2022 | Wettbewerb
Ein permanenter Dialog
Der Wettbewerb 2022 bietet eine lebhafte und facettenreiche Auswahl an bewährten Berlinale-Regisseur*innen, aber ebenso Neulinge. Im Interview sprechen der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian und der Leiter des Programms Mark Peranson über Ironie, interkulturelle Filmverweise, den Rhythmus der Festivalausgaben und das Vertrauen gegenüber den Filmschaffenden, dass sie uns bis zum Ende mitnehmen.
In der Vorstellung des Wettbewerbsprogramms schreibt Ihr, dass sich menschliche und emotionale Bindungen wie ein roter Faden durch die Filme dieses Jahres ziehen, in Arbeiten wie Avec amour et acharnement (Both Sides of the Blade) von Claire Denis, A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe von Nicolette Krebitz und La ligne (Die Linie) von Ursula Meier. Woher rührt Eurer Meinung nach das Interesse, solche Beziehungen zu untersuchen?
Mark Peranson: Das könnte man natürlich in den Kontext der gegenwärtigen Situation stellen, in Bezug zu dem Bedürfnis, in schwierigen Zeiten eine Art Verbundenheit zu empfinden. Ich würde allerdings sagen, dass viele unserer Filmschaffenden dieses Jahr generell zu gewissen Szenarien tendieren, zu dieser Art Filmemachen. Claire Denis, Hong Sangsoo und Ursula Meier, zum Beispiel, drehen Filme über Menschen, die echte Emotionen zu bewältigen haben, die Kontakt zueinander suchen, und das trägt einen entscheidenden Anteil zum Gelingen ihrer Filme bei.
Carlo Chatrian: Ja, das sehe ich genauso. Diese Filmschaffenden sind mit Arbeiten hierhergekommen, in denen menschliche Bindungen, Familienbande sehr präsent sind. Ich glaube nicht, dass wir eine Antwort darauf finden müssen, warum das so ist, weil das, denke ich, den Filmen ihre Komplexität nehmen und einen einzigen Blickwinkel vorschreiben würde. Was ich aber noch viel wichtiger zu erwähnen finde, ist die Tatsache, dass so viele Filme mit einer gewissen Lockerheit daherkommen, geradezu mit Humor. Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush von Andreas Dresen basiert auf einer wahren Begebenheit, aber man hat das Gefühl, als wäre man in einer Stand-up-Comedy-Show. Und Nicolette Krebitz’ Film A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe hat Elemente, die zwar nicht direkt komödienhaft, aber doch ein bisschen übertrieben sind in der Art, wie sie mit der Idee des Sich-Verliebens spielen. Und unser Eröffnungsfilm Peter von Kant von François Ozon ist ein weiteres hervorragendes Beispiel für einen Film, der eine ungebundene, lockere, spielerische Beziehung zu seinem Thema hat. Humor und Ironie sind in unserer Auswahl also sehr präsent.
Viele der hier vertretenen Filmschaffenden waren schon in der Vergangenheit am Wettbewerb beteiligt, einige von ihnen haben sogar schon Bären gewonnen. Hong Sangsoo, zum Beispiel, nimmt schon das dritte Jahr in Folge am Wettbewerb teil. Wie schließt sich Eurer Einschätzung nach sein jüngstes Werk So-seol-ga-ui yeong-hwa (The Novelist’s Film) an seine früheren Arbeiten an?
MP: Bei Hong Sangsoo ist jeder Film ein weiterer Ziegelstein in einem Gebäude, an dem immer weiter gebaut wird. Wenn man beispielsweise Inteurodeoksyeon (Introduction) und So-seol-ga-ui yeong-hwa miteinander vergleicht, gibt es dort fünf Darsteller*innen, die an beiden Filmen mitwirken. Alle seine Filmen offenbaren gemeinsame Elemente: Szenen, in denen Leute trinken, Szenen in Kinos - in gewisser Weise kann man das als eine Art Spiel betrachten. Der Unterschied liegt nicht unbedingt in der Handlung oder den Figuren, es sind die sehr kleinen Dinge, die sich von Film zu Film unterscheiden, und das macht sie einzigartig. Man muss sich ansehen, in welcher Beziehung die Filme zueinander stehen, und sie alle als Teil eines größeren Projekts begreifen.
CC: Auf einer allgemeineren Ebene stellt das Festival einen permanenten Dialog dar, den wir mit unserem Publikum führen, aber auch mit Film als einer Art kollektiver Bewegung. Ich war schon immer der Überzeugung, dass es sehr wichtig ist, einer Tradition treu zu sein, also der Tradition des Festivals, aber auch der Tradition des Kinos an sich. Ich freue mich sehr, wenn Filmschaffende, die eine lange Geschichte vorzuweisen haben, zurückkommen und wir etwas Neues sehen, das uns hilft zu verstehen, was Kino alles kann. Es existiert auch eine Art Rhythmus zwischen den einzelnen Ausgaben des Festivals. Letztes Jahr gab es eine sehr frische Auswahl an Filmschaffenden im Wettbewerb. Dieses Jahr haben wir einige erfahrene Regisseur*innen sowie einige Themen und Projekte im Programm, auf die wir schon lange gewartet haben.
Ein weiterer Rückkehrer unter den Filmemachern ist Rithy Panh, Gewinner des Berlinale Dokumentarfilmpreises 2020, mit seinem jüngsten Stop-Motion-Animationsfilm Everything Will Be Ok.
CC: Dieser Film ist Teil eines Prozesses des Annehmens und Übertragens der persönlichen Erfahrungen, die Rithy Panh als Überlebender des von den Roten Khmer begangenen Völkermordes durchlebt hat. Darum geht es in allen seinen Filmen. In Everything Will Be Ok beobachtet man wie von einem anderen Planeten aus – es ist ein Science-Fiction-Film – was mit einer Gesellschaft passieren kann, wenn Gewalt und Unterdrückung zur primären gesellschaftlichen Umgangsform werden.
MP: Was mir dabei besonders aufgefallen ist, sind die vielen Querverweise aufs Kino. Wir wollen nicht zu viel verraten, aber es gibt bestimmte Szenen mit deutlichen Referenzen zu Filmen und Filmschaffenden wie z.B. Dziga Vertov oder Stanley Kubrick. Und wie Carlo schon meinte: der Film ist völlig anders als der, den wir 2020 gezeigt haben. Dieser hier ist eher vergleichbar mit seinem früheren Film L’image manquante.
Les passagers de la nuit (The Passengers of the Night) von Mikhaël Hers spielt zu einem sehr spezifischen Zeitpunkt, 1981, während der Präsidentschaftswahl in Frankreich. Trotzdem ist es eine vergleichsweise allgemeingültige Geschichte, bei der es um Familienleben und Gemeinschaft geht. Wie passen diese beiden Aspekte zusammen?
MP: Man erkennt den Einfluss der 1980er in den Anspielungen an die Filmschaffenden der Zeit. Wir sehen einen Éric-Rohmer-Film, wir sehen Jacques Rivette in der U-Bahn, wir hören die Musik von Joe Dassin. Der Film funktioniert durch die spezifischen Elemente dieser Periode, aber auch wegen seiner Allgemeingültigkeit. Selbst wenn man diese Anspielungen nicht versteht, kann man dennoch die Familiendynamik nachvollziehen. Man versteht, dass diese Figuren Personen sind, die etwas sehr Nachvollziehbares durchmachen, das in den 1980ern passieren kann, oder heutzutage, oder eigentlich zu jeder Zeit. Und am Ende hat man sie auf dieser Reise ein Stück weit begleitet. Das andere, das mir an diesem Film besonders gefallen hat, ist die Tatsache, dass sich die Figuren gar nicht so sehr verändern. In gewisser Weise ist das lebensnaher. In vielen Spielfilmen gibt es forcierte emotionale Wandlungen, forcierte Persönlichkeitsveränderungen. In diesem Film wachsen die Charaktere zwar, müssen jedoch nicht zwangsweise dramatische Transformationen durchlaufen. Ich denke, dass der Film deshalb funktioniert.
CC: Da stimme ich Mark zu. Ich finde, dass der Film sich dadurch realistischer anfühlt. Er hat Aspekte, die sehr spezifisch und realistisch sind, aber gleichzeitig sind die Energie des Drehbuchs und die Regieanweisungen an die Darsteller*innen so stark, dass die Figuren hoffentlich von allen angenommen werden können. Es gibt also eine interessante Art von Verbindung zwischen der Fiktion und dem Realen, zwischen dem Detail und dem Allgemeingültigen, die, wie ich glaube, sehr gut umgesetzt wurde.
Drii Winter (A Piece of Sky) von Michael Koch scheint ein Werk zu sein, in dem Raum von unglaublicher Bedeutung ist – sowohl der Raum, in dem der Film spielt, also die Alpen, als auch der optische Raum des filmischen Bilds.
CC: Filmemachen bedeutet in erster Linie eine Möglichkeit zu finden, einen Raum zu übersetzen – mittels der Bildeinstellung und der Art, wie die Einstellungen miteinander verknüpft sind. Und die Bildeinstellung in einer Großstadt ist anders als 2000 Meter über dem Meeresspiegel in einer natürlichen Umgebung. Eine der größten Leistungen von Drii Winters ist tatsächlich, ein sehr starkes und doch realistisches Gefühl des Lebens in den Bergen zu schaffen und zu vermitteln. Vor vielleicht fünf Jahren habe ich mich mit Michael Koch unterhalten und er sagte: „Ich werde einen Sommer in den Bergen verbringen, weil ich verstehen möchte, wie die Menschen dort leben.“ Mich hat sehr beeindruckt, wie die Kamera an genau der richtigen Stelle positioniert wurde, um diese Art von Geschichte an genau diesem Ort zu erzählen. Ich komme selbst aus den Bergen und weiß das wirklich zu schätzen.
MP: Außerdem wurde der Film im 4:3-Format gedreht, nicht im Breitbildformat, was ein Leichtes gewesen wäre, wenn man in solch herrlichen Landschaften unter freiem Himmel dreht. Aber dieses gestutzte 4:3-Bild richtet unseren Fokus viel stärker auf die Einstellung, was tatsächlich einen Sinn ergibt, wenn man es mit Bergen zu tun hat. Berge sind hoch, nicht breit. Wenn das die erste Entscheidung war, die Michael Koch getroffen hat, dann war das die beste Entscheidung in der Herstellung dieses Films.
Eine auffällige Besonderheit bei Nana (Before, Now & Then) von Kamila Andini ist, wie der Film mit Geheimnissen umgeht. Das ist in der Handlung so angelegt, aber es ist fast so, als ob der Film dem Publikum etwas verheimlicht, denn er ist sehr subtil, hat eine sehr kunstvoll verflochtene Handlung und enthüllt sie nur in kleinen Schritten.
CC: Das ist ein wirklich mysteriöser Film, er gibt nicht alles preis. Die Einzelteile der Geschichte liegen in chronologischer Reihenfolge vor, aber nicht in der logischen Reihenfolge, die man benötigt, um den Überblick zu behalten. Also muss man sich immer ein wenig vor- und zurückbewegen, was ein bisschen desorientierend sein kann, das Ganze aber auch rätselhafter und interessanter macht. Nana nimmt außerdem eine sehr konkrete Perspektive ein, nämlich die von Frauen in Indonesien in den 1960ern und deren Blick auf die Gesellschaft. Es ist ein sehr politischer Film, der nur von einer Frau gemacht werden konnte.
MP: Ich denke, wenn man sich auf diesen Film einlässt, ohne etwas Geradliniges zu erwarten, wird man dafür umso mehr belohnt. Es läuft nicht alles von A nach B nach C nach D. Und man kann den Film auch unabhängig von der Handlung verstehen, man begreift ihn über das Schauspiel, die Inszenierung, das Umfeld. Man muss verstehen, dass man in der Hand der Filmemacherin ist, und man muss darauf vertrauen, dass sie einen bis zum Ende mitnimmt, dann wird man belohnt.
Paolo Tavianis jüngstes Werk Leonora addio verbindet den Tod und die Überführung der Asche des italienischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Luigi Pirandello mit einer Geschichte mit dem Titel „Der Nagel“, die dieser vor seinem Tod geschrieben hat und die von einem kleinen Jungen handelt, der in Brooklyn ein junges Mädchen tötet.
CC: Für mich liegt die Schönheit dieses Films darin, dass er klare Zusammenhänge vermeidet. Es liegt ganz an den Zuschauer*innen, Zusammenhänge herzustellen oder auch nicht. „Leonora addio“ lautet auch der Titel eines Romans von Pirandello, aber die Handlung des Films ist nicht die des Romans. Und die Geschichte der Asche ist nicht die wahre Geschichte Pirandellos. Ich schätze, dass Paolo Taviani, wie eigentlich jeder, ein Bewunderer Pirandellos ist – er hat zusammen mit seinem Bruder schon früher zu Pirandello gearbeitet (mit Kaos und Tu ridi). Aber er ist sich auch Pirandellos Verbindung zum Faschismus bewusst. Der Film beginnt damit, dass ein alter Mann stirbt. Das könnte Pirandello sein, aber eigentlich geht es darum, dass das Leben zu schnell dahinfließt. Ganz allgemein geht es in Leonora addio darum, was mit den Überresten eines Menschen passiert, wen er oder sie berühmt ist – und um all die tragischen und komischen Aspekte, die jede Art von Feierlichkeit nach dem Tod mit sich bringt. Es gibt da eine großartige Szene, die zeigt, wie die Asche in einem Kindersarg durch die Stadt paradiert wird; eine Szene, in der Komödie, Tragödie und Groteske Hand in Hand gehen – etwas, das es bei den Tavianis öfter gibt. Und um die Verbindung zurück zu Rithy Panh herzustellen: Leonora addio ist ebenfalls ein Film, der das Kino als eine Vorratskammer für Bilder benutzt – starke Bilder, wie in einer Wochenschau oder in Spielfilmen hauptsächlich aus dem Neorealismus.
Ein gemeinsames Merkmal vieler Filme in diesem Jahr ist ihr Handlungsort außerhalb der Großstadt, bzw. eine Reise aus der Großstadt hinaus aufs Land. Welchen Einfluss hat das auf das Filmerlebnis?
MP: Diese Filme haben normalerweise einen anderen Rhythmus als Filme, die in der Hektik der Großstadt gedreht wurden. Im Fall von Yin Ru Chen Yan (Return to Dust) von Li Ruijun und Un été comme ça (That Kind of Summer) von Denis Côté gibt es beispielsweise unterschiedliche Lebensrhythmen. Um eine Verbindung zu den letzten Jahren herzustellen: Wenn man den ganzen Tag zuhause sitzt, hat man einen anderen Rhythmus, als wenn man unterwegs ist.
Würdet Ihr sagen, dass da auch eine Verbindung zu der Sehnsucht besteht, Filme im Kino zu zeigen, wo es keine Ablenkung gibt und das Publikum sich wirklich auf den Film konzentrieren kann?
CC: Ja und nein. Was dieses Jahr nicht passieren wird, wonach ich mich aber wirklich sehne, ist es, mir einen Film in einem vollen Kinosaal mit einem großen Publikum anzusehen. Die Menschenmenge ist wahrscheinlich das einzige, was in den Filmen unserer diesjährigen Auswahl fehlt, und die Menge wird wahrscheinlich auch ganz anders empfunden als noch vor ein paar Jahren.
MP: Es gibt einen Film mit mehreren Massenszenen, Un año, una noche (One Year, One Night), was uns überrascht hat, weil viele der eingereichten Filme, die wir uns für die Auswahl angesehen haben, eine kleine Anzahl an Figuren an wenigen Drehorten hatten. Einige davon haben es ins Programm geschafft, zum Beispiel Peter von Kant, der eine Art Kammerspiel ist.
CC: Wir sind uns bewusst, welchen Aufwand es heutzutage erfordert, ins Kino zu gehen, aus unserer Perspektive als Programmmacher und Organisatoren, aber auch aus der Zuschauer*innenperspektive. Heutzutage aus dem Haus zu gehen hat eine andere Bedeutung. Wir sind uns auch bewusst, dass Kino ein Ort ist, an dem man Filme mit anderen Menschen zusammen sieht, dort bestimmt man aber nicht die Regeln, man kann nicht tun und lassen, was man will – aufs Handy schauen, den Film anhalten, ein Glas Wasser holen. Es gibt ein paar Regeln, die man einhalten muss, und wahrscheinlich ist es wichtig, sich wieder daran zu gewöhnen. Man gewöhnt sich schnell etwas an und schwerer wieder ab, besonders wenn es bequeme Gewohnheiten sind.