhnlichen Sichtungsphase auf unseren Laptops gesehen und er hat uns auf eine besondere Weise 5 1/2 Stunden lang in den Bann gezogen. „Es war wie eine Reise“ über einen Film zu sagen, klingt recht abgedroschen. Aber mit einem Film auf eine Reise gehen zu können, hat tatsächlich in einer Zeit des Nicht-Reisens eine neue Bedeutung bekommen.
Man sollte aber bezüglich der Pandemie auch kein einfaches Vorher und Nachher konstruieren. Zwar hat sich in sehr kurzer Zeit alles verändert und damit sicherlich auch unser Blick auf die Filme, aber alle Veränderungen stehen immer noch in historischen Zusammenhängen.
Sehr deutlich ist der Einfluss des Virus auf den physischen Ort Kino. Mit dem Arsenal 3 habt Ihr Eure Aktivitäten schnell in die digitale Welt verlegt. Wie waren Eure Erfahrungen?
SSS: Es gab mehrere Phasen von Arsenal 3. Eine Woche nach dem Beginn des ersten Lockdowns waren wir online, weil die Infrastruktur schon bestand. Im Oktober 2019 hatten wir das Arsenal 3 als Experiment ins Leben gerufen, zunächst nur für Mitglieder. Wir wollten behutsam herausfinden, ob ein Onlinekino als Erweiterung der Säle am Potsdamer Platz funktionieren kann. Dann kam der Lockdown am 13. März 2020 und wir mussten noch am selben Tag das Kino und die Forum Expanded-Ausstellung schließen. Noch am selben Abend haben wir mit den Planungen begonnen und waren eine Woche später online. Wir haben Filmemacher*innen und Künstler*innen, deren Arbeiten wir verleihen, gefragt, ob sie uns unterstützen, weil wir zu dem Zeitpunkt nicht wussten, ob wir später in der Lage sein würden, Lizenzen für die Onlinepräsentation zu zahlen. Über 100 von ihnen haben sofort zugesagt, das war eine tolle Erfahrung der Solidarität. Wir haben dann nicht nur ihre Filme gezeigt, sondern auch Filmgespräche geführt. Das Arsenal 3 wurde so zu einem Ort, der uns über den ersten Lockdown hinweg in Kontakt gehalten hat.
Nach drei Monaten war der Wunsch nach etwas Physischem wieder stark zu spüren und wir hatten die Möglichkeit installative Arbeiten in der Betonhalle des silent green zu präsentieren, wo sonst auch die Ausstellung des Forum Expanded zu sehen ist. Das war im Frühjahr und Sommer auf Basis der Hygieneregelungen möglich. Arsenal 4 war geboren. Und dann hat Bernd Scherer, der Intendant des Haus der Kulturen der Welt, uns eingeladen auf dem Dach des HKW ein Sommerkino zu betreiben – das Arsenal 5. Es gab Platz für 100 Personen und war immer sehr gut besucht.
Als die Kinos schließlich wieder öffnen durften, mussten wir das Arsenal 3 noch einmal anders denken, denn nun musste sich das digitale zum analogen Kino verhalten. Deshalb haben wir das Konzept eines „Fußnotenkinos“ entwickelt und Filme gezeigt, die unsere Aktivitäten im Kino und im Filmarchiv erweitern und vertiefen sollten. Digitales Kino ist nicht das gleiche wie analoges Kino, deshalb wollten wir das Verhältnis zwischen beiden durch Referenzherstellung bewusst thematisieren. Als der erneute Lockdown kam und das Arsenal 1 wieder schließen musste, ist dieses Konzept teilweise wieder weggebrochen. Jetzt bespielen wir das Arsenal 3 hauptsächlich mit Retrospektiven und es läuft sehr gut. Das letzte Jahr hat auf diese Art und Weise nochmal bewiesen, dass das Arsenal mit all seinen Aktivitäten, also auch Forum und Forum Expanded, ein offener Raum ist, der sich selbst mitdenkt, hinterfragt und zur Debatte stellt.
Auch in der Auswahl 2021 habt Ihr Filme, die sich unmittelbar mit den Möglichkeiten des Kinos beschäftigen. 13 Ways of Looking at a Blackbird und Black Beauty: For a Shamanic Cinema etwa...
UZ: 13 Ways of Looking at a Blackbird öffnet den Blick für all das, was Kino sein kann. Der Film ist als Arbeit mit Schüler*innen in einem Vorort von Lissabon entstanden. Über ein Jahr hinweg hat Ana Vaz, die aus dem essayistischen Experimentalfilmkontext kommt, einen Filmkurs gegeben. Ausgehend vom titelgebenden Gedicht „13 Ways of Looking at a Blackbird” von Wallace Stevens hat sie den Schüler*innen einen Raum geschaffen, um mit dem Kino zu experimentieren und verschiedene Perspektiven zu entwickeln. Es geht stark um Bilder, die vor dem inneren Auge ablaufen, um die Darstellbarkeit von Gefühlen. Darum, den Blick zu weiten und zu entdecken, was Kino alles sein kann. Die Ideen stehen sich gleichberechtigt gegenüber.
SSS: Black Beauty: For a Shamanic Cinema thematisiert das Potenzial des Kinos und der Kunst, über unsere rational erfassbaren Vorstellungswelten hinaus zu gehen und das zum Sprechen zu bringen, was sich ihnen entzieht. Im Schamanismus sieht die Filmemacherin Grace Ndiritu die Möglichkeit einer Wiederbelebung des Kinos als Ort des Austausches.
UZ: Auch “Le-deu-pil-teo-ga Cheol-hoe-doeb-ni-da.” (“The red filter is withdrawn.”) von Minjung Kim ist eine Reflektion des Kinos. Die Untertitel des Films zitieren eine Performance des amerikanischen Avantgardefilmemachers Hollis Frampton, der über die Frage nachdenkt, was man im Kino sieht und wann man am meisten sieht: nämlich dann, wenn man auf ein weißes, vermeintlich leeres Rechteck blickt, weil dann das gesamte Licht auf die Leinwand fällt. Wenn man zum Beispiel einen Rotfilter vor die Lichtquelle setzt, entsteht der Eindruck, man sehe jetzt mehr, nämlich etwas Rotes. Aber tatsächlich sieht man weniger, weil bestimmte Lichtfrequenzen weggenommen wurden. Die Untertitel schaffen so einen Gedankenrahmen für das, was man im Film sieht. Eigentlich befasst sich die Arbeit mit der Sichtbarkeit der japanischen Okkupation Koreas, geht das Thema aber über die Frage des Kinos und des Sehens an.