2023 | Forum Expanded
An Atypical Orbit
Mit 33 Werken aus 19 verschiedenen Ländern gehen Ala Younis und Ulrich Ziemons in ihr zweites Jahr als Sektionsleiter*innen des Forum Expanded. Im Interview sprechen sie über Momente der Anziehung und Abstoßung, außergewöhnliche Perspektiven und weitere Schwerpunkte im 2023er-Programm.
Ihr habt die diesjährigen Filme und Installationen als künstlerisches Experimentieren mit einem emotionalen Fokus beschrieben, um atypische Umlaufbahnen zu erschaffen, die zerrüttete politische und persönliche Geschichten umkreisen. Wie hat sich dieses übergeordnete Thema im Laufe des Auswahlprozesses entwickelt?
Unsere Programme entstehen mehr oder weniger organisch, ohne dass wir vorab eine genaue Vorstellung von einem Thema haben. Oder im Vorfeld eine Thematik definieren würden, nach der wir gezielt Werke auswählen. Während unseres Auswahlprozesses tauchen aber üblicherweise Überlegungen und Bedeutungen auf, die sich bei den Filmen und Installationen, die wir sehen und diskutieren, überschneiden. Viele Arbeiten, die wir dieses Jahr gesehen haben, schienen sich mit dem Überbrücken oder Ausloten von Lücken und Entfernungen, seien sie räumlich oder zeitlich, auseinanderzusetzten.
Ausgangspunkt der Werke waren oft persönliche oder familiäre Geschichten und ihre Begleitumstände. Die Künstler*innen und Filmschaffenden im Programm setzen sich beispielsweise mit Erfahrungen von Exil und Migration auseinander; sie graben sich in die Vergangenheit ihrer Familien ein oder versuchen, sich die Welt aus dem Blickwinkel nichtmenschlicher Wesen vorzustellen.
Sie alle teilen die Sehnsucht, Dinge zu erfahren, sie aufzudecken und freizulegen, aber auch eine Zärtlichkeit, die aus emotionaler Verbundenheit und Mitgefühl entsteht. Wir hatten die Idee zur „atypischen Umlaufbahn“, da dieses Bild etwas von der Spannung zu beschreiben schien, die viele Künstler*innen mit ihren Themen verbindet. Jene Spannung ähnelt der Schwerkraft, die zwischen den umeinander kreisenden Himmelskörpern wirkt. Letztere ziehen sich gegenseitig an, versuchen aber im gleichen Augenblick auseinanderzudriften. Sie befinden sich in einem empfindlichen Gleichgewicht. Aber diese Balance ist keine selbstverständliche, gleichbleibende Konstante. Die relative Position zwischen den beiden Gravitationspolen verändert sich permanent, sie oszilliert, oft auf unvorhersehbare Weise.
Könnt Ihr einige Beispiele dafür nennen?
Der tibetisch-amerikanische Künstler Tenzin Phuntsog ist in der Gruppenausstellung An Atypical Orbit mit fünf Arbeiten vertreten, in denen das Familiäre ein Anker zur Realität ist. Da er selbst im Exil lebt, wurden seine Eltern zu Pfeilern seiner Fantasie und Methode, um diese Realitäten aufrechtzuerhalten: eine unerreichbare Heimat. Intime Porträts der Eltern und von nahen Verwandten beim Verrichten banaler Alltagstätigkeiten (wie Schlafen, zärtliche Berührungen), werden zu Illustrationen des unausweichlichen Verstreichens von Zeit, d.h. sie erschaffen dabei zeitliche und räumliche Verbindungen zu ihrer Heimat. Die Filme sind an einer impulsgebenden Kraft festgemacht oder auf sie fixiert, das können längst vergessene Bilder aus der Vergangenheit eines Menschen sein, eine unfreiwillige Loslösung von Teilen der Erde, anhaltende Emotionen oder ihr Überfluss.
Deborah Stratman hingegen dokumentiert in Last Things die Erde aus der Sicht der Steine. Der Film oszilliert zwischen wissenschaftlichen und avantgardistischen Vorstellungswelten; er taucht ein in Mikro- und Makrokosmos-Erfahrungen und bringt die Zuschauer*innen ganz nah an den Ort, an dem faszinierend komplexe, transparente, farbenfrohe und schillernde Texturen das Innere der Moleküle dieses Festkörpers bilden.
Der Perspektivwechsel der Betracher*innen, die Übernahme unverkennbarer und manchmal weniger präsenter Sichtweisen ist oft eine treibende Kraft der Werke aus den Filmprogrammen. Graeme Arnfield zeigt uns in Home Invasion die Welt aus der Sicht eines Türspions. Er entdeckt und reproduziert Geschichten über Paranoia, die zu Erfindungen im Bereich von Sicherheit und Überwachung in privaten Haushalten geführt haben.
Habt Ihr weitere Themen identifiziert, die in mehreren Werken behandelt werden?
Zwei Filme im Programm stellen beispielsweise Überlegungen und Recherchen rund um das Thema künstliche Intelligenz an. In Simia: Stratagem for Undestining arbeitet der ägyptische Künstler Assem Hendawi mit einem fiktiven KI-Programm zusammen, um eine Erzählung zu erstellen, die auf die Geschichte kapitalistischer und kolonialistischer Gewalt im Nahen Osten reagiert. Er füttert die Künstliche Intelligenz mit Aussagen aus Werken von Frantz Fanon, Marx und anderen Denker*innen sowie mit Archivmaterial aus dem Nahen Osten von 1940 bis in die 2000er Jahre - etwa Abbildungen von modernistischer Architektur aus Afrika. Die KI antwortet mit Bildern und Strukturen, die Assem umfunktioniert und daraus eine Welt modelliert, die jenseits der von Algorithmen verwendeten allgemeinen Klischeevorstellungen liegt. Er hinterfragt, wie wir unser Denken über Technologie in Richtung eines positiven und emanzipatorischen Vektors neu ausrichten können, während wir uns der Geschichte/Gegenwart der Technologie bei der Gestaltung von Kapitalismus und Kolonialismus und sogar von Polizei- und Militärstaaten bewusst sind.
Der Filmemacher und Kulturtheoretiker Manthia Diawara behandelt ebenfalls das Thema KI. In AI: African Intelligence reist er in den Senegal, um einer Gruppe von Frauen aus den Lébou-Gemeinschaften zu folgen, die mit Geistern in Kontakt stehen, und ihr Ndeup-Ritual aus nächster Nähe zu erleben. Er befasst sich mit der Prekarität solch komplizierter, nicht greifbarer Praktiken und Ideen in afrikanischen Kulturen, die beim Übergang in die algorithmusbasierte Abhängigkeit überschattet werden und sich auflösen.
Exemplarisch, sowohl im Titel als auch in seiner Erzählform, ist der experimentelle Dokumentarfilm von Crystal Z Campbell. Revolver zeigt zirkulierende Kaleidoskopbilder und kombiniert sie mit den Erzählungen einer Nachfahrin der Exoduster. Die Zuschauer*innen werden mit Erinnerungen, Träumen und Visionen ihrer Vorfahr*innen konfrontiert. Wie habt Ihr dieses Werk erlebt?
Crystal Z Campbells Werk basiert auf dem Phänomen der Pareidolie – des Trugbilds –, das im Grunde eine visuelle Erfahrung von etwas beschreibt, das nicht wirklich existiert. Wir sehen beispielsweise ein Gesicht im Schaum unseres Kaffees oder erkennen in einer Wolke am Himmel einen Elefanten. In Revolver werden Teile von Keramiken vor die Kamera gehalten und in kaleidoskopischen Variationen gezeigt. Diese Bilder werden mit einer mündlichen Erzählung über die Exoduster kombiniert. Die Exoduster waren Afroamerikaner*innen, die nach dem Bürgerkrieg in den Mittleren Westen der USA migrierten und dort Städte gründeten. Die Erzählerin kombiniert Erinnerungen und Nacherzählungen mit scheinbaren Träumen und Visionen. Das Werk oszilliert gewissermaßen zwischen einer imaginierten und einer erinnerten Vergangenheit. Dabei wird jedoch keine Form der Erinnerung gegenüber der anderen vorgezogen. Um alle Details der Erzählung zu verstehen, die sehr komplex und mitunter elliptisch ist, sollte man die Arbeit mehrmals sehen. Aber wir sehen den Film auch als eine Aussage darüber, wie Erinnerung funktioniert: Sie ist kein unveränderlicher Katalog stabiler Ereignisse und Fakten, sondern sie entwickelt sich und schwankt, je nachdem, wer sich wann erinnert.
Künstler*innen verfolgen oft das Ziel, die von ihnen behandelten Themen zu prüfen, zu untersuchen und zu hinterfragen, um ungeahnte Wege zu eröffnen. Könnt Ihr ein Beispiel nennen?
Dazu fällt mir Sahnehaye Estekhraj ein. Der Film ist eine schonungslose, aber visuell spielerische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Rohstoffausbeutung, Kolonialismus und Bildtechnologie. Analyse, Untersuchung, Bergung, Rückführung und Rückgewinnung sind Sanaz Sohrabis Instrumente bei ihrer umfangreichen Recherche zur Geschichte der Erdölsuche von British Petroleum im Iran Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Suche wurde mit den damals modernsten bildgebenden Verfahren durchgeführt; dabei zerrissen Explosionen, die Teil des Sondierungsprozesses waren, die Landschaft. Die Filmemacherin untersucht, welche Rückstände auf den Bildern verbleiben, was Loyalitäten in den bis heute vorhandenen Archiven verändern und wie der Blick auf moderne Machtkonstellationen es ermöglicht, Versickerungen bis in die heutige Politik zu verfolgen, die freiwillige und unfreiwillige Migrationen von Gefühlen und Körpern prägen.
Eine weitere bemerkenswerte Arbeit ist Es gibt keine Angst von Anna Zett. Darin wird durch faszinierende Entdeckungen aus dem Archiv der DDR-Opposition das Verhältnis zur Überwachung neu definiert. Zett kombiniert größtenteils ungesehene Filmaufnahmen aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren – von Versammlungen, Sit-ins und der zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale. In ihrem „Kurzthriller“ Es gibt keine Angst werden diese Bilder aus der Endphase der DDR als Marker für Angst und Entfremdung durch den Polizeistaat, aber auch für Hoffnung und Widerstand, genutzt.
Besonders ist auch die Erzähltechnik des Films Exhibition von Mary Helena Clark, die an eine Museumsführung erinnert. Es entsteht ein einseitiges Gespräch zwischen der Erzählerin und den Zuschauer*innen. Welche Themen werden dargestellt und was zeichnet diese Erzähltechnik aus?
Exhibition wird multiperspektivisch erzählt und greift auf Bildmaterial aus den unterschiedlichsten Quellen zurück. Im Wesentlichen wird die Geschichte von zwei Frauen und ihrer Beziehung zu Objekten und Objektifizierung erzählt. Eine ist Künstlerin, die die Berliner Mauer geheiratet hat und eine große Sammlung von Architekturmodellen in ihrem Haus aufbewahrt. Die andere ist eine Frau, die ein Gemälde von Velasquez mit einem Messer angreift. Beide haben intensive Beziehungen zu Objekten. Im Film sprechen sie mit einer einzigen Stimme, so dass die Frage der Perspektive und der Subjektivität auch formal hervorgehoben wird.
Wenn schon von Erzähltechniken die Rede ist, sollten wir auch Mangosteen von Tulapop Saenjaroen aus Thailand erwähnen. Vordergründig handelt es sich um einen narrativen Kurzfilm über einen jungen Mann, der in seine Heimatstadt zurückkehrt, um ins Fruchtsaftgeschäft seiner Familie einzusteigen. Doch sehr schnell entwickelt sich der Film zu einem Werk über das Geschichtenerzählen selbst, mit vielen erzählerischen Wendungen.
Auf ähnliche Weise lädt Borrowing a Family Album Besucher*innen ein, in Amateurfilmaufnahmen, die sich der Künstler Tamer El Said für seine Installation zu eigen gemacht hat, nach ihren eigenen Erinnerungen zu suchen und damit einen Akt kollektiver Erinnerung zu schaffen.
Die Erinnerung in Tamer El Saids Werk ist durchlöchert. Er flickt Teile von ihr, indem er sich Amateurfilmmaterial von einer griechischen Familie ausleiht, und die Besucher*innen bittet, sich an der Rekonstruktion seiner Erinnerung zu beteiligen. Er ist auf der Suche nach Bildern aus der Erinnerung, die nach einem tragischen Familienunglück und dem Verlust seiner Schwester in seiner Kindheit zerstört wurden. In dieser Arbeit versucht der Filmemacher, der Vorstellungskraft der Besucher*innen das zu entlocken, was für ihn ein Familienfoto sein könnte; eines für Phantome von Menschen, die nur als collagierte Geschichten existieren.
Bemerkenswert an den ausgewählten Filmen ist die hohe Anzahl von Produktionsländern: 33 Werke aus 19 verschiedenen Ländern. Wie ist es Euch gelungen, so viele Länder mit einzubeziehen?
Wir haben das große Privileg, auf ein breites, internationales Netzwerk aus Filmschaffenden, Künstler*innen, Kurator*innen und Institutionen zurückgreifen zu können. Die Auswahlgremien von Forum Expanded, Forum und dem Arsenal - Institut für Film und Videokunst (das diese beiden Berlinale-Sektionen organisiert), haben über viele Jahre die Auswahl und Programmgestaltung für das Festival geleistet. Dabei wurden viele Kontakte geknüpft und vertieft. Außerdem stehen wir in ständigem Kontakt mit unseren Berlinale-Kolleg*innen, insbesondere von den Berlinale Shorts. Alle Mitglieder unseres Kurator*innenteams bringen ihre eigenen beruflichen Netzwerke in die Gruppe ein. Und da wir - zu viert - nicht nur in Berlin, sondern auch in Bangalore, Indien, und Amman, Jordanien, ansässig sind, bestehen auch Verbindungen auf regionaler Ebene. Uns ist allerdings bewusst, dass wir noch mehr tun müssen, um Verbindungen zu Teilen der Welt und zu Film- und Kunstszenen zu knüpfen, die bisher nicht in unserem Programm vertreten waren. Wir arbeiten ständig daran und hoffen, dass sich Forum Expanded kontinuierlich weiterentwickeln wird. Unser Ziel ist es, ein Programm zu präsentieren, das möglichst breit gefächert ist, sowohl in geografischer als auch sonstiger Hinsicht. Dieses Jahr haben wir beispielweise Filmemacher*innen im Programm, die zwischen 22 und 88 Jahren alt sind: Dan Guthrie und Yvonne Rainer!