2010 | Berlinale Shorts
Mit offenem Blick
Auch in diesem Jahr fallen die Berlinale Shorts aus dem Rahmen konventioneller Filmsprache und positionieren sich in vielen Fällen „zwischen den Künsten.“ Ein Gespräch mit der Kuratorin der Sektion Maike Mia Höhne über thematische Tabus und Möglichkeiten, im Kurzformat filmisch zu erzählen.
Die Berlinale Shorts sind durch ihre Vielfalt nicht so leicht zu kategorisieren und bergen immer wieder Überraschungen. Das macht unter anderem ihren besonderen Reiz aus. Wie geht man vor, wenn man so unterschiedliche filmische Formen zu Programmschienen gruppiert?
Ich kuratiere vor allem nach Gefühl und folge dabei einer assoziativen Verknüpfung in der Programmierung. Die Herausforderung dabei ist das hohe Maß an Komplexität der Filme. Die Filme, mit und in ihrer formellen und inhaltlichen Reichhaltigkeit, brauchen Zeit und Platz. Manchmal würde auch das Schauen von zwei Filmen ausreichen, um genügend Gesprächsstoff für die Zeit danach zu haben. Der Gefahr, von der Fülle erschlagen zu werden, versuchen wir entgegenzuwirken, indem wir - neben einer ausgewogenen Programmierung - in diesem Jahr erstmals auch spezielle Filmgespräche im Kino Arsenal arrangieren. Die Zeit des erzählten Witzes der Nuller Jahre ist vorbei. Die Ausnahme bestätigt die Regel: 12 Jahre, der hat ein wunderbares Drehbuch und hält mehr als den bloßen Scherz bereit.
Kannst Du etwas Spezifisches ausmachen, das den diesjährigen Auswahlprozess und die eingereichten Filme von denen vorhergehender Jahrgänge unterscheidet?
Mit Blick auf die letzten Jahre kann man auf jeden Fall eine sukzessive Steigerung an Einsendungen beobachten. Aber im finalen Entscheidungsprozess spielt dann trotzdem nur eine überschaubare Menge von Filmen eine Rolle. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die anderen schlecht sind, viele Filme passen schlichtweg nicht in das Format, das wir programmieren wollen. In der Tendenz kann man sagen, dass die Filme länger geworden sind. Außerdem fällt auf, dass das, was Video ökonomisch möglich macht, z.B. das Ausprobieren vieler verschiedener Perspektiven oder Einstellungen, sich direkt in den aktuellen filmischen Produktionen niedergeschlagen hat. Das wird vor allem mit Blick auf die Retrospektive PLAY IT … SHORT! | 1 & 2 deutlich, in der die Filme oftmals nur halb so lang sind im Vergleich zu heute, dafür filmsprachlich anders angelegt waren: die Narration schuldete dem Material die Zeit. Parachute von 1985/86 ist ein Paradebeispiel für eine Ökonomie der Einstellungen, die unverzichtbar für die Erzählung ist und gleichzeitig das Kernstück und die Besonderheit dieses kurzen Films ausmacht. Diesen Unterschied bemerkt man in der direkten Gegenüberstellung zu den Filmen von heute deutlich.
Viele Filme schienen mir ein Unbehagen oder eine Unsicherheit im Umgang mit einer rein rationalen Erschließung von Welt auszudrücken. Mal geschieht das sehr direkt wie in Math Test, oft auf viel subtileren Wegen, etwa bei In the Air, Out in that Deep Blue Sea oder auch in Yellow Moon. Könnte in diesem Aufzeigen alternativer Sichtweisen ein Motto des diesjährigen Berlinale Shorts Programms, vielleicht sogar ein grundsätzliches Sektionsmotto liegen?
Eine Öffnung des Blicks weg von rationaler Welterschließung kann man sicher so programmatisch sehen. Das gilt dann allerdings sowohl für die formalen als auch für die inhaltlichen Vorgehensweisen der Filme. Colivia (Der Käfig) aus Rumänien ist sicher noch am traditionellsten in seiner Umsetzung, trotzdem und gerade deswegen eine Perle: zeigt uns der Film doch mit subtilen filmischen Mitteln die innerfamiliären Kommunikationswege und die Entwicklung in derselben auf. Von da ausgehend lässt sich dann ein Weg der Öffnung hin zu alternativen filmischen Auseinandersetzungen und Spielarten verfolgen. Das geschieht in den meisten Filmen auf mehreren Ebenen. Formal und inhaltlich, aber auch in der übergeordneten Perspektive mit einem wunschvollen Blick in die Zukunft. Unplay beispielsweise zeigt seine eigene Herangehensweise in einer veränderten moralischen Haltung gegenüber dem Feminismus, die mit einigen seiner Kategorien bricht und sie neu denkt.
Entschlossene Formen
Bei aller Unterschiedlichkeit der Themen und ästhetischen Verfahren ist die formale Stringenz, mit der die Filme größtenteils umgesetzt wurden, sehr auffällig. Gehört eine einfacher zu erreichende stilistische Konsistenz zu den großen Vorteilen des Kurzfilms?
Vielleicht sollte man diese Diskussion weniger diametral denken. Die Frage ist doch, inwieweit dieser Gegensatz konstruiert ist – auch im Selbstverständnis der künstlerischen Position, aus der heraus bestimmte Formate oder Kooperationen notwendig erscheinen und andere ausgeschlossen werden. Z.B. der israelische Regisseur Avi Mograbi ist mit seinen essayistischen Dokumentarfilmen einer derjenigen, der auch die lange Form für sich konsequent anders denkt. Gerade darin liegt ja das Potenzial kategorischen Andersdenkens, Formate von ihren traditionellen Formen gelöst zu betrachten.
Insgesamt möchte ich mich in der Programmierung mit den Grenzen von Kino auseinander setzen und konzentriere mich auf Filme, die an dessen Peripherie wandern, um ihnen hier innerhalb der Berlinale einen Raum zu geben. Im Vergleich zum Forum Expanded, in dem es um noch ganz andere Überschreitungen geht, bleiben die Filme von Berlinale Shorts im Kino und wollen das Kino.
Sicher sind es auch Konventionen, die sich festsetzen. Funktioniert die assoziative Dynamik und Öffnung der Perspektive bei Out in that Deep Blue Sea nicht gerade wegen seines Kurzformats, das keiner narrativen Führung des Zuschauers bedarf? Zeigt Incident by a Bank nicht gerade durch seine Konzentration jenseits klassischer Narration eine Stringenz, die sich im Langfilm nur schwer behaupten ließe?
Genau, dazu fällt mir auch Photos of God von Paul Wright ein, ein Film, der sich fast schon explosiv durch seine Bildintensität erschließt. Ganz allgemein ist es eine interessante Frage, wie viel Narration ein Film braucht, um über eine gewisse Länge hinwegzukommen. Und die Qualität eines Kurzfilms wie Out in that Deep Blue Sea oder Yellow Moon liegt ja auch darin, dass diese Filme genau wissen, wann sie aufhören können.
Beim Blick auf die Filmauswahl sind mir einige Ansätze aufgefallen, die mir aus dem letzten Jahr bereits bekannt vorkamen, nun aber in Variation wieder neu im Programm auftauchen. Ich denke da zum Beispiel an den Kompilationsfilm Long Live the New Flesh, der ähnliche Fragen nach einer medialen Materialität in den Vordergrund drängt wie Pure im letzten Jahr. Möchtest Nimmst Du dieses Thema bewusst wieder auf oder ist der Beitrag für Dich qualitativ einfach so herausragend, dass er auf jeden Fall ins Programm musste?
Beides: das Thema liegt auf der Hand und in den Filmen: jedes Jahr gibt es eine Anzahl von „Found Footage“-Filmen, die sich mit ihrer ganz eigenen, dem Material inhärenten Ästhetik, der Materialität in all ihrer Komplexität und Narration mit der Schere nähern. Der belgische Künstler Nicolas Provost, ist 2010 erstmals auf der Berlinale vertreten. Parallel zum Festival werden seine Arbeiten auch in der Berliner Galerie Haunch Of Venison präsentiert. Long Live the New Flesh und der im letzten Jahr gelaufene Pure gehen ästhetisch und inhaltlich ähnliche Wege. Beide bringen die Bilder regelrecht zur Explosion und konjugieren das Thema Gewalt konsequent durch.
Die Regisseure von Derby (Paul Negoescu) und Out in that Deep Blue Sea (Kazik Radwanski) sind ja schon mehrfach zu Gast bei den Berlinale Shorts gewesen…
Das stimmt und ich freue mich sehr darüber. Paul Negoescu wird immer strenger und noch reduzierter. Thematisch ähnlich zu Out in that Deep Blue Sea wirft sein Film mit nur einer Szene entscheidende Fragen im Leben eines Mannes mittleren Alters auf. Gerade über die konzentrierte Zusammenarbeit von Regie und Schauspiel entstehen hier Fragen wie: Wo steht man im Leben, in der Gesellschaft? Die Arbeit mit den Schauspielern ist bei den rumänischen Regisseuren auffällig und durchgehend gut. Die Proben mit den Schauspielern gehen oft über Wochen. Das verleiht den Filmen eine ungeheure Intensität. Anders noch bei Out in that Deep Blue Sea. Der Film entwickelt das starke Bild eines Menschen in einer Situation, in der er auf sich selbst zurückgeworfen wird. Dabei schafft er es, mich als Zuschauerin gleichermaßen auf mich zurückzuwerfen. All das über die Inszenierung, die Entscheidung für ganz bestimmte Szenen, in denen die Konflikte zum Ausbruch kommen und eine visuelle Sprache, die sich noch verstärkt hat im Vergleich zum letzten Jahr mit Princess Margaret Blvd.
Filme wie diese nehmen mich in ihre Welt mit, belassen mich dann aber mit all den Evokationen, die sie auslösen. Nicht so sehr über eine lange Narration, sondern mehr über ihre filmischen Motive zeichnen sie das Bild einer existenziellen Grundsituation, die das Menschsein ausmacht. Aus diesem Grund bin ich wie gesagt sehr froh, dass wir in diesem Jahr durch die Filmgespräche im Arsenal die Möglichkeit haben, mit den Filmemachern ins Gespräch zu kommen. Die gesamte Trilogie, zu der Out in that Deep Blue Sea von Kazik Radwanski gehört, werden wir mit einem anschließenden Panel in der kanadischen Botschaft zeigen und auf diesem Weg einen Austausch ermöglichen.
Jenseits der Konvention
Bei vielen Filmen mit dokumentarischem Anspruch fällt auf, dass sie sich klassischen Konventionen dokumentarischer Darstellungen zu entziehen versuchen. Tussilago arbeitet zum Beispiel mit sehr künstlerischen, illustrativen, einfallsreichen Formen. Woher rührt diese spezielle Art der Darstellungsweise?
Ich denke, Formate wie Tussilago vom einstigen Berlinale Gewinner Jonas Odell (Goldener Bär 2006 für den Kurzfilm Aldrig som första gangen!), die illustrative Elemente mit dokumentarischen Formen verbinden, stehen darin tatsächlich aktuellen, populären Strömungen aus der Kinderbuchgrafik sehr nahe. Spannend fand ich aber gerade die Art der Übertragung der Form als kunstfertiger Blick auf gesellschaftspolitische Phänomene. Der formal sehr starke Film arbeitet viel mit zweidimensionalen, visuellen Schichten und Papiercollagen, aus denen eine besondere Haptik entsteht. Die Wahl dieser Collagenästhetik kann sicher auch im Zusammenhang mit Odells Arbeit in Musikclips gesehen werden. Abgesehen davon hat Tussilago aber auch ein sehr starkes Thema. Für mich ist dieser Film ein Dokument, das mit einer großen Nonchalance von der doch sehr problematischen Mentalität erzählt, von der die Diskussionen der Siebziger Jahre geprägt waren. Und er findet wunderbar lakonische Bilder für politische Solidaritätsbekundungen und bewaffneten Widerstand.
Der japanische Beitrag Aramaki von Isamu Hirabayashi hat einen eindeutigen Bezug zur Performance Art und setzt statt eines erklärenden Rahmens auf die Herausforderung, aber auch Aktivierung des Zuschauers. Ein einfacher Zugang wird dem Publikum jedenfalls verwehrt. Steckt dahinter eine Absicht oder die Gefahr, den Zuschauer zu sehr herauszufordern?
Ich glaube nicht, dass man die Zuschauer zu sehr herausfordern kann. Der Wunsch, etwas Neues, etwas anderes zu sehen, ist groß. Es geht nicht darum, alle Filme zu mögen - es geht um die Qualität des Sich-Einlassens. Diese Qualität bringt unser Publikum mit und das macht die Projektionen und Gespräche so spannend. Und das ist es auch, was die Filmemacher wieder mit nach Hause nehmen - und was sie unglaublich beeindruckt und ihnen Kraft gibt für weitere Filme.
Aramaki ist sicher anspruchsvoll, wird aber mit einer entsprechenden Einführung den Reigen der Berlinale Shorts Filme anführen. Er greift ganz klar performative Formen auf, übersetzt diese aber filmisch und als Kurzfilm. Er schafft es, mit wenig Mitteln - auch finanziellen - über das Bild und die direkte Performance seine Story zu entwickeln. Dieser Film ist Performance Art, Reduktion und Film, dessen Stilmittel von Anfang bis Ende begründet und exakt platziert sind. Auf diese Konzentration muss man sich ganz klar einlassen – das ist die Herausforderung an die Zuschauer und da schließe ich mich immer wieder ein. Und um dann wieder ganz versinken zu können ein Film wie Giardini di Luce (Lichtergarten) von Davide & Lucia Pepe. Die beiden haben einen ethnografischen Film über ein Festival für einen Heiligen in Süditalien gemacht. In der Form haben sie sich für das Experiment entschlossen und das macht den Film so besonders: wir sehen barocke Bilder am Himmel, die wir, ohne die Entscheidung für diese Form, die wiederum mit der künstlerischen Position der Geschwister zu tun hat, niemals gesehen hätten.
Geliebt orientiert sich formal eindeutiger am Dokumentarischen. Wurde er in erster Linie aufgrund des Themas ins Programm aufgenommen, also um mit dem Tabuthema Liebe zwischen Mensch und Tier zu brechen. Oder hattest du andere Beweggründe?
Geliebt ist ein schlichter, in der Reduktion sehr konzentrierter Dokumentarfilm. Für mich lag seine Kraft nicht so sehr im Tabubruch, sondern in der Ruhe, Konzentration und Reduktion der Cadrage – gerade im Umgang mit einem potentiell reißerischen Thema. Mit seinen Protagonisten am Rande der Gesellschaft liegt es nahe, an Ulrich Seidel zu denken. Jan Soldat, Regiestudent an der HFF in Potsdam-Babelsberg, hat sich auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten begeben. Er hat einen geradezu warmen Film gemacht über ein schwieriges Thema mit sich aufdrängenden Fragen nach Verantwortung von Gesellschaft, Einsamkeit und Liebe. Die Protagonisten von Geliebt lassen mit dem noch jungen Jan Soldat indirekt auch uns, die Zuschauer, erstaunlich nah an sich. Das Verhältnis von Mensch und Tier ist streitbar. Genauso streitbar die Fragen an die Gesellschaft, die sich daraus ergeben.
Also weniger ein Film über die Perversion in der Beziehung, sondern über die Einsicht, das verlorene Vertrauen in die Gesellschaft woanders zu suchen...
Ja, sicher. Die Geschichten der Protagonisten schockieren weniger, als dass sie unglaublich traurig machen. Sie erzählen von sozialen Sackgassen. Der Film ist formal sehr stark und ausgereift, deswegen kann ihn das Festival gut tragen. Das Dokumentarische ist, was den Film so aufwühlend macht. Wäre er inszeniert, wäre die Diskussion eine andere. Wir wollen Filme, die aufwühlen, denken machen, an die Grenzen gehen, uns fühlen machen.