2019

69. Internationale Filmfestspiele Berlin

07. – 17. Februar 2019

Best of Berlinale 2019

Zahlen und Fakten 2019

A Berlin, personne n’a peur de fouler le tapis rouge.
Festivalchef Dieter Kosslick im Interview mit Le Monde, 08.02.2019


2019 – ein Jahr der Abschiede. Die letzte Festivaledition unter der Leitung von Dieter Kosslick, der die Berlinale fast zwei Jahrzehnte lang prägte und, wie Daniel Haas in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, auf ein ganz neues Level führte: „Als er die Filmfestspiele im Jahr 2001 von seinem Vorgänger Moritz de Hadeln übernahm, waren die Besucherzahlen flau und das Programm vielen zu amerikanisch. [...] Mit Kosslick-Berlinalen konnte man Asien entdecken und Osteuropa, Lateinamerika und die muslimische Welt. Ein über die Jahre mit Hollywood-Kitsch und Til-Schweiger-Komödien betäubtes Publikum kam aus dem Staunen nicht heraus“ (07.02.2019). 18 Jahre für das Kino, 18 Jahre für den Kulturstandort Berlin und Deutschland. Die Welt hat sich in dieser Zeit massiv gewandelt. 2001 steckte das Internet noch in seinen Anfängen, von Digitalisierung war kaum die Rede, sein erstes Vorwort zum Berlinale-Programm verfasste Kosslick unter dem Eindruck des 11. September und den Fernsehbildern zweier einstürzender Türme.

Dieter Kosslick im Friedrichstadt-Palast

Die Berlinale zu einem der größten Publikumsfestivals der Welt gemacht zu haben, eng verbunden mit der Stadt, die es einmal im Jahr für elf Tage in helle Aufregung zu versetzen vermag, den deutschen Film wieder auf die Weltkarte des Kinos positioniert und die Berlinale mit vielen neuen Initiativen fit für die Zukunft gemacht zu haben, diese Leistungen werden bleiben. Kosslick hat das Festival geerdet, Zugang und Zugänglichkeit, der Abbau von Barrieren sind Verdienste, die mit seiner offenen Art zusammenhängen, wie Ed Meza in der Variety schrieb: „After succeeding former festival director Moritz de Hadeln 18 years ago, Kosslick sought to make the festival more accessible to the public. His folksy humor and cheerfulness lightened the event and charmed festgoers and celebrity guests alike. He also oversaw major changes, expansions and additions, many of which have been adopted by other leading festivals around the world“ (04.02.2019).

Ende Mai würde Kosslick die Direktion der Berlinale an seine beiden Nachfolger*innen übergeben, deren Namen bereits im Juni 2018 verkündet worden waren: Carlo Chatrian gab seinen Posten beim Locarno Festival auf und würde 2020 als künstlerischer Leiter fungieren, Mariette Rissenbeek die Geschäftsführung übernehmen. Der langjährige Ruf nach einer Doppelspitze wurde somit umgesetzt.

Ein letzter Kosslick-Wettbewerb

Kosslick lag Zeit seines Amtes der deutsche Film besonders am Herzen und so resümierte Andreas Busche im Tagesspiegel nach der Vergabe der Preise im Wettbewerb: „Ein besseres Ende für das Drehbuch der 18-jährigen Ära Dieter Kosslicks lässt sich kaum denken. Mit Angela Schanelec und Nora Fingscheidt standen zwei deutsche Regisseurinnen im Wettbewerb der 69. Berlinale, beide zeichnete die Jury [...] bei der Bären-Gala im Berlinale Palast aus“ (17.02.2019). Angela Schanelec wurde für Ich war zuhause, aber mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie bedacht. Ein unbequemer Film, der seinen Zuschauer*innen viel abverlangt und an dem sich die Gemüter erhitzten. „Bei der Vorführung gab es Buhrufe - dabei hat die deutsche Regisseurin Angela Schanelec den mit Abstand schönsten und kunstvollsten Film des Wettbewerbs abgeliefert“ (Hannah Pilarczyk, Spiegel Online, 13.02.2019). Am Ende überwog die Begeisterung für den Mut, mit dem die Regisseurin die Regeln des „gelungenen Erzählens“ missachtete und konsequent ihren Weg ging, ohne sich um die Meinung der Anderen zu kümmern.

Glückliche Gewinnerinnen: Angela Schanelec und Nora Fingscheidt

Ich war zuhause, aber erzählt vom Tod eines Vaters und dem kurzzeitigen Verschwinden eines Sohnes – einer Familienkonstellation. Das Thema Familie ließ sich in vielen Filmen des 69. Wettbewerbs finden. Auch in Nora Fingscheidts hochgelobtem Systemsprenger, der die unkontrollierbare Wut der neunjährigen Benni gegen jede Art von Regeln zeigt. Das Mädchen fällt aus dem familiären Rahmen wie aus dem jeder sozialen Institution. Eine filmische Tour-de-force, die ihrer Regisseurin den Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis einbrachte. Systemsprenger offenbarte zudem den erfolgreichen Kurs, den die Berlinale als Wegbegleiterin bzw. Wegbereiterin genommen hatte: 2017 war Nora Fingscheidt als Teilnehmerin von Berlinale Talents, die Dieter Kosslick bei seinem Amtsantritt 2002 ins Leben gerufen hatte, für ihr Treatment zu Systemsprenger mit dem Kompagnon-Förderpreis ausgezeichnet worden. 2019 kehrte sie mit dem fertigen Film zurück und konnte alle überzeugen, dass die Jury damals zu Recht Vertrauen in sie und ihre Geschichte gesetzt hatte. Talente aufbauen und fördern – eine Strategie, die es vor Dieter Kosslick so nicht gab.

Und auch der Gewinner des Goldenen Bären lag in der Logik der Entwicklung des Festivals: „Synonyme ist einer jener verstörenden, aufrüttelnden, man könnte auch sagen: produktiv neurotischen Filme, denen die Berlinale in den letzten Jahren immer wieder eine Heimat gab“ (Katja Nicodemus, Die Zeit, 21.02.2019). Eine mutige Auswahl traf auf eine mutige Internationale Jury – wie 2018, als Adina Pintilies hoch umstrittener Touch Me Not den Hauptpreis gewann. In Synonymes erzählt Nadav Lapid vom Leben des Israelis Yoav, der in Paris mit allen Mitteln versucht, die eigenen Wurzeln auszulöschen. Die auf den ersten Blick sehr private Geschichte verwebt sich mit den Bedingungen des Seins im großen politischen Kontext: nationalstaatliche Herkunft, Sprache, Familie. Wie stark das Politische in Form des Staates mit den privatesten Details verwoben ist, zeigt auch das chinesische Drama Di jiu tian chang (So Long, My Son), an das beide Darsteller*innenpreise - für Yong Mei und Wang Jingchun - gingen. Wang Xiaoshuai erzählt von einem Paar, das seinen Sohn verliert und arbeitet anhand des Einzelfalls die Ein-Kind-Politik Chinas der letzten 30 Jahre auf.

Grâce à Dieu von François Ozon

Ein weiterer Film machte die Handschrift Kosslicks deutlich: Mit Grâce à Dieu (Gelobt sei Gott) war der Wettbewerb 2019 ganz nah am aktuellen Weltgeschehen. François Ozon, der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, berichtet basierend auf dem Fall des Paters Bernard Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Jungen angeklagt wurde, von Missbrauch in der katholischen Kirche aus Sicht der Opfer. Die Anklage gegen Preynat war aufgrund von Verjährung eingestellt worden, aber Anfang März, nur zwei Wochen nach dem Festival, wurde der Erzbischof von Lyon, der Preynats Übergriffe vertuschte, verurteilt.

Roberto Saviano, der seit Jahrzehnten unter Einsatz seines Lebens gegen die Mafia anschreibt, wurde zusammen mit seinen Ko-Autoren Maurizio Braucci und Claudio Giovannesi – der bei La paranza dei bambini (Piranhas) auch Regie geführt hat - für das Beste Drehbuch geehrt, und so war das Fazit der Preisverleihung, dass das Kino eine existentielle Dimension in der sozialen Sphäre besitzt: die Macht zu Kritik, Anklage und Veränderung.

Lebensverändernd auf ganz praktischer Ebene war das Festival für den jungen deutsch-türkischen Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay und seine beiden Produzenten Bastian Klügel und Claus Reichel, die den GWFF Preis Bester Erstlingsfilm für Oray gewannen. Bei ihrer Dankesrede gaben sie zu, dass sie mit dem Preisgeld als allererstes die Heizung in ihrem Büro reparieren lassen würden. Die Freude der Drei war unbeschreiblich. Zusammen mit Florian Fischer und Johannes Krell - deren Umbra mit dem Goldenen Bären für den Besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde – machten sie den Siegeszug des deutschen Films bei den 69. Internationalen Filmfestspielen Berlin perfekt.

Überwältigende Freude: Claus Reichel, Mehmet Akif Büyükatalay und Bastian Klügel

Ein fehlender Konkurrent

Der letzte Beitrag im Wettbewerb 2019, Yi miao zhong (One Second) von Zhang Yimou, wurde offiziell wegen „technischer Probleme bei der Post-Production“ im letzten Moment zurückgezogen. Da es sich um einen chinesischen Film handelt, überschlugen sich in den folgenden Tagen die Spekulationen und der Ruf nach der Freiheit der Kunst wurde laut. „Im März 2017 wurde eine gesetzliche Kontrolle der Filme eingeführt, hinzu kam eine Sondergenehmigung für die Auswertung im Ausland einschließlich Festivals – zuständig ist dafür nun die Propaganda-Abteilung der kommunistischen Partei. Allen Beteiligten drohen bei Zuwiderhandlung Geldstrafen und Berufsverbote“, gaben Katja Nicodemus und Xifan Yang zu Protokoll (Die Zeit, 13.02.2019). Das Festival hielt sich mit kämpferischen Statements zurück und dies aus guten Gründen: „Die Berlinale muss Diplomatie walten lassen, Kunstfreiheitsaktionen kann sie nur dann starten, wenn sie die Filmschaffenden nicht gefährdet“ (Christiane Peitz, Der Tagesspiegel, 16.02.2019).

The Future is Female

2019 war vor allem auch das Jahr der Frauen. Die Quote im Wettbewerb war im internationalen Vergleich extrem hoch – sieben der 17 Konkurrenten um den Goldenen Bären stammten von Regisseurinnen. Rajendra Roy, Mitglied der Internationalen Jury, erschien zur Pressekonferenz in einem T-Shirt mit dem Schriftzug „THE FUTURE OF FILM IS FEMALE“. Isabelle Coixet und ihre Darstellerinnen verbreiteten ihre Botschaft beim Photo-Call via Fächer, auf denen „#MÁSMUJERES“ – mehr Frauen – zu lesen stand. Das Engagement des Festivals für eine starke Rolle der Frau wurde euphorisch begrüßt. Als erstes großes Filmfestival fertigte die Berlinale eine umfangreiche Genderevaluation sowohl für das öffentliche Programm als auch die Besetzung der Leitungspositionen und Gremien des Festivals an. „The single biggest takeaway from Berlin 2019 — and perhaps Kosslick's most lasting legacy as festival director — is that gender equality in the film industry is achievable. While Cannes and Venice equivocated and fumed — blaming society or structures beyond their control for the shocking lack of female representation in their competition lineups — Berlin, with typical German efficiency, just got things done” (Scott Roxborough, The Hollywood Reporter, 17.02.2019). Der Internationalen Jury stand ebenfalls eine Frau vor – Juliette Binoche. Und mit der Unterzeichnung der Pledge 5050x2020 bestätigte Dieter Kosslick auch formal das Bestreben nach mehr Gendergerechtigkeit. Eine paritätische Besetzung der Leitungen und Auswahlgremien konnte die Berlinale 2019 bereits vorweisen.

Sandra Hüller, Rajendra Roy, Juliette Binoche und Trudie Styler im Berlinale VIP-Club; Natalia de Molina, Greta Fernández und Isabel Coixet beim Photo-Call

Die Retrospektive wies indes einen Frauenanteil von 100% auf. Unter dem Titel „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“ widmete sie sich dem künstlerischen Schaffen von Frauen in Deutschland auf beiden Seiten der Mauer von 1969 bis 1999. Die Wichtigkeit einer solchen (Rück-)Schau verdeutlichte Susan Vahabzadeh: „Man kann natürlich behaupten, dass es in einer idealen Welt keinen Unterschied machen sollte, ob ein Film von einer Frau gedreht wurde oder von einem Mann; in der Welt, in der wir leben, haben aber Männer definitiv einen männlichen Blick gepflegt über 123 Jahre Filmgeschichte hinweg, und der richtete sich nur selten auf Themen wie Abtreibung oder die Probleme von Alleinerziehenden; er richtete sich oft auf Dekolletés, aber nie auf die psychischen Folgen von Brustkrebs“ (Süddeutsche Zeitung, 15.02.2019). Die Frage zur Rolle der Frau in der Filmindustrie und im Film wurde über die verschiedenen Sektionen hinweg durchdekliniert. Das Forum etwa widmete sich dem feministischen Videoaktivismus der 1970er Jahre. Die Bedeutung dieser Tradition für die Gegenwart wurde ausführlich in einem Werkstattgespräch in der Kuppelhalle des silent green diskutiert.

Auch der Goldene Ehrenbär ging 2019 an eine Frau, eine der ganz großen ihres Fachs: die Schauspielerin Charlotte Rampling. Auf die Frage, was ihr diese Ehrung bedeute, antwortete sie mit der ihr eigenen kühlen Ironie: „Festivals brauchen Stars, und die etwas älteren wie mich lockt man halt mit solchen Preisen. Preise fürs Lebenswerk mag ich gar nicht. Aber in dem Fall fühle ich mich sehr geehrt. Und mein Silberner Bär [den sie 2016 als Beste Darstellerin in Andrew Haighs 45 Years gewonnen hatte] hat schon gefragt: Können wir nicht noch einen Goldenen haben? Jetzt kriegt er ihn, ich werde sie Schnauze an Schnauze stellen“ (Im Interview mit Peter Zander, Berliner Morgenpost, 15.02.2019).

Charlotte Rampling während des Q&A zu Angelina Maccarones Porträtfillm Charlotte Rampling – The Look

Der egalitäre Festspielcharakter des Festivals und die schiere Masse an Angeboten rief wie in den Vorjahren auch 2019 kritische Pressestimmen auf den Plan, die jedoch nach wie vor an den realen Verhältnissen von Angebot und Nachfrage vorbeizielten. „Das beklagte Überangebot wird vom Publikum draußen nicht als solches wahrgenommen. Sondern im Gegenteil, der Hunger nach Filmen scheint unersättlich. So berechtigt man die Breite des Berlinale-Filmangebots für ihre mangelnde Trennschärfe und Beliebigkeit kritisieren kann, so klar steht auch vor Augen, wie sehr man ebendiese Fülle vermissen wird, sobald es sie nicht mehr gibt“ (Barbara Schweizerhof, der Freitag, Ausgabe 06/2019).

Passend zum „Hunger nach Filmen“ war es nicht überraschend, dass 2019 wie in den Vorjahren Rekordzahlen zu vermelden waren und am Ende der Ära Kosslick die schwindelerregende Zahl von knapp fünf Millionen verkaufter Tickets in 18 Jahren stand. Und dies in einer Zeitspanne, in der sich die mediale Infrastruktur weltweit komplett verändert hatte. 2002 kannte keine Video- und Social-Media-Plattformen, keine Streaming-Anbieter. Wer einen Film sehen wollte, musste ins Kino gehen, auf die TV-Ausstrahlung warten oder den Weg in die Videothek antreten – eine Institution, die 2019 aufgrund der Verfügbarkeit von Filmen im Netz fast komplett aus der Welt verschwunden war.

Insofern verband sich der bevorstehende Umbruch bei der Berlinale mit einem strukturellen Beben in der gesamten Filmindustrie. John Hopewell und Elsa Keslassy brachten es am deutlichsten auf den Punkt: „When the history of this decade’s movie history is written, 2019 could go down as a tipping point in the power balance between the traditional international industry and the rampant building of new OTT platforms“ (Variety, 29.01.2019). Die großen Player wie Netflix, Amazon, YouTube und Facebook investierten seit Jahren in die Produktion von eigenen, zu jeder Zeit und an jedem Ort individuell abrufbaren Contents. Angesichts des Drucks der Streaming-Anbieter stand für viele nichts anders als die Zukunft des Kinos auf dem Spiel. Denn der Trend zur Personalisierung der Inhalte und zum Konsum vom heimischen Sofa aus widerspreche der Idee des Kinos als öffentlichem und sozialem Ort, mit der sich natürlich auch handfeste ökonomische Interessen und Existenzgrundlagen verbinden.

Das Ende des Kinos?

Der egalitäre Festspielcharakter des Festivals und die schiere Masse an Angeboten rief wie in den Vorjahren auch 2019 kritische Pressestimmen auf den Plan, die jedoch nach wie vor an den realen Verhältnissen von Angebot und Nachfrage vorbeizielten. „Das beklagte Überangebot wird vom Publikum draußen nicht als solches wahrgenommen. Sondern im Gegenteil, der Hunger nach Filmen scheint unersättlich. So berechtigt man die Breite des Berlinale-Filmangebots für ihre mangelnde Trennschärfe und Beliebigkeit kritisieren kann, so klar steht auch vor Augen, wie sehr man ebendiese Fülle vermissen wird, sobald es sie nicht mehr gibt“ (Barbara Schweizerhof, der Freitag, Ausgabe 06/2019).

Passend zum „Hunger nach Filmen“ war es nicht überraschend, dass 2019 wie in den Vorjahren Rekordzahlen zu vermelden waren und am Ende der Ära Kosslick die schwindelerregende Zahl von knapp fünf Millionen verkaufter Tickets in 18 Jahren stand. Und dies in einer Zeitspanne, in der sich die mediale Infrastruktur weltweit komplett verändert hatte. 2002 kannte keine Video- und Social-Media-Plattformen, keine Streaminganbieter. Wer einen Film sehen wollte, musste ins Kino gehen, auf die TV-Ausstrahlung warten oder den Weg in die Videothek antreten – eine Institution, die 2019 aufgrund der Verfügbarkeit von Filmen im Netz fast komplett aus der Welt verschwunden war.

Insofern verband sich der bevorstehende Umbruch bei der Berlinale mit einem strukturellen Beben in der gesamten Filmindustrie. John Hopewell und Elsa Keslassy brachten es am deutlichsten auf den Punkt: „When the history of this decade’s movie history is written, 2019 could go down as a tipping point in the power balance between the traditional international industry and the rampant building of new OTT platforms“ (Variety, 29.01.2019). Die großen Player wie Netflix, Amazon, YouTube und Facebook investierten seit Jahren in die Produktion von eigenen, zu jeder Zeit und an jedem Ort individuell abrufbaren Contents. Angesichts des Drucks der Streaming-Anbieter stand für viele nichts anders als die Zukunft des Kinos auf dem Spiel. Denn der Trend zur Personalisierung der Inhalte und zum Konsum vom heimischen Sofa aus widerspreche der Idee des Kinos als öffentlichem und sozialem Ort, mit der sich natürlich auch handfeste ökonomische Interessen und Existenzgrundlagen verbinden.

Und so war Netflix eines der großen Streitthemen. Offen ausgetragen wurde der Konflikt anhand von Isabel Coixets Elisa y Marcela, von Netflix produziert und für den Wettbewerb ausgewählt. Die AG Kino reagierte mit einem Aufruf an die Adresse der Festivalleitung, den Film nur außer Konkurrenz zu zeigen. Im Reigen der großen Festivals vertrat die Berlinale jedoch eine eindeutige Position: Elisa y Marcela wurde im Wettbewerb gezeigt, weil Netflix eine Kinoauswertung in Spanien zusicherte. Die Puristen sahen das Überleben des Kinos dennoch bedroht. Es ging um Bestandsschutz vs. Zugänglichkeit, die Positionen wurden durchaus ambivalent diskutiert. Verena Lueken fragte: „Sollten ausgerechnet die Festivals eine Aufführungspraxis zum Fetisch erklären, die jenseits der Festivalzeit ein Nischendasein fristet?“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.02.2019). Sie schrieb dies nicht ohne den Hinweis auf die vergangenen Jahre und die Entwicklung der Berlinale. Dass sich die Aufführungspraktiken irgendwann ändern würden und wie die Zukunft aussehen könnte, darauf hatte das Festival unter der Ägide Kosslicks spätestens 2006 mit der Einführung des Forum Expanded reagiert. Die Sektion agierte von jeher in den Grenzbereichen von Film und Installation, Kino und Museum, suchte nach den Möglichkeiten einer anderen, alternativen Rezeption, in der besondere Räume jenseits des Kinosaals immer eine zentrale Rolle spielten. 2019 eroberte sich das Forum Expanded mit der Betonhalle des silent green Kulturquartiers einen weiteren dieser besonderen Orte, die die Vorstellung von Kino als einem rigide definierten architektonischen Raum öffnen und stattdessen nach dem Wesen der Bilder, dem Kinematografischen fragen, von dem die große Leinwand nur eine Manifestation unter anderen ist. „Kosslick hat das Festival für die Veränderungen, die der Film und das Kino durchmachen, offengehalten. Und er hat dafür gesorgt, dass es für das, was er zeigt, ein Publikum gibt“, schrieb Verena Lueken (ebd.).

Esmé Creed-Miles in der Serie Hanna von Sarah Adina Smith

Weitsichtig war angesichts der Umbrüche die Installation der Berlinale Series 2015. Serien waren genau jenes Format, welches das Fernsehen sowohl ästhetisch als auch ökonomisch entgrenzt und sich im Zwischenraum der vermeintlich festgefügten Distributionskanäle etabliert hatte. Als Zugpferd neuer, innovativer Formen des Erzählens waren sie 2019 längst kanonisiert – und dies nicht zuletzt durch Produktionen wie etwa Netflixs House of Cards, die 2014 im Berlinale Special zu sehen gewesen war. Die Unterscheidungen zwischen Kino und Fernsehen, Leinwand und Bildschirm, Kunst und vermeintlichem Trash hatten sich auf Inszenierungs- und Erzählebene längst aufgelöst. Und mit der Erschließung neuer Märkte und Zielgruppen drängen immer neue Praktiken der Aufführung in das Feld von Angebot und Nachfrage. Seit 2017 spürte etwa der „Berlinale Africa Hub“ solchen Entwicklungen nach: „Die Hälfte der Einwohner in Schwarzafrika ist unter 30 Jahre alt und schaut auf ihren Smartphones und Tablets audiovisuelle Angebote“, konstatierte EFM-Direktor Matthijs Wouter Knol (Filmecho, 09.02.2019). Wer zukunftsfähig bleiben will, muss sich mit den veränderten Rezeptionsbedingungen auseinandersetzen.

Netflix et al waren in ein Vakuum vorgestoßen, das die Filmstudios und die traditionelle Industrie hinterließen: „Die andere Wahrheit ist aber auch, dass immer mehr und selbst renommierte Regisseure klagen, dass sie ihre Projekte nicht finanziert bekommen, weil die Verleiher immer risikoscheuer werden. Selbst ein Martin Scorsese hat sich entschlossen, ein Herzensprojekt bei Netflix umzusetzen“ (Peter Zander, Berliner Morgenpost, 13.02.2019). Das Festival ging diese Fragen offen an, Tendo Nagenda, der VP of Original Film bei Netflix, wurde zu einem Berlinale Talents-Panel eingeladen. Ob Netflix nun eine große Chance oder eine große Gefahr für die Zukunft des Filmschaffens bedeutet, konnte aber auch hier nicht endgültig geklärt werden. Hoffnungen und Ängste mischten sich gleichermaßen.

Wurde mit einer Berlinale Kamera geehrt: Wieland Speck

Mehr Abschiede

Wie Dieter Kosslick verabschiedete sich Wieland Speck, von 1992 bis 2017 Leiter des Panoramas und anschließend Berater des offiziellen Programms, 2019 endgültig von der Berlinale. Zum Abschluss kuratierte er mit seinem langjährigen Mitarbeiter Andreas Struck das Jubiläumsprogramm Panorama 40, mit dem sie den Geist – die „Seele“, wie Speck es formulierte – der Sektion auf die Leinwand brachten. Im Zentrum stand für Speck dabei von jeher die Vielfalt: „Ich kann von Unterhaltung bis zum radikalen Tabubrecher, von experimentell bis recht gefällig gehen. Man hat genau das, was die Presse zum Teil Beliebigkeit nennt, nämlich die Vielfalt. Einer Vielfalt Charakter zu geben ist uns, glaube ich, über die Jahre geglückt.“ (Im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Deutschlandfunk Kultur, 10.02.2019). Im Blick zurück offenbarten sich einige der Kernthemen der Sektion: der Bruch, den die Ausbreitung von HIV in den 1980er Jahren bedeutet hatte, die kinematografische Imagination und ihre Kraft, die soziale Wirklichkeit zu verändern, und natürlich die LGBT-Community, die dem Panorama von Beginn an eine Herzensangelegenheit war. „Die schwul-lesbische Community hat Wieland Speck [...] nicht nur deshalb viel zu verdanken, weil er die queere Filmkunst aus ihrer Ecke herausgeholt hat, sondern weil er erkannt hat, dass das Kino als emanzipatorischer Trigger nicht zu unterschätzen ist“, würdigte Marcus Weingärtner seine Verdienste (Der Tagesspiegel, 07.02.2019).

Doch damit der Abschiede nicht genug: Mit Dieter Kosslick würde auch Thomas Hailer die Berlinale verlassen. Vor seiner Zeit als Berlinale-Kurator hatte er von 2002 bis 2008 Generation geleitet und die Sektion mit der Einführung des Wettbewerbs 14plus zu einem äußerst erfolgreichen Baustein des Festivals weiterentwickelt. Zudem feierte Maike Mia Höhne ihr letztes Jahr als Kuratorin der Berlinale Shorts. Und bereits im Sommer 2018 hatte Christoph Terhechte die Leitung des Forums – für 2019 interimsmäßig an den Vorstand des Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.: Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus - abgegeben. Allseits geballte Erfahrung und Wissen, ohne die das Festival im nächsten Jahr einen neuen Start nehmen müsste.

Die Zukunft des Festivals

Über die eigene Existenzberechtigung brauchte sich die Berlinale indes keine Sorgen zu machen. Wieland Speck betonte im Interview: „Je schwieriger das Navigieren durch den Ozean des Bewegtbildes wurde, desto wichtiger ist die Arbeit des Programmierens geworden. [...] Filmfestivals wie die Berlinale, in die so viel Wissen, Geschmack und politisches Verständnis fließen, braucht es heute mehr denn je. Im Internet purzelt alles durcheinander und inzwischen bestimmen Roboter, was zu sehen ist.“ Zudem war ein Goldener Bär noch immer die Startrampe für eine nachhaltige Karriere, wie Adina Pintilie, die 2018 mit Touch Me Not nicht nur den Goldenen Bären, sondern auch den GWFF Preis Bester Erstlingsfilm gewonnen hatte, erklärte: „The Berlinale had a major impact on the film’s life. […] The awards gave us extensive international exposure, which ultimately allowed us to share the film with a wide audience. We were invited to over 50 subsequent major festivals, and secured further distribution in over 35 countries” (im Interview mit Paul O’Callaghan, Exberliner, 06.02.2019).

Der letzte Bär der Preisverleihung ging an den scheidenden Festivaldirektor: Dieter Kosslick und die Internationale Jury auf der Bühne des Berlinale Palastes

Dieter Kosslick übergab am Ende seiner Amtszeit ein gesundes, florierendes Unternehmen mit einer immensen Strahlkraft. In den Blick auf die Zukunft mischte sich bereits leise Nostalgie. Scott Roxborough schrieb im Hollywood Reporter: „Even criticism of Kosslick — which has become something of an annual sporting event in recent years at the Berlinale — was more muted, with most journalists grudgingly acknowledging his success in transforming Berlin from a sleepy regional event to one of the world's top five festivals with a film market second in size only to Cannes” (17.02.2019). Und als Dieter Kosslick gefragt wurde, was er seinen Nachfolger*innen mit auf den Weg geben wolle, antwortete er: „Das Publikum weiterhin fest im Blick zu behalten. Alles andere kann man verändern, aber das Publikum prägt die Berlinale seit 1951“ (im Interview mit Birgit Heidsiek, Filmecho 06/2019).

Die Berlinale 2019 in Zahlen

Besucher*innen  
Kinobesuche 487.504
Verkaufte Eintrittskarten 331.637
   
Fachbesucher  
Akkreditierte Fachbesucher*innen (ohne Presse) 18.556
Herkunftsländer 135
   
Presse  
Pressevertreter*innen 3.510
Herkunftsländer 82
   
Screenings  
Anzahl Filme im öffentlichen Programm 400
Anzahl Vorführungen 1.106
   
European Film Market  
Fachbesucher*innen 10.946
Anzahl Filme 751
Anzahl Screenings 1.060
Stände auf dem EFM
(Gropius Bau & Marriott Hotel)
196
Anzahl Aussteller*innen 551
   
Berlinale Co-Production Market  
Teilnehmer*innen 565
Herkunftsländer 59
   
Berlinale Talents  
Teilnehmer*innen 252
Herkunftsländer 77
   
Jahresbudget € 26 Mio.
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 8,2 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.  

Gender-Statistik Auswahlgremien

Sektionen / Sonderreihen

Sektion / Reihe   weiblich in % männlich in %
Wettbewerb Leitung
Beratendes Auswahlgremium

53,3
100
46,7
Berlinale Series Leitung
Auswahlgremium
100
75

25
Berlinale Shorts Kurator*in
Auswahlgremium
100
57,1

42,9
Panorama Leitung
Beratendes Auswahlgremium
100
50

50
Forum Leitung
Auswahlgremium
Vorsichtung
100
75
88,9

25
11,1
Forum Expanded Leitung
Beratendes Auswahlgremium
100
33,3

66,7
Generation Leitung
Beratendes Auswahlgremium
100
54,5

45,5
Perspektive Deutsches Kino Leitung
Beratung
100
100
Retrospektive
Berlinale Classics
Leitung
Auswahlkommission

100
100
Kulinarisches Kino Kurator*in
Beratendes Auswahlgremium

100
100
NATIVe Kurator*innen
Beratung
100
100
 

Initiativen

Initiativen   weiblich in % männlich in %
World Cinema Fund Projektleitung
Leser*innen
Jurymitglieder

83,3
50
100
16,7
50
Berlinale Co-Production Market Leitung
Auswahlgremien + Jurys
100
80
50
33,3
Berlinale Talents Leitung
Auswahlgremien + Jurys
50
66,7
50
33,3
European Film Market EFM-Direktor   100

(Siehe auch: Pressedossier und ausführliche Gender-Evaluation)

Insgesamt waren 2018/19 neun der 15 Leitungen von Festival, Sektionen, Sonderreihen und Initiativen weiblich, fünf männlich und eine paritätisch besetzt. Daraus ergibt sich bei den Leitungen folgendes Geschlechterverhältnis: 63,3% weiblich und 36,7% männlich.

Von den 16 Auswahlgremien/Berater*innen/Jurys der Sektionen und Initiativen sind zwölf ganz oder mehrheitlich weiblich, zwei ganz oder mehrheitlich männlich und zwei paritätisch besetzt. Insgesamt ergibt sich daraus ein durchschnittliches Geschlechterverhältnis von 81,25% weiblich und 18,75% männlich bei den Auswahlgremien/Berater*innen/Jurys. Die dritte Geschlechteroption „non-binär“ stand bei der freiwilligen Selbstauskunft zur Auswahl, wurde jedoch von keiner Person angegeben.

Leitungen & Auswahlgremien 2019

Wettbewerb & Berlinale Special
Festivaldirektor: Dieter Kosslick
Beratendes Auswahlgremium: Karen Arikian, Marga Boehle, Vincenzo Bugno, Thomas Hailer, Matthijs Wouter-Knol, Anne Lakeberg, Winnie Lau, Paz Lázaro, Anke Leweke, Maryanne Redpath, Rainer Rother, Ralf Schenk, Linda Söffker, Wieland Speck, Florian Weghorn

Berlinale Series
Leitung: Solmaz Azizi
Auswahlgremium: Lorna Bösel, Anna Katharina Brehm, Lin Franke, Thomas Hailer, Judith Klein , Paz Lázaro, Hella Rihl, Bartholomew Sammut

Panorama
Leitung: Paz Lázaro
Co-Kurator: Michael Stütz
Beratendes Auswahlgremium: Egbert Hörmann, Jenni Zylka, Jürgen Brüning, Sirkka Möller, Ana David, Verena von Stackelberg, Bartholomew Sammut

Forum
Leitung: Milena Gregor, Birgit Kohler, Stefanie Schulte Strathaus
Auswahlkomitee: Anna Hoffmann, Hanna Keller, Birgit Kohler, James Lattimer, Anke Leweke, Stefanie Schulte Strathaus, Ansgar Vogt, Dorothee Wenner

Forum Expanded
Leitung: Stefanie Schulte Strathaus
Beratendes Auswahlgremium: Anselm Franke, Maha Maamoun, Ulrich Ziemons

Generation
Leitung: Maryanne Redpath
Beratendes Auswahlgremium: Eleni Ampelakiotou, David Assmann, Ralph Etter, Ygor Gama, Simon Hofmann, Katharina Marioth, Natascha Noack, Carlos Pereira, Laura Schubert, Marguerite Seidel, Brigitte Zeitlmann

Berlinale Shorts
Kuratorin: Maike Mia Höhne
Auswahlgremium: Anna Henckel-Donnersmarck, Simone Späni, Maria Morata, Saskia Walker, Wilhelm Faber, Alejo Franzetti, Egbert Hörmann

Perspektive Deutsches Kino
Leitung: Linda Söffker
Beratung: Linus de Paoli

Retrospektive & Berlinale Classics
Leitung: Rainer Rother
Auswahlkommission: Connie Betz, Karin Herbst-Meßlinger (nur Retrospektive)

Kulinarisches Kino
Kurator: Thomas Struck
Beratendes Auswahlgremium: Paula Casado, Margit Dörner

NATIVe
Kurator*innen: Maryanne Redpath, Anna Kalbhenn
Beratung: Christina Just

WCF
Projektleitung: Vincenzo Bugno
Jury-Mitglieder: Marta Andreu, Vincenzo Bugno, Alex Moussa Sawadogo, Alexander Hassan Wadouh, Dorothee Wenner
Leser*innen: Isona Admetlla, Marjorie Bendeck, Vincenzo Bugno, Cora Frischling, Carlotta Löffelholz, Dorothee Wenner

Berlinale Co-Production Market
Leitung: Martina Bleis, Kathi Bildhauer
Auswahlgremien: Henning Adam, Syd Atlas, Kathi Bildhauer, Martina Bleis, Laurin Dietrich, Ellis Driessen, Linda Kirmse, Kathrin Kohlstedde, Naomi Levari, Barbara Linke, Roshanak Behesht Nedjad, Tolke Palm, Katriel Schory, Elisabeth Stangl, Konstantina Stavrianou

Berlinale Talents
Leitung: Florian Weghorn, Christine Tröstrum
Auswahlgremien & Jurys: Agustina Arbetman, Oliver Baumgarten, Daniel Bickermann, Kathrin Brinkmann, Paulo de Carvalho, Klaus Eder, Jelena Goldbach, Frauke Greiner, Veronika Grob, Mille Haynes, Maike Mia Höhne, Alby James, Marcie Jost, Jan Krüger, Naomi Levari, Dana Linssen, Sirkka Möller, Fabienne Moris, Aily Nash, Lucy Pizana, Franz Rodenkirchen, Daniel Saltzwedel, Christiane Schulte, Christiane Steiner