2009 | Panorama
Den Film neu erfinden
Rückblickend auf 30 Jahre Panorama spricht Wieland Speck über Berührungspunkte zwischen den Filmen und ihren gesellschaftspolitischen Verknüpfungen: „Wir schauen in diese Schatzkiste hinein und haben das Glück, dass Themen, die wir damals aufgegriffen haben, nichts an Relevanz eingebüßt haben.“ Neben aktuellen Spiel- und Dokumentarfilmen umfasst das diesjährige Programm auch historische Panorama-Filme sowie alle zehn Gewinnerfilme des PanoramaPublikumsPreises. In persönlichen Sichtweisen auf die Konsequenzen von Globalisierung öffnet sich dem Zuschauer ein starker Blick auf das Verhältnis von Tradition und die Chance neuer Lebensentwürfe, der auch kritische Fragen an das (Selbst-) Bild des modernen Europas nicht ausklammert.
Ohne Manfred Salzgeber würde es das Panorama heute nicht geben, zumindest nicht in dieser Form. Inwiefern kann man sagen, dass sein Erbe auch für die heutige Programmierung eine Rolle spielt?
WS: Man kann sagen, ohne Manfred Salzgeber wäre ich nicht hier und das hätte ja auch Auswirkungen auf das Programm (lacht). Den Geist, der damals in Berlin vorherrschte, legte Salzgeber in sein Programm, denn er war eng verbunden mit der damaligen Kinolandschaft. Er rettete alte Kinos in den Stadtteilen, die Opfer von Supermärkten zu werden drohten. Die Veränderung der Kinolandschaft trägt auch Salzgebers Handschrift, denn in den von ihm geretteten kleinen Sälen, zu denen auch das Arsenal gehörte, liefen die Filme der neuen deutschen Filmemacher. Heute muss ein Filmemacher mehr denn je mit dem Druck umgehen, aus dem Festival heraus einen Erfolg zu landen. Wir versuchen, dem einzelnen Film ein möglichst langes Leben zu bescheren. Dieses Ziel zu erreichen erfordert viel Intuition und ist für uns die größte Herausforderung.
Zeitgeist im Blick
Diese Intuition verläuft wiederum sehr dicht am Puls der Zeit. Eure Programmierung findet ja immer auch in Abhängigkeit davon statt, was Gesellschaften auf der Welt beschäftigt oder bewegt.
Ja, wir lassen uns einerseits von dem Blick darauf leiten, was in einer Gesellschaft prozessiert wird. Andererseits gilt es, politisch als auch ästhetisch etwas herauszuspüren, was noch nicht direkt im Bewusstsein angekommen ist, aber in der nahen Zukunft den Mainstream beeinflussen wird. Ein nicht unwesentlicher Teil unserer Arbeit ist die Kooperation mit dem European Film Market, über den unsere Filme weitere Verbreitung erfahren sollen. Den Festivalfilmen ein Leben nach der Berlinale auf dem Weltmarkt zu ermöglichen, war ja damals auch die Idee, aus der dann der EFM hervorgegangen ist.
Die Veränderungen in der queeren Filmlandschaft und der gesellschaftliche Umgang mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen sind am Panorama-Programm der letzten 30 Jahren gut nachzuvollziehen. Dieses Jahr zeigt ihr sowohl frühe als auch aktuelle Filme, die sich mehr oder weniger direkt auf die Geschichte der Schwulenbewegung beziehen oder diese begleiten. Was kann man heute aus solchen Rückblicken für Schlüsse ziehen oder was lässt sich damit bewirken?
Es gibt ein vermindertes Geschichtsbewusstsein in dieser Gruppierung und diese Lücke können die Filme hervorragend schließen. Rückblickend schauen wir heute in diese Schatzkiste hinein und haben das Glück, dass die Themen von damals nichts an Relevanz eingebüßt haben. Das zeigen nicht zuletzt die interessanten Verschränkungen und Überschneidungen der Filme im diesjährigen Programm, zum Beispiel war 1985 ein Dokumentarfilm über Harvey Milk im Programm, der dann später den Oscar gewann. Dieses Jahr kommt Gus Van Sant, der 1985 seinen ersten Film im Panorama-Programm hatte, mit seinem neuen Film Milk, in dem Sean Penn eben diesen Harvey Milk darstellt.
Ähnlich verhält es sich mit der großen Feministin Catherine Breillat, die 1980 in unserem ersten Jahr ihren Film Tapage Nocturne mit Joe Dallesandro zeigte und dieses Jahr mit ihrem neuen Film über Barbe bleue (Blaubart) vertreten ist. Dallesandro wiederum kommt nach Berlin mit dem neuen Portraitfilm Little Joe. Die Querverbindungen betreffen also nicht nur die queere Thematik, sondern verknüpfen sich hier mit der feministischen Welt. Zwei Dinge, die Hand in Hand betrachtet werden können, was immer gewinnbringend für eine emanzipatorische Sichtweise und Analyse ist.
Das zweite Jubiläum, das die Sektion feiert, ist das 10-jährige Bestehen des PanoramaPublikumsPreises PPP. Die Auszeichnung ist zu einer regelrechten Instanz geworden, die unter Filmemachern ein hohes Ansehen genießt. Dieses Jahr werden alle bisherigen Gewinnerfilme gezeigt. So nebeneinander betrachtet, lässt sich da eine Entwicklungslinie ausmachen?
Nicht direkt. Aber interessant ist, welche Filme tatsächlich gewonnen haben. Gerade angesichts der Konkurrenzfilme erstaunen manche Ergebnisse. Da gab es mehrere Dokumentarfilme, die sich gegen Spielfilme durchgesetzt haben, obwohl sie sehr spezielle oder schwierige Themen behandeln. Das zeigt, was diese Stadt für ein Publikum hat, welches letztendlich auch das Spezifische des Festivals ausmacht. Die Zuschauer fordern nicht unbedingt leicht Konsumierbares, sondern setzen sich gern mit jeder Art von Inhalten auseinander. Ein solches Publikum als Perspektive für unsere Filme macht auch einen Teil des Vergnügens meiner Festivalarbeit aus.
Vision des Radikalen
In einer Pressemitteilung schreibt ihr, dass das Kino wieder „radikaler, wagemutiger und inspirierter“ zu werden verspricht. Das heißt ja auch, Independent-Produktionen im Vorteil zu sehen. Wo finden sich diese Attribute im Programm wieder?
Das Mittelfeld der Filmproduktionslandschaft wird durch die derzeitige Wirtschaftslage stark in Mitleidenschaft gezogen. Gerade in der entsprechenden Arthouse-Sparte, die eine Menge gut gemachter Filme hervorgebracht hat, wird es einige Einschnitte geben. Wirklich unabhängige Projekte sind dagegen durch die verschärften wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weniger betroffen. Wir hoffen nun natürlich, dass sich hier diese Vision des Radikalen zeigen wird. Damit meinen wir aber nicht zwangsläufig eine nächste Generation von Filmemachern. Die Vision können genauso gut Regisseure erfüllen, die schon lange auf dieser Ebene arbeiten. Catherine Breillat gehört dazu, aber auch John Greyson aus Kanada, der schon häufiger bei uns war. Sein diesjähriger Beitrag Fig Trees ist ein äußerst anspruchsvolles Werk, politisch und ästhetisch absolut innovativ. Das braucht die Filmlandschaft wirklich dringend: Filmsprache weiterzuentwickeln, ihr eine Basis und einen Hintergrund zu geben.
Ein Vertreter der nächsten Generation ist beispielsweise Panos Koutras aus Griechenland mit seinem Film Strella. Mehr als die meisten anderen griechischen Filmemacher ist er mit seiner Generation, vor allem aber mit ihrem Lebensgefühl des Aufbegehrens verbunden. Seinem Film liegt interessanterweise eine ganz klassische, eng an der griechischen Tragödie orientierte Erzählstruktur zugrunde, aber mit einem sehr modernen Ende. Strella ist ein gutes Beispiel, Geschichte einerseits im großen Zusammenhang, andererseits in ihren Auswirkungen auf das eigene Leben sehen zu können. Mit seiner narrativen Form reflektiert Koutras am Ende einer traditionellen Geschichte gleichzeitig die Sicht auf ein modernes Europa.
Die Schwierigkeiten mit dem Leben im „Modernen Europa“ führen uns zum Eröffnungsfilm Human Zoo von der dänischen Regisseurin Rie Rasmussen. Der Film erzählt von einer jungen Frau, halb Albanerin, halb Serbin, und einem jungen Soldaten, der sie während des Krieges knapp vor einer Vergewaltigung bewahrt. Die Handlung ist im damaligen serbischen Kosovo und im heutigen Marseille angesiedelt. Eigentlich sehnen sich beide nach einem modernen europäischen Leben. Sie fühlen sich diesem Leben nah, wachsen aber in einer unmenschlichen, mittelalterlichen Gewaltsituation auf. Insofern ist der Film repräsentativ für das diesjährige Profil des Panorama-Programms: Er zeichnet eine Perspektive auf den Ausbruch aus der Tradition, der Verrücktheit und Gewalttätigkeit in Europa. Gleichzeitig haben wir die Möglichkeit, darin einen Blick auf den Aufbruch in Europa zu erhaschen, auf das „Moderne“ in Europa, das es zu einem der angenehmsten Orte der Welt macht.
„Ein persönlicher Zugang, aber gleichzeitig ein Blick auf die Auswirkung von Globalisierung“
Die Dokumentarfilme haben dieses Jahr einen starken politischen Einschlag und beleuchten zum Teil auch große Zusammenhänge. Michael Winterbottom und Mat Whitecross widmen sich in The Shock Doctrine der fundierten Kritik an neoliberalen Strategien. Sie zeigen ein Work-in-Progress nach dem gleichnamigen Buch von Naomi Klein. Wie verfilmt man solch ein analytisch-theoretisches Werk?
Der Zusatz „Work-in-Progress“ bezieht sich auf die Komplexität des Themas. Es liegt fast schon in der Natur der Sache, kein Ende zu haben, und auch der Film hat bislang sein Ende nicht gefunden. Normalerweise bin ich vorsichtig mit Work-in-Progress-Präsentationen. Aber diesmal war es eine inhaltliche Entscheidung, den Film mit den Regisseuren in Berlin zu diskutieren, die Hand in Hand mit der Entscheidung für einige andere Filme in diesem Programm ging. Interessant ist beispielsweise auch der Weg von der Theorie zum praktischen Umgang mit der Problematik von Globalisierung: The Yes Men Fix the World zeigt einen wunderbaren Ansatz, nicht zu verzweifeln.
Einen ganz anderen Ansatz hat Jose Padilha mit seinem Film Garapa, der sich mit dem Elend hungernder Menschen beschäftigt – wie schafft er es, die Gefahr der mitleidvollen Distanz der Zuschauer zu überwinden?
Indem er den Zuschauer derart mit dem Thema konfrontiert, dass dieser wütend wird. Nach diesem Film muss man erst wieder den Fokus finden, um zu wissen, was man mit dieser Wut anfangen kann. Der Film zeigt drei Familien zu Hause in Brasilien, dem Hunger und einer Entwurzelung in der schlimmsten Form ausgesetzt. An dieser Grenze der Entmenschlichung bewegt sich der Film, hinterlässt die Zuschauer aber ohne den üblichen Betroffenheitseffekt. Der Filmemacher geht ganz unprätentiös vor. Er sieht seine Rolle darin, einfach zu bezeugen und zu zeigen, was passiert, wenn Fremdinteressen über Menschen und über Leichen gehen.
Helga Reidemeister, dieses Jahr vertreten mit Mein Herz sieht die Welt schwarz – Eine Liebe in Kabul, steht für eine Generation von Filmemachern, die sich mit ihren Filmen stark gesellschaftskritisch engagieren und dies auch formal zum Ausdruck bringen. Welche dokumentarischen Formen bekommen wir dieses Jahr von ihr zu sehen? Gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen Dokumentarfilmen im Programm?
Reidemeister ist aus der Generation Dutschke und das spürt man auch in ihren Filmen. Heute geht sie etwas anders vor als damals. Als Trend ist das eigentlich eher im Spielfilmbereich zu beobachten: Weht der Wind rauer, ziehen sich die Filme auf den Mikrokosmos zurück, alles wird persönlicher gesehen. Im Dokumentarfilm beobachten wir dasselbe Syndrom. Hier wird es allerdings zum Mittel, den gewohnten Blick aufzubrechen. Im besten Fall lösen sich die Filmemacher dabei von dem „Sackgassen-Blick“, aus dem Länder wie Afghanistan, Pakistan oder Kaschmir oft betrachtet werden, und öffnen damit auch das vermeintlich abgeschlossene, fast schon fatalistische Verhältnis, das wir zu diesen Ländern entwickelt haben.
Udi Aloni schildert in Kashmir: Journey To Freedom mit vielen persönlichen Zeugenschaften den Willen und die elaborierte Anstrengung zur Wiederherstellung eines Friedens, den diese von den Nachbarstaaten aufgeteilte Region seit über zwanzig Jahren entbehrt. Entwurzelung und der Mangel an Orientierung sind auch hier von großer Bedeutung, ebenso wie in Kiss The Moon von Khalid Gill. Hier geht es um zwischengeschlechtliche Menschen, die in der pakistanischen Tradition als Glücksfiguren gelten und einen festen Platz in der kulturellen Lebensgemeinschaft einnehmen. Die Neustrukturierung der modernen Gesellschaft bringt diese Traditionen jedoch ins Wanken und gefährdet damit die Grundlage für den angestammten Platz. Ein interessanter Gegenpol zu Europa, wo aufbrechende Traditionen positiv konnotiert sind, zugunsten der Freiheit des Individuums.
Die meisten Europäer wird bereits die Existenz einer solchen Tradition verwundern. Vor diesem Hintergrund ist es traurig zu sehen, dass man sich da regelrecht von der Integration wegbewegt.
In der Tat. Pakistan ist dahingehend sehr spannend, weil der gewohnte Blick noch einmal hinterfragt wird und Denkgewohnheiten neu herausgefordert werden. Diese Verunsicherung des Blicks bewirkt auch Helga Reidemeister mit ihrem Film über zwei Familien in Afghanistan. Sie vermittelt sehr anschaulich, dass es vor allem soziale Umstände sind, die einen Mann auf der Suche nach Arbeit zu den Taliban führen, und nicht unbedingt ideologische. Alle drei Filme lenken den Blick auf wirksame Wertestrukturen, aber auch die Entwurzelung ganzer Familien - ein persönlicher Zugang, aber gleichzeitig ein Blick auf die Auswirkung von Globalisierung.