2024

74. Internationale Filmfestspiele Berlin

15. – 25. Februar 2024

Best of Berlinale 2024

Zahlen & Fakten 2024

„Es wäre spannend gewesen mitzuerleben, wohin sich die Berlinale hätte entwickeln können, wenn dem neuen Leitungs-Duo mal ein paar Jahre unter stabilen Rahmenbedingungen vergönnt gewesen wären.“
Anna Edelmann und Thomas Willmann, „artechock.de“, 07.03.2024

Zum Ende der 2023er-Edition und nach zwei kräftezehrenden Jahren 2021 und 2022, in denen die Corona-Pandemie den Takt vorgegeben hatte, schien es, als würde sich das Festival nun wieder in ruhigeren Gewässern befinden. Ein Eindruck, der sich dann doch als trügerisch herausstellte. Die Zeit bis weit nach dem Festival 2024 war geprägt von Krisen und Konflikten, die die Festivalleitung erneut vor immense Herausforderungen stellten. Dass sie es in dieser angespannten Situation schaffte, den Grundgedanken der Berlinale, ein Ort der Meinungsfreiheit, des respektvollen Austauschs und der Diskussion zu sein, ins Werk zu setzen, ging im Angesicht einer überhitzten Medienlandschaft und einer politischen Debatte, die sich immer stärker polarisierte, beinahe unter.

Finanzierung

Bis zum Sommer 2023 mussten sich Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian mit den Finanzen beschäftigen. Infolge der hohen Inflation, die u. a. mit dem Ukrainekrieg einherging und der in Kulturkreisen immer schwierigeren Suche nach Sponsoren blieb keine andere Option als Veränderungen in der Programmstruktur vorzunehmen. Die Perspektive Deutsches Kino und Berlinale Series wurden nicht fortgeführt. Serielles Erzählen und der deutsche Nachwuchsfilm sollten ihren Platz in den anderen Sektionen finden. Die Gesamtanzahl der Filme wurde ein weiteres Mal reduziert, von 200 sprach man im Juli, tatsächlich wurden es 243 (zum Vergleich: im letzten Kosslick-Jahr 2019 waren es noch 400). Von den verbliebenen Sektionen traf es besonders die Hommage, die 2024 mit nur noch einem Film vertreten war. Vor allem in Deutschland waren nicht alle glücklich mit dem neuen Konzept, es gab Sorgen, das Festival könne in die Bedeutungslosigkeit geschrumpft werden. Der große Aufschrei blieb jedoch aus, barg die Verkleinerung schließlich auch die Chance, endlich das komprimierte, fokussierte Programm bieten zu können, dass sich nicht nur viele Kritiker*innen seit Jahren herbeisehnten.

Eine letzte gemeinsame Berlinale: Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek und der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian

Brisante Entwicklungen

Anfang September 2023 folgte ein unüberhörbarer Eklat. In einer Pressemitteilung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth vom 31.08.2023 hieß es: „Der Aufsichtsrat der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin (KBB) GmbH hat unter Vorsitz der Kulturstaatsministerin in seiner Sitzung am 31. August 2023 beschlossen, die Leitungsstruktur der Berlinale zu reformieren.“ Eine Nachricht, die nicht unerwartet kam, hatte die Staatsministerin im März 2023 eine Überprüfung der Governance-Struktur angekündigt.

Mariëtte Rissenbeek hatte im März verkündet, ihren Vertrag nicht zu verlängern. Unklar blieb zunächst die zukünftige Rolle des Künstlerischen Leiters, dessen Vertrag ebenfalls am Ende der 74. Berlinale auslaufen würde. Hieß es seitens der BKM zunächst noch, Chatrian wolle „mit der neuen Intendanz in konstruktive Gespräche über eine künftige Rolle im neuen Team der Berlinale“ treten, so verfasste der Künstlerische Leiter in Folge einer Misskommunikation mit Claudia Roth, deren Haus einen größeren Anteil am Budget des Festivals stellt, eine persönliche Stellungnahme: „Ich dachte, dass Kontinuität gewährleistet werden könnte, wenn ich weiterhin Teil des Festivals bliebe, aber in der neuen Struktur, so wie sie nun vorgestellt wurde, ist ganz klar, dass die Bedingungen für mich, als künstlerischer Leiter weiterzumachen, nicht mehr gegeben sind."

Christian Petzold, einer der Unterzeicher des offenen Briefes und Mitglied der Internationalen Jury 2024

Aufsehenerregende Unterstützung bekam er von einer ganzen Reihe bekannter Filmschaffender. Im Internet tauchte ein offener Brief auf, in dem es hieß: „We, a diverse group of filmmakers from all over the world, who have deep respect for Berlin International Film Festival as a place for great cinema of all kinds, protest the harmful, unprofessional, and immoral behavior of state minister Claudia Roth in forcing the esteemed Artistic Director Carlo Chatrian to step down despite promises to prolong his contract“ (zitiert nach Elsa Keslassy, Naman Ramachandran, „Variety“, 06.09.2023). Auf der Liste der Unterzeichner*innen waren auch Namen zu finden, die für das Festival im Februar wichtig werden sollten: am prominentesten Martin Scorsese, der zur 74. Berlinale mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet wurde, und Christian Petzold, Mitglied der 2024er Internationalen Jury. Umstimmen konnte diese Einlassung Roth nicht. Sie beauftragte eine Findungskommission mit der Suche nach geeigneten Kandidat*innen für die Nachfolge und präsentierte Mitte Dezember zur durchaus positiven Überraschung der Kommentator*innen die US-Amerikanerin Tricia Tuttle als neue Festivalintendantin. Die Ära Rissenbeek/Chatrian sollte damit nach der 74. Berlinale und fünf Jahren Amtszeit zu Ende gehen.

Heimsuchungen

Zudem holten weltpolitische Krisen das Festival ein. Was am 7. Oktober 2023 geschah, sollte die Berlinale bis zu ihrem Abschluss und darüber hinaus des Öfteren ins mediale Kreuzfeuer bringen. Der Tag war gezeichnet von einem brutalen Überfall der Hamas auf das Staatsgebiet Israels. Die Terrororganisation richtete ein Massaker unter Zivilist*innen an und nahm darüber hinaus hunderte Menschen als Geiseln. Israels schneller und harter Gegenschlag löste eine humanitäre Katastrophe in Gaza aus. Das Festival wurde von allen Seiten massiv unter Druck gesetzt, Stellung zu beziehen. Die Berlinale geriet so an einen unhaltbaren Ort, bedeutete in dieser vergifteten Situation jegliche Solidaritätsbekundung, sich dem Hass und den Anfeindungen einer der vielen Parteien auszusetzen. Die Erwartungen politischer Akteur*innen und anderer, die in dieser Situation aufgrund der deutschen Vergangenheit eine unverbrüchliche Treue zu Israel einklagten, und Kulturschaffender, unter denen viele Solidarität mit den Palästinenser*innen forderten, widersprachen sich. Eine bedachte Mitte kam in der aufgeladenen Stimmung kaum mehr zu Wort. Offene Briefe und Boykottaufrufe sorgten auch in der Folgezeit für eine nahezu hysterische Stimmung, stetig befeuert von den sozialen Medien, die sich schon seit Jahren in Teilen zu Radikalisierungs- und vor allem Skandalisierungsmaschinen entwickelt hatten. Die Festivalleitung blieb standhaft, bis zum Schluss ließ sie sich auf keine der beiden Seiten ziehen und bestand auf der Idee einer Berlinale und des Kinos als Orte des friedlichen Austauschs und des Dialogs. Ihre Sympathie galt allen Opfern von Krieg und Gewalt und die Filme, das Programm sollten für sich sprechen.

„MOVIES UNITE, HATE DIVIDES“ - Button zur 74. Berlinale

Ausladungen

Der nächste mediale Sturm folgte, als die Festivalleitung beschloss, die zur Eröffnungsveranstaltung eingeladenen Mitglieder der AfD-Fraktion wieder auszuladen. In den zurückliegenden Wochen und Monaten hatte sich – insbesondere durch die Enthüllung eines Treffens von AfD-Mitgliedern in Potsdam mit einem der Köpfe der offen rechtsextremen Identitären Bewegung durch das Journalist*innenkollektiv CORRECTIV – herauskristallisiert, dass die Partei nicht mit den unveräußerlichen Grundwerten der Berlinale zu vereinbaren war. Nach dem Potsdamer Treffen zogen überall in Deutschland Hundertausende auf die Straßen, um für Demokratie und gegen Ausgrenzung zu protestieren. Die schweigende Mehrheit wurde laut. Ein Stimmungsumschwung, dem sich auch das Festival nicht entziehen konnte. Dabei verlangte die Ausladung viel Mut, denn sie stellte die traditionellen Gegebenheiten politischer Prozesse in Frage. So ist es Usus, demokratisch gewählten Parteien – wie der Alternative für Deutschland –, deren Vertreter*innen in Kulturausschüssen und im Berliner Abgeordnetenhaus sitzen, bestimmte Kartenkontingente zukommen zu lassen. Doch das Festival zeigte Haltung: „Forderungen nach einer homogenen Gesellschaft, nach Zuwanderungsrestriktionen und Massenabschiebungen, homophobe und queerfeindliche oder rassistische Äußerungen bis hin zu schlimmem Geschichtsrevisionismus und klarem Rechtsextremismus – all das findet man bei der AfD“, so die Festivalleitung in einer Pressemitteilung. Und bei der Eröffnungsgala betonte Mariëtte Rissenbeek: „Hass steht nicht auf unserer Gästeliste.“

„Filme gibt es übrigens auch“

Nach diesem Vorlauf titelte „Der Spiegel“ zum Start des Festivals am 15.02.2024: „Filme gibt es übrigens auch“. Und ein sichtlich genervter Christian Petzold gab nach beständigen Fragen zur weltpolitischen Lage bei der Pressekonferenz der Internationalen Jury zu Protokoll: „Wenn Künstler über Gaza sprechen und […] dann noch über die Ukraine, dann über fünf AfD-Hanseln, dann denk ich mir irgendwann… Wir sind doch hier zum Filme schauen.“ Andreas Kilb kommentierte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Die Kunst, auch die des Kinos, ist zum Schauplatz von Debatten geworden, die sich nicht um Kultur, sondern um Imperialismus, Antisemitismus und andere Ideologien drehen“ (17.02.2024). Der Eröffnungsteppich glich mitunter einem Schaulaufen der politischen Parolen. Es wurde an den rassistischen Anschlag von Hanau 2020 erinnert, eine menschliche Lichterkette skandierte „Defend Democracy“ in den Nachthimmel, die Jury für den GWFF Preis Bester Erstlingsfilm forderte „CEASEFIRE NOW“.

Subtil und weniger subtil präsentierte Forderungen während der Festivaltage: Die Teams von August My Heaven und Chime beim Photo-Call, das Team von Teaches of Peaches auf dem Roten Teppich

Gelungene Festivaltage

Nach diesem mitunter überfrachteten Auftakt verliefen die Festivaltage bis zum großen Finale der Preisverleihung verhältnismäßig ruhig, nur Einzelne brachten ihre Botschaften mal subtil, mal weniger subtil, unters Publikum.

Ein Höhepunkt war die Verleihung des Goldenen Ehrenbären an die Regielegende Martin Scorsese. Wie im Vorjahr, als Steven Spielberg den Pressekonferenzsaal verzaubert hatte, wurden auch 2024 Journalist*innen schnell zu Fans, „jeder Satz [Scorseses] ein Geistesblitz, selbst Festivalchef Carlo Chatrian und Kinematheks-Direktor Rainer Rother an seiner Seite kommen kaum nach“ (Christiane Peitz, „Der Tagesspiegel“, 21.02.2024). Voller Energie sprach der mittlerweile 81-jährige über die Lebendigkeit des Kinos und die Wichtigkeit der Berlinale auf seinem und dem Karriereweg seiner Kollegen. Am Abend wurde Scorsese auf dem Roten Teppich ebenso euphorisch gefeiert wie im Anschluss bei der Gala im Berlinale Palast.

Einer der Höhepunkte der 74. Berlinale: Die Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Martin Scorsese, die Laudatio hielt Wim Wenders

Überhaupt konnte, wer sich während der Festivaltage in den Kinos umsah, von der in den Medien omnipräsenten Krise der Berlinale nichts spüren. Die Säle waren vollbesetzt, die Stimmung friedlich, der Austausch fruchtbar. Und endlich kamen auch die besonnenen Stimmen zu Wort, wie Tim Caspar Boehme beobachtete: „Der israelische Regisseur Amos Gitai sah sich bei der Premiere seines Films „Shikun“ etwa mit der Bitte eines Zuschauers konfrontiert, Gitai möge Kulturstaatsministerin Claudia Roth bitten, auf die Bundesregierung einzuwirken, ihre diplomatischen Beziehungen zu Netanjahus Regierung zu kappen. Worauf der Regisseur souverän erwiderte, er sei studierter Architekt und mehr daran interessiert, Brücken zu bauen, als sie abzubrechen“ („taz“, 26.02.2024). Einzig im Gropius Bau des European Film Market entrollten pro-palästinensische Aktivist*innen Banner und skandierten Parolen. Große Protestaktionen, wie sie im November die IDFA und im Januar das Sundance Festival gesehen hatten, blieben aus.

Saoirse Ronan, Hauptdarstellerin in Nora Fingscheidts The Outrun, mit Fans am Zoo Palast

Im Panorama fanden sich Perlen wie Nora Fingscheidts The Outrun mit Saoirse Ronan und Entdeckungen wie Sex von Dag Johan Haugerud, in dem zwei norwegische Schornsteinfeger beginnen, ihre „Normalität“ in Frage zu stellen. Barbara Wurm feierte einen erfolgreichen Einstand als neue Leiterin des Forums. Die „cinemacinephil distinguierte Schnappatmung“ (Leonard Krähmer, „cargo.de“, 06.03.2024) die sich bei manchem hartgesottenen Forums-Fan nach Wurms Ankündigung, dass die Sektion nun offener für populäre Formen sei, eingestellt hatte, konnte ein Blick ins Programm schnell zerstreuen. „Es ist alles noch da […]. Das Spektrum hat sich nur in Richtungen erweitert […], die nicht unbedingt abzusehen waren, auch wenn sie vielleicht nicht ganz neuen, sondern bereits vorgezeichneten Linien der nun auch nicht schmalen Forumstradition entspringen mögen“ (Leonard Krähmer, „cargo.de“, 06.03.2024). Des Weiteren gab Nikola Joetze an der Seite von Florian Weghorn ihren gelungenen Einstand als neue Projektleiterin der Berlinale Talents, nachdem sich Christine Troestrum 2023 nach langen Jahren vom Festival verabschiedet hatte. Unter dem Motto „Common Tongues – Speaking Out in the Language of Cinema“ setzten die Talents einen bewussten Gegenpol zur fortschreitenden Spaltung innerhalb der Gesellschaft.

Ein letzter Chatrian-Wettbewerb

Die Bilanz des Wettbewerbs fiel – fast schon obligatorisch – ambivalent aus. Chatrians große Liebe zu den eher kleinen, abseitigeren Filmen wurde auf der einen Seite goutiert und auf der anderen als Defizit benannt. Hieß es im offenen Brief zu Chatrians Verteidigung im September noch „Carlo Chatrian may not be a showman but in his quiet ways, he and his team have chosen an open and artistically rewarding curatorial path, showing new directions in world cinema, challenging stereotypes, and connecting different strands of filmmaking”, so schrieben Melanie Goodfellow und Andreas Wiseman in ihrem Resümé der Ära des Künstlerischen Leiters: „Chatrian himself has a loyal following among hardcore arthouse fans, but sales and distribution professionals have been less impressed, saying the selection has veered too far from the market and the types of indie films that stand a chance in cinemas“ („deadline“, 23.02.2024). Zudem sorgte Chatrians Art, seine Auswahl nicht einzuordnen und stattdessen auf die Wahrnehmungen der Zuschauer*innen zu vertrauen, wie schon in den Vorjahren für geteilte Meinungen. Wie Andreas Scheiner in der „Neuen Zürcher Zeitung“ anmerkte: „Auch in seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter programmierte Carlo Chatrian einen Wettbewerb, den man sich erarbeiten musste. Dass die Berlinale dem Publikum etwas zutraut, ist gut. Aber oft verlieren sich die Filme in ihrer Verkopftheit“ (25.02.2025).

Formenreichtum und das Spiel mit Genreelementen im Wettbewerb: Des Teufels Bad von Veronika Franz & Severin Fiala, L’ Empire von Bruno Dumont, Gloria! von Margherita Vicario, Mé el Aïn von Meryam Joobeur

Tatsächlich bot der Wettbewerb erneut immensen Formenreichtum: Filme, die mit Genreelementen wie Horror oder Science-Fiction spielten, dokumentarische Arbeiten, ein Musical… Oft wurde bemängelt, dass die einzelnen Werke kaum miteinander kommunizierten und keine kuratorische Linie zu erkennen war: „Der Wettbewerb schien völlig disparat – eine Konkurrenz, in der alle nicht nur in unterschiedlichen Ligen spielen, sondern komplett andere Sportarten betreiben“ (Anna Edelmann und Thomas Willmann, „artechock.de“, 07.03.2024). Aber es gab auch positive Stimmen: „Der Jahrgang 2024 demonstrierte noch einmal, was für die Berlinale machbar ist: einige etablierte Filmschaffende, gemischt mit aufstrebenden, ambitionierten Filmemachern, eine stabile Zahl von Stars und die Chance für Werke aus weniger vertrauten Nationen. Unter diesen Vorgaben bleiben die fünf letzten Wettbewerbe als stark bis herausragend in Erinnerung“ kommentierte Marius Nobach im „Filmdienst“ (14.03.2024). Was allerdings selbst bei Nobach mitschwang war die alte, bekannte Forderung nach mehr Glamour à la Cannes und Venedig. Allein der Eröffnungsfilm Small Things Like These von Tim Mielants – mit Cillian Murphy, der für seine Rolle in Christopher Nolans Oppenheimer 2024 einen Monat nach der Berlinale mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, in der Hauptrolle – konnte eine gewisse Starpower im Wettbewerb entfesseln. Die große Prominenz war stattdessen im Berlinale Special zu finden, wo sich unter anderem Kristen Stewart, Adam Sandler, Masatoshi Nagase, Amanda Seyfried, Don Lee oder Hunter Schafer tummelten.

Von Frau zu Frau: Jurypräsidentin Lupita Nyong'o überreicht Regisseurin und Produzentin Mati Diop den Goldenen Bären

Von Bären und Nilpferden

Fast unisono einig war sich die Kritik in ihrer Bewertung der Urteile der Internationalen Jury unter dem Vorsitz ihrer Präsidentin Lupita Nyong’o, der ersten Schwarzen Frau, die jemals dieses Amt bekleidet hatte. Mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde Mati Diops dokumentarischer Beitrag Dahomey, der sich mit der Rückgabe französisch-kolonialistischer Raubkunst an das heutige Benin beschäftigt. Während Andreas Busche die Entscheidung, im zweiten Jahr in Folge den Hauptpreis an einen Dokumentarfilm zu vergeben, als Zeichen für den Niedergang des narrativen Spielfilms sah, („Für den Stellenwert des Erzählkinos […] – und damit für die Bedeutung des Goldenen Bären – ist das ein bedenkliches Zeichen, auch wenn die Auszeichnung zuerst politisch zu verstehen ist“, „Der Tagesspiegel“, 24.02.2024) lag für Guy Lodge die Wahl durchaus in der Logik des hyperpolitisierten Zeitgeistes: „The dominance of nonfiction cinema at this year’s edition, meanwhile, felt indicative of a restless mood in the industry, a reluctance to turn away from a world on fire to the comforts of escapism, as artists reckon with their platform and their privilege, and how best to use them“ („Variety“, 24.02.2024). So richtig glücklich wurde außer Daniel Kothenschulte – „Mit Kennergriff erkannte die Jury in einem durchschnittlichen Wettbewerb große Einzelleistungen“ („Berliner Zeitung“, 26.02.2024) – keine*r der Kritiker*innen. Robert Ide wetterte „Am schwersten begreifbar sind wieder die Entscheidungen der Jurys“ („Der Tagesspiegel“, 25.02.2024) und Katja Nicodemus fragte in der „Zeit“ lapidar „Echt jetzt?“ (24.02.2024).

Der erste Mann, der einen der genderneutralen Darsteller*innenpreise gewinnen konnte: Sebastian Stan

Hong Sangsoo, Dauergast der Berlinale, seit Chatrian übernommen hatte, wurde für Yeohaengjaui pilyo sein vierter Silberner Bär (2024 der Große Preis der Jury) innerhalb der letzten fünf Jahre überreicht. Für Erstaunen sorgte der Silberne Bär Preis der Jury für Bruno Dumonts L’Empire, eine krude Mischung aus Godards Le Mèpris, Star Wars und Monty Python and the Holy Grail, angesiedelt in der nordfranzösischen Provinz. Überrascht nahm man auch den Preisträger der Besten Regie zur Kenntnis. In Nelson Carlos De Los Santos Arias‘ essayistischem Pepe erzählt ein bereits verstorbenes Nilpferd die Geschichte seiner Verschleppung aus dem Off. Mit Sebastian Stan wurde zum ersten Mal seit ihrer Einführung 2021 einer der genderneutralen Schauspielpreise an einen Mann verliehen (für seine Rolle in A Different Man von Aaron Schimberg), während auch 2024 die Kritiker*innen starke Frauen in der Favorit*innenrolle gesehen hatten: Liv Lisa Fries als Widerstandskämpferin in Andreas Dresens In Liebe, Eure Hilde oder Anja Plaschg, die als unglücklich verheiratete Agnes in Veronika Franz‘ und Severin Fialas Des Teufels Bad, einem Horror-Sittenbild des ländlichen Österreichs des 18. Jahrhunderts, mehr und mehr den Verstand verliert. Des Teufels Bad wurde stattdessen mit dem Silbernen Bären für eine Herausragende Künstlerische Leistung in Person des Kameramannes Martin Gschlacht ausgezeichnet. Die Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle an Emily Watson (in Small Things Like These) und das Beste Drehbuch an Matthias Glasner (für seinen Film Sterben) komplettierten die Gewinner der 74. Berlinale. Dass der Kritiker*innenliebling Keyke mahboobe man, dessen Regisseur*innen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha von der iranischen Regierung mit einem Reiseverbot belegt worden waren und deshalb ihren Film nicht persönlich in Berlin vorstellen konnten, bei der Bärenvergabe komplett leer ausging, sorgte für erstauntes Kopfschütteln.

Von Herzen: Die beiden Regisseure Yuval Abraham und Basel Adra nehmen den Berlinale Dokumentarfilmpreis für No Other Land entgegen

Antisemitismus-Vorwürfe

Die Worte, die den großen „Skandal“ auslösten, der das Festival auch Wochen nach der Preisverleihung noch beschäftigen sollte und für schlagkräftige Überschriften sorgte – „Die antisemitischen Abgründe auf der Berlinale“ („Die Welt“, 28.02.204), „Die Schande von Berlin“ („Süddeutsche Zeitung“, 26.02.2024) -, waren allerdings schon vor der Vergabe der Bären gefallen.

Dass No Other Land, eine unbequeme Dokumentation über die brutalen Methoden der israelischen Siedlungspolitik, in der nach dem 7. Oktober aufgeheizten Stimmung zu scharfen Reaktionen führen könnte, war schon vor dem Festival offensichtlich. Sektionsleiter Michael Stütz traf dennoch die im Rückblick kluge und wichtige Entscheidung, den Film ins Programm des Panoramas aufzunehmen, gerade weil er das Thema aus der Perspektive der Betroffenen zeigt. Dass der Film von einem israelisch-palästinensischen Kollektiv, bestehend aus Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor, gedreht wurde, spielte dabei eine wichtige Rolle, wie Stütz im Interview erklärte. Fast folgerichtig wurde der Film aufgrund seiner Nähe zu den tagespolitischen Themen mit dem Berlinale Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Und vielleicht musste man den Film, der eindrücklich vom Leid der Palästinenser*innen erzählt, gesehen haben, um die Worte, die nun auf der Bühne des Berlinale Palastes fielen, einordnen zu können. Sichtlich bewegt sprach der palästinensische Regisseur Basel Adra davon, wie schwer es ihm fiele, in Berlin zu sein, während zehntausende seiner Landsleute von Israel massakriert und abgeschlachtet würden. Sein israelischer Co-Regisseur Yuval Abraham prangerte die Ungleichheit im Westjordanland an und forderte gleiche Rechte für Adra. Abraham sprach von „Apartheid“, was ihm in manchen Kreisen einen Sturm der Entrüstung einbrachte und mitunter sogar Morddrohungen.

Der Kufiya durfte auf der Bühne nicht fehlen: Regisseur Ben Russell und das Team von DIRECT ACTION bei ihrer Dankesrede

Dass der US-Amerikaner Ben Russell, Co-Regisseur von DIRECT ACTION, als Bester Film in Encounters ausgezeichnet, der sich eine Kufiya um die Schultern gelegt hatte, am Ende der Dankesrede seines Teams noch „And of course we’re here standing up for life, ceasefire now, we’re against obviously the genocide, we’re with all our comrades in solidarity“ anfügte, verschärfte die Situation. Wie Nils Minkmar am 26.02.2024 in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb: „Durch die Verwendung der falschen Begriffe Genozid und Apartheid klangen [die Statements der Filmemacher*innen] wie die Kürzel antisemitischer Propaganda. Niemand reagiert, niemand widerspricht mit Macht.“ Dieser ausbleibende Widerspruch machte die Preisverleihung in den Augen mancher Kritiker*innen zu einer tendenziösen Veranstaltung. Gleichzeitig wurde aber auch, zum Beispiel von Hannah Pilarczyk anerkannt, wie wichtig es ist, Meinungsfreiheit zuzulassen: „Die Unterstützerinnen und Unterstützer der fehlgeleiteten »Strike Germany«-Initiative wären gut beraten, sich diese Preisverleihung anzuschauen. Ihr Zerrbild von einem Deutschland, in dem propalästinensische Stimmen mit aller Macht zum Schweigen gebracht werden und das deshalb boykottiert werden müsse, ließe sich nicht länger aufrechterhalten“ („Der Spiegel“, 26.02.2024).

Moderatorin Hadnet Tesfai, Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian bei der Abschlussveranstaltung im Berlinale Palast

Ein Vorfall am Sonntag ließ die Situation allerdings weiter eskalieren: Auf dem Instagram-Account des Panoramas tauchte ein Post im Berlinale-Look mit dem strafbaren, weil das Existenzrecht Israels in Frage stellenden, Slogan „Free Palestine. From the River to the Sea“, auf. Er wurde zwar umgehend gelöscht und die Berlinale stellte Strafanzeige gegen Unbekannt, der Schaden war jedoch angerichtet, sahen sich die Vertreter*innen des Antisemitismus-Vorwurfs in ihrer Meinung bestätigt. So erreichte die seit Monaten überhitzte Stimmung in den Tagen nach dem Festival ihren Siedepunkt. Einige Stimmen skandierten pauschal den Vorwurf einer antisemitischen Veranstaltung. Nahezu forensisch wurden Versuche gestartet, anhand der Bilder der Abschlussgala zu eruieren, wer an welcher Stelle wie laut geklatscht hatte. Das mediale Spektakel löste sich mehr und mehr vom Ereignis selbst. Vorgeworfen wurde der Festivalleitung nicht oft genug an die israelischen Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befanden, erinnert zu haben – dabei hatte Mariëtte Rissenbeek in ihrem Eingangsstatement explizit genau jene Geiseln erwähnt und sie in einem Zug mit der mittlerweile katastrophalen humanitären Lage in einem zerbombten Gazastreifen genannt. Und im Interview erklärte sie umsichtig: „Die Berlinale steht für Demokratie und Offenheit. […] Die Äußerungen von Preisträger*innen sind unabhängige individuelle Meinungen. Sie geben in keiner Form die Haltung des Festivals wieder. Solange sie sich innerhalb der gesetzlichen Grenzen bewegen, müssen wir sie akzeptieren. Wir verstehen die Empörung, dass die Äußerungen einiger Preisträger*innen als zu einseitig empfunden wurden. Aber diese Kontroversen müssen wir als Berlinale und müssen wir als Gesellschaft aushalten“ („BZ-Berlin“, 26.02.2024).

Diese Art, die Filme und ihre Macher*innen für sich selbst sprechen zu lassen und die Berlinale – innerhalb der Grenzen des Grundgesetzes - als Plattform zur Verfügung zu stellen, wurde durchaus gewürdigt: „In der Tat hat das Festival die Zeichen der Zeit erkannt und genutzt. Nicht nur, weil es in seiner Abschlussgala noch einmal deutlich und doch dezent (geschrien wurde nicht) Stellung bezogen hat. Sondern auch, weil sie die in allen Aspekten repolitisierte Kunst im Wesentlichen selbst hat sprechen lassen“ (René Hamann, „Taz“, 25.02.2024). Zudem konnten viele Stimmen den Antisemitismus-Vorwurf nicht nachvollziehen, unter ihnen Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank: „Ich würde von antiisraelischen und einseitigen Äußerungen sprechen, aber nicht von antisemitischer Rhetorik“ (zitiert nach „Der Tagesspiegel“, 27.02.2024). Doch der Wille zur Differenzierung und die Offenheit, sich andere Meinungen anzuhören, die nicht der eigenen entsprechen, waren in Teilen der medialen Öffentlichkeit nicht vorhanden.

Szenen einer kurzen Ära: Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian bei ihrem Auftakt 2020, mit Maske während des Summer Special 2021, mit vorgeschriebenem Abstand im zweiten Corona-Jahr 2022 und 2023 bei der Verleihung des Goldenen Ehrenbären mit Steven Spielberg und seinem Laudator Bono auf der Bühne des Berlinale Palastes

Das Ende einer kurzen Ära

Der scheidenden Festivalleitung hätte man gewünscht, sich in ihrem letzten Jahr auf das Wesentliche konzentrieren zu können: konzentriert Filme zu zeigen und das Kino zu feiern. Doch dies blieb erneut ein frommer Wunsch. Rissenbeek und Chatrian hatten nicht immer ohne Reibung das Festival durch eine der schwierigsten Phasen der Festivalgeschichte geführt. Den Enthüllungen zur NS-Vergangenheit Alfred Bauers 2020 folgten die beiden Pandemiejahre, die das Festival zwar komplett auf den Kopf gestellt hatten, einen erfolgreichen Festivalbetrieb aber nicht verhindern konnten. Auch 2024 gelang es ihnen trotz aller Querelen, ihre letzte Edition erfolgreich zu Ende zu bringen. Ihre Entscheidungen waren nicht immer unumstritten. Manche Stimmen monierten, dass die Absetzung von Perspektive Deutsches Kino und Berlinale Series und das starre Festhalten an Encounters dem Festival mehr schadeten als nutzten. Encounters schwächte in den Augen einiger Beobachter*innen die Profilschärfe von Panorama und Forum, in den Augen anderer aber auch den Wettbewerb. Wie Katja Nicodemus und Thomas E. Schmidt etwa meinten: „Doch ist es nicht leicht, jedes Jahr 20 herausragende Filme für die Berlinale zu finden […]. Statt sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren, installierte Chatrian neben dem eigentlichen einen zweiten aufwendigen Wettbewerb unter dem Titel "Encounters". Die Folge: Die beiden Wettbewerbe kannibalisierten sich gegenseitig“ („Zeit“, 28.02.2024). Die fast schon automatisierten ewigen Unkenrufe der Kritiker*innen konnten auch Rissenbeek und Chatrian nicht auflösen. Und einige der strukturellen Probleme würden sie an ihre Nachfolgerin vererben: die Budgetsorgen, das Kinosterben am Potsdamer Platz und der damit einhergehende Verlust eines echten Festivalzentrums.

Die Regel, nicht die Ausnahme: vollbesetzte Säle wie im Kino International

Doch den stärksten Trumpf konnten sie ohne Verluste an Tricia Tuttle weitergeben: das Publikum. Knapp 330.000 verkaufte Tickets sprachen eine eindeutige Sprache: die Euphorie der Zuschauer*innen und ihr Zuspruch, ihre Neugier und Leidenschaft für das Kino und die Berlinale waren ungebremst. So war der Rück- und Ausblick von Katja Nicodemus und Thomas E. Schmidt durchaus selbstkritisch und optimistisch: „Das Kino als Ort des Dialogs erwies sich als hochlebendig. Und vielleicht kann uns die offenbar humorvolle neue Leiterin auch ein bisschen erlösen von den üblichen Erregungsspiralen, von der Provinzialität, von unseren rituellen Mäkeleien. Die Berlinale braucht keine Vorschriften, keine politischen Drohungen, sie braucht in aller Freiheit einen Reset" („Zeit“, 28.02.2024).

Die Berlinale 2024 in Zahlen

Besucher*innen  
Kinobesuche 447.655
Verkaufte Tickets 329.502
   
Fachbesucher*innen  
Akkreditierte Fachbesucher*innen (ohne Presse) 17.297
Herkunftsländer 157
   
Presse  
Pressevertreter*innen 2.671
Herkunftsländer 81
   
Screenings  
Anzahl Filme im öffentlichen Programm 243
Anzahl Vorführungen 884
   
European Film Market  
Fachbesucher*innen 9.245
Anzahl Filme 639
Anzahl Filme 998
Stände / Offices 234
Anzahl Aussteller*innen 614
   
Berlinale Co-Production Market  
Teilnehmer*innen 751
Herkunftsländer 70
   
Berlinale Talents  
Teilnehmer*innen 196
Herkunftsländer 65
   
Jahresbudget € 33 Mio.
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 12,6 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.