2008
58. Internationale Filmfestspiele Berlin
07. – 17. Februar 2008
„Die Berlinale wirkt nicht nur als Kick für die Kinostadt Berlin nach. Sie exportiert auch ein sehr spezifisches Berlin-Gefühl, eine Mischung aus Bodenständigkeit und Herzlichkeit, die den menschlichen Kern erreicht, der auch im größten Star steckt. Diese Bodenhaftung ist neben dem Glamour Teil der Erfolgsstory." – Tagesspiegel
Angesichts des fulminanten Staraufgebots nahm der Glamourfaktor bei der 58. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin einen großen Teil der journalistischen Aufmerksamkeit ein. Viele freuten sich über den Besuch berühmter Schauspielerinnen wie Tilda Swinton, Penélope Cruz, Kristin Scott Thomas, Natalie Portman und Scarlett Johansson, die das Berliner Publikum bereits mit ihrer bloßen Anwesenheit begeisterten. Dazu gesellten sich mit Nanni Moretti, Daniel Day-Lewis, Sir Ben Kingsley und Willem Dafoe auch männliche Pendants mit ähnlichem Bekanntheitsgrad. Der absolute Publikumsliebling kam allerdings nicht aus den Sphären Hollywoods oder europäischen Gefilden, sondern ließ die Herzen der Fans des indischen Kinos höher schlagen: Bollywood-Star Shah Rukh Khan stellte seinen neuen Film Om Shanti Om als Berlinale Special vor und versetzte mit seinem Erscheinen die halbe Stadt in Aufruhr.
Filme, Prominenz und politische Anliegen
Einige wenige Kritiker monierten eine zu starke Fokussierung auf die Welt des Glitzers. So stellte Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau gar süffisant die Frage, ob man die Filmfestspiele nicht „durch ein Prominenz-Festival ersetzen“ solle. Im Allgemeinen überwog jedoch der Eindruck, dass den unumstößlichen und prägnanten Mittelpunkt der Berlinale immer noch die Filme ausmachen. Ohne sie wäre es sicherlich nicht möglich gewesen, die Zahl der verkauften Eintrittskarten (auf über 240.000) und der akkreditierten Fachbesucher zum wiederholten Male zu steigern.
Zu den mit Spannung erwarteten Höhepunkten gehörte natürlich die Verkündung der Preisträger am letzten Festival-Samstag. Dass sich die Internationale Jury unter Vorsitz des Filmregisseurs Costa-Gavras kurz vor Berlinale-Beginn überraschend von acht auf sechs Mitglieder dezimiert hatte (Susanne Bier und Sandrine Bonnaire mussten kurzfristig absagen), tat der Diskussionsfreudigkeit der Gruppe zum Glück keinen Abbruch. Mit ihrer Entscheidung, dem brasilianischen Beitrag Tropa De Elite von José Padilha den Goldenen Bären zu verleihen, trafen die Juroren eine zugleich überraschende wie bestätigende Wahl. Überraschend, weil wenige den Film mit seiner realismusnahen, außergewöhnlichen Ästhetik auf ihrer Liste potentieller Gewinner hatten. Bestätigend, weil das behandelte Thema von Korruption und Machtmechanismen innerhalb einer brasilianischen Polizeieinheit dem (vor allem von Costa-Gavras) erwarteten gesellschaftskritischen Gehalt der Entscheidung entsprach. In diesem Sinne ging auch der Große Preis der Jury an einen dezidiert politischen Film, und zwar an den ersten Dokumentarfilm, der jemals im Wettbewerb der Berlinale um die Bären konkurrieren durfte: Errol Morris’ Standard Operating Procedure über die skandalösen Ereignisse und Foltermethoden US-amerikanischer Militärs im irakischen Gefangenenlager von Abu-Ghraib.
Die Mischung von glanzvollen Momenten auf der einen und politisch brisanten Themen auf der anderen Seite zog sich durch das gesamte Festival. Und selten präsentierten sich die einzelnen Sektionen dabei so aufeinander abgestimmt wie in diesem Jahr. So spiegelte sich das Thema der Elendsviertel aus dem Gewinnerfilm variationsreich in den Programmen der anderen Sektionen wieder, etwa in Los olvidados in der Retrospektive, Cidade dos Homens in Generation oder Sleep Dealer im Panorama.
Musik für Herz und Kopf
Noch verbindender und im wahrsten Sinne des Wortes durchdringender war allerdings in diesem Jahr die Musik. Nicht nur, dass der Brückenschlag zwischen dem künstlerisch unterhaltenden und dem politischen Anliegen der Musiker und Filmemacher oft genug gelang. Nachdem die Rolling Stones bereits mit Regisseur Martin Scorsese für eine furiose Eröffnung der Filmfestspiele gesorgt hatten, folgten in anderen Sektionen gleich mehrere hochkarätige Stars aus der Pop- und Rockwelt nach: Neben Madonna, die ihr Regiedebüt im Panorama vorstellte, waren auch Neil Young und Patti Smith mit Filmen vor Ort.
Mit den ebenfalls musikalischen Produktionen love, peace & beatbox (als Cross-Section-Beitrag mit der Perspektive Deutsches Kino) und War Child stellte die Sektion Generation erstmals zwei Dokumentarfilmbeiträge im neuen 14plus-Kino Babylon in Mitte vor und erweiterte damit ihren filmischen Programmradius. Die Gläsernen Bären wurden mit The Black Baloon in 14plus und Buda Az Sharm Foru Rikht in Kplus jedoch traditionell an Spielfilme verliehen.
Wenngleich der deutsche Film nicht so stark und weitläufig wie in den letzten Jahren auf dem Festival vertreten war, konnte die Perspektive Deutsches Kino mit ihrem Programm durchaus überzeugen. Vor allem der Mut junger deutscher Filmemacher, sich über den eigenen Tellerrand hinauszuwagen, fiel dabei positiv ins Auge und wurde mit dem Teddy für den besten Dokumentarfilm für Football Under Cover und dem Preis Dialogue en perspective für Drifter honoriert. Ebenso erfreulich für den deutschen Film war die Aufnahme der Schauspielerin Hannah Herzsprung in den erlesenen Kreis der Shooting Stars 2008.
Starkes (südost-)asiatisches Kino in Forum und Panorama
Das Forum wurde seiner bewährten Funktion als Anlaufstelle für couragierte und unkonventionelle Filmemacher gerecht und erhielt durch das Forum Expanded mit künstlerischen und installativen Arbeiten abermals eine optimale Ergänzung. Der japanische Forums-Beitrag Asyl - Park and Love Hotel wurde mit dem hochdotierten Preis für den Besten Erstlingsfilm ausgezeichnet. Und auch sonst fiel im breiten Spektrum internationaler Produktionen die Menge eindrücklicher Produktionen aus dem südostasiatischen Raum auf.
Genau dort siedelte auch Teddypreisträger Olaf de Fleur Johannesson die Handlung seines Panorama-Beitrags The Amazing Truth About Queen Raquela an. Nach eigener Aussage wollte er mit seiner Arbeit verdeutlichen, „was soziale Zurücksetzung, Armut, Homosexualität und Crossdressing in einer vom Katholizismus geprägten Gesellschaft wie den Philippinen bedeuten.” Auffallend viele Filme der Sektion zeichneten sich durch einen vergleichbaren und nicht selten gesellschaftskritischen Tiefgang aus. Als roter Faden zog sich dabei eine Rückbesinnung bzw. Hinwendung zu klaren narrativen Formen und Genreformaten durch das Programm.
Markt und Festival – eine erfolgreiche Verbindung
Auch das fachinterne Publikum konnte 2008 wieder die Möglichkeit nutzen, auf dem European Film Market produktive und nachhaltige Geschäftsbeziehungen einzugehen und zu intensivieren. 430 Firmen aus 51 Ländern waren im Martin-Gropius-Bau mit Ständen vertreten und die etwa 6.400 Fachbesucher erhielten einen umfassenden Einblick in aktuelle Entwicklungen der internationalen Produktionslandschaft. Das vermehrte Interesse am Berlinale Co-Production Market als Wegweiser und Motor für internationale Koproduktionen bestätigt zusätzlich die Funktion der Berlinale als Markt- und Arbeitsplattform. 35 Filmprojekte aus 25 Ländern wurden dort in unterschiedlichen Veranstaltungsformen hinsichtlich zukünftiger Koproduktionen diskutiert. Die nicht minder an Bedeutung gewinnende Förderinstitution des World Cinema Fund konnte für das diesjährige Festival seinen Unterstützungsradius erweitern und erstmals auch geförderte Projekte aus den Regionen Südostasien und dem Kaukasus vorstellen.
Der Berlinale Talent Campus im HAU fungierte erneut als idealer Ort für den gemeinsamen Austausch von 349 internationalen Nachwuchsfilmemachern und Professionellen aus allen Bereichen der Filmbranche. Für fachkundige Anregungen und Gespräche konnten prominente Gäste wie Stephen Daldry, Julie Delpy und Maria Schrader als Gäste begrüßt werden, die gemeinsam mit den Talenten die mannigfaltigen Facetten kinematografischer Gefühlswelten erörterten, denen der diesjährige Campus gewidmet war.
Resümierend beschrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Berlinale als "vom Vermarktungsdruck befreite(s) Abenteuer der Kinematographie” und sprach von einer filmischen „Erfahrung der Fülle", die kein anderes Festival weltweit gewähre. Diese Üppigkeit ist nicht zuletzt auch den Berlinale Shorts, der umfangreichen Luis Buñuel-Retrospektive, der Hommage an Francesco Rosi und den zahlreichen Sonderreihen zu verdanken, die 2008 mit "War at Home – Der Vietnamkrieg im US-Kino", "Aufbruch der Filmemacher" mit Werken aus dem Filmverlag der Autoren und dem Kulinarischen Kino zusätzliche Akzente im Programm setzten.
In seiner Dankesrede für den Silbernen Bären (Beste Regie) lobte Paul Thomas Anderson die außergewöhnlich herzliche Atmosphäre der Berlinale und die familiäre Art, mit der Dieter Kosslick das Festival leite, als feiere er eine „Party in seinem Wohnzimmer”. Aber auch die Stadt Berlin leistete ihren Beitrag dazu, dass die Berlinale 2008 zu einem erfolgreichen Auftakt und Highlight des internationalen Festivaljahres wurde: „Berlins Szene, Berlins Kultur und Geschichte sind ein Alleinstellungsmerkmal, das der Berlinale ihren Erfolg und ihr Überleben im immer größeren Festivalzirkus sichert. Es ist der Mythos Berlin, der hier Jahr für Jahr neu aufgeladen wird.“ (Tagesspiegel)
Die Berlinale 2008 in Zahlen
Besucher | |
---|---|
Kinobesuche | 450.115 |
Verkaufte Eintrittskarten | 240.098 |
Fachbesucher | |
Akkreditierte Fachbesucher (ohne Presse) | 15.930 |
Anzahl Herkunftsländer | 125 |
Presse | |
Pressevertreter | 4.152 |
Herkunftsländer | 82 |
Screenings | |
Anzahl Filme im öffentlichen Programm | 367 (davon 106 Kurzfilme) |
Anzahl Vorführungen | 895 |
European Film Market | |
Fachbesucher | 6.443 |
Anzahl Filme | 732 |
Anzahl Screenings | 1.105 |
Stände auf dem EFM (Martin-Gropius-Bau & Business Offices) |
120 |
Anzahl Aussteller | 430 |
Berlinale Co-Production Market | |
Teilnehmer | 461 |
Anzahl Herkunftsländer | 49 |
Berlinale Talent Campus | |
Teilnehmer | 349 |
Anzahl Herkunftsländer | 90 |