2012 | Perspektive Deutsches Kino
Noch nicht perfekt, aber auffällig anders
Von beeindruckenden Angstszenarien, Frauen in Männerrollen und einer bunten DDR. Im Interview spricht Sektionsleiterin Linda Söffker über Hochschulfilme und die vielen freien Produktionen im Programm der Perspektive Deutsches Kino 2012. Sie macht Lust auf deutsche Filme, die mit den Genres spielen, am Puls der Zeit sind und Bilder finden, die einen neuen Blick auf Bekanntes werfen.
2011, in Deinem Premierenjahr als Leiterin der Perspektive Deutsches Kino, hast Du die hohe Qualität der Einreichungen gelobt. Wie war es in diesem Jahr?
2012 wurden über 60 Filme mehr als im Vorjahr eingereicht, was nicht zwangsläufig heißen muss, dass ich viel mehr gute Filme gesehen habe. Die Auswahl war komplizierter. Regisseure sagen ja meist, dass der zweite Film der schwierigste ist. Ähnlich ging es mir in meinem zweiten Jahr als Leiterin der Perspektive. Man entwickelt einen kleinen Ehrgeiz, will sich selbst, den Zuschauern und der Presse beweisen, dass man seinen Stil gefunden hat und es für alle aufregend ist, in die Perspektive zu gehen. Trotzdem hat es lange gedauert, bis ich dieses Jahr ein Gefühl für das Programm bekommen habe. Länger als letztes Jahr. Mit den ausgewählten 13 Filmen bin ich jetzt aber sehr glücklich!
Was ist für Dich inhaltlich auffällig am diesjährigen Programm?
In diesem Jahr versammelt sich zum ersten Mal eine deutsch-türkische Filmgemeinschaft in der Perspektive. Mit Karaman haben wir einen Film dabei, der ausschließlich in Anatolien spielt, einen Deutschlandbezug gibt es trotzdem. Tamer Yiğit, einer der beiden Filmemacher des Regie-Duos (Yiğit/Prlić) ist Türke, der seit seiner Geburt in Berlin lebt. Tamer wiederum ist der Bruder von Burak Yiğit, der die Hauptrolle in Westerland spielt – einem weiteren Film in unserer Sektion. Auch Engin Kundağ erzählt in seinem Kurzfilm Ararat eine Geschichte aus seiner türkischen Heimat. Das finde ich auffällig und vor allem sehr interessant, wie die Türkei auch in der Perspektive immer näher an Europa heranrückt.
Wie ergeben sich solche Zusammenhänge? Hast Du von Anfang an das Programm als Ganzes im Kopf oder guckst Du die Filme erst einmal ganz unabhängig voneinander?
Zunächst habe ich kein klares Bild im Kopf, sondern verlasse mich ganz auf mein Gefühl beim Sichten. Wenn ich dann die ersten Filme gefunden habe, die mir thematisch besonders auffallen oder die filmästhetisch und dramaturgisch eine besondere Sprache entwickeln, fange ich auch an, nach speziellen Motiven zu suchen. Zum Beispiel haben dieses Jahr zu Beginn hauptsächlich Männer das Programm dominiert. Im Folgenden war es dann besonders schön, auch interessanten Frauen zu begegnen, wie Soleen Yusef, die in Trattoria eine Vater-Tochter-Geschichte im mafiösen Schutzgeld-Milieu erzählt. Solche Erwägungen nehmen im Verlauf der Sichtung zu. Aber am Anfang gibt es kein klares Bild.
Eigenwillige Grußkarten und künstlerische Versprechen
Kannst Du etwas sagen zum Verhältnis von Filmen, die an Hochschulen entstanden sind, und unabhängigen Produktionen?
Dieses Jahr ist es sehr auffällig, dass bei sieben Langfilmen im Programm (vier Spiel- und drei Dokumentarfilme) nur ein Film einen Filmhochschulhintergrund hat. DIE VERMISSTEN ist der Abschlussfilm von Jan Speckenbach, der an der dffb studiert hat. Jan Speckenbach ist aber nicht der typische Filmhochschüler, der seinen ersten Kurzfilm mit Anfang 20 macht, sondern er hat erst spät angefangen Regie zu studieren. Seine beiden Kurzfilme Spatzen (2009) und Gestern in Eden (2008) liefen beide in Cannes, einer in der Cinéfondation und einer in der Auswahl von German Films.
Mit DIE VERMISSTEN hat Jan Speckenbach ein Angstszenario geschaffen, das in der nahen Zukunft spielt: Kinder verschwinden einfach und der Film klärt zunächst weder das Warum noch das Wohin. Die Suche der Eltern löst ein ungutes Gefühl beim Zuschauer aus, die Situation erinnert an Mystery und Science Fiction. Am Anfang ihrer Karrieren trauen sich Filmemacher oft noch nicht in den Bereich der Fantasie und Vision und schon gar nicht, solche Angstszenarien umzusetzen. DIE VERMISSTEN ist so ein Beispiel, wo der Regisseur sein reales Umfeld verlassen hat, das fällt auf und ist beeindruckend.
Die anderen sechs Langfilmregisseure sind über kleine Umwege zum Film gekommen. Um ein paar Bespiele zu nennen: Tim Staffel, der Regisseur von Westerland, arbeitet als Autor und hat nun seinen eigenen Roman „Jesús und Muhammed“ verfilmt. Katarina Peters von Man for a Day hat auch keinen Filmhochschulhintergrund, sondern vor ihrem ersten Film Am seidenen Faden (2004) allerlei andere Erfahrungen gesammelt. Tamer Yiğit (Karaman) hat als Schauspieler und als Regisseur am Theater gearbeitet und hat beispielsweise in Die Fremde von Feo Aladag, der 2010 im Panorama lief, mitgespielt. Seine Co-Regisseurin Branka Prlić war vorher auch am Theater. Alles keine geradlinigen Karrieren, das interessiert mich.
Bei den mittellangen Filmen ist das anders. Hier kommt die Hälfte der Filme von Filmhochschulen. Die Filmemacher probieren sich aus mit Geschichten, die einen kleineren Rahmen brauchen. Vorerst sind das noch künstlerische Grußkarten, die auf eine erwartungsvolle Zukunft verweisen. Hier kann man Talent entdecken.
Du hast eben die Genrebezüge in DIE VERMISSTEN erwähnt. Welche Rolle spielen solche Bezüge in den anderen Filmen?
Ein besonderes Beispiel mit sehr deutlichen Genreanklängen ist Gegen Morgen, eine freie Spielfilmproduktion von Joachim Schoenfeld: Zwei Polizisten müssen einem vermeintlichen Mörder, der aus dem Knast kommt, Personenschutz bieten. Im Zuge ihrer Überwachung werden sie mit dem Mordfall konfrontiert. Der Film hat dafür eine ganz besondere Sprache gefunden und zeigt zum Beispiel ein Berlin, wie ich es so noch nie im Film gesehen habe.
Der Regisseur hat viele Jahre als Schauspieler gearbeitet und dann mit Freunden zusammen eine Produktionsfirma gegründet. Man spürt diverse Einflüsse, die sich vor allem ästhetisch manifestieren. Joachim Schoenfeld arbeitet mit Referenzen an verschiedene Künste: Einer der beiden Polizisten heißt Wagner und hört auch immer Wagner. Er schaut aus dem Fenster und singt Arien, dabei zählt er die Vögel. Mich erinnert das ein bisschen an Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof. Ich würde diese Verweise auf das Interesse zurückführen, sich auszuprobieren und Formen zu erkunden.
In Man for a Day testen Frauen die Rolle von Männern aus. Würdest Du sagen, dass sich auch in diesem Film das Ausprobieren der Filmemacher widerspiegelt?
Ich glaube mit Man for a Day greift die Regisseurin Katarina Peters eher ein gesamtgesellschaftliches Phänomen auf, das gerade in der Luft liegt: Männer und Frauen experimentieren immer mehr mit ihren Geschlechterrollen. Es geht sowohl um Annäherung als auch um Abgrenzung. Katarina Peters stellt die Frage nach den Unterschieden: Sind Männer erfolgreicher im Job? Und wenn ja, woran könnte das liegen? Basieren die Unterschiede nur auf Rollenmustern, die jeder lernen kann?
Ich finde es sehr überzeugend, wie die Frauen in diesem Film die Männerrollen annehmen und imitieren, so dass sie bei einem Test auf der Straße wirklich als Männer durchgehen. Umgekehrt wäre das sicherlich ganz anders.
Ein Film also, der hauptsächlich wegen seines thematischen Schwerpunktes ausgewählt wurde?
Mich hat nie nur das Thema oder nur die Machweise eines Films angesprochen, sondern es ist immer eine Kombination. Man for a Day hat, vom Thema abgesehen, eine sehr schöne Kamera. Jeder Film hat was ganz Besonderes, kann aber auch noch kleine Schwächen haben. Während bei dem einen die Form nicht immer ganz dem standhält, was der Film erzählen möchte, hat der andere mit wunderbaren Kinobildern eine Fantasie entworfen, bei der er am Ende womöglich die Geschichte ein bisschen aus den Augen verliert. Die Filme der Perspektive sind nicht alle hundertprozentig perfekt. Aber sie sind alle besonders; Filme, die man zeigen muss und die eine große Leinwand brauchen.
Persönliche Abschiede und eine bunte DDR
Die meisten Filme beschäftigen sich mit dem Hier und Jetzt und stellen Fragen nach dem eigenen Lebensentwurf. Drei Filme blicken jedoch zurück. Sterben nicht vorgesehen, Rodicas und This Ain´t California…
Die drei Filme blicken auf sehr unterschiedliche Art und Weise in die Vergangenheit: Sterben nicht vorgesehen ist eindeutig eine Liebeserklärung und ein Abschiednehmen des Filmemachers von seinem Vater. Ein sehr persönlicher, sehr schöner Film, der mit verschiedenen Materialien spielt. Fotos aus der Vergangenheit und Erinnerungen, die animiert wurden, werden in diesem Film verwoben.
Rodicas erzählt von zwei über 80jährigen Frauen, die beide aus Rumänien immigriert sind, sich aber erst viele Jahre später in Australien kennengelernt haben. Beide heißen Rodica und sind dicke Freundinnen. Die Filmemacherin ist die Enkelin der einen und versucht etwas über das Leben der alten Damen herauszufinden. Obwohl die beiden Rodicas sehr wenig über ihre Vergangenheit erzählen, erfährt man unglaublich viel darüber, wer sie sind und was sie geformt hat. Also auch ein sehr persönlicher, charmanter Film. Und lustig. Wie Sterben nicht vorgesehen thematisiert er das Abschiednehmen, denn eine der Protagonistinnen ist kurz nach den Dreharbeiten verstorben. Trotzdem sind dies wahrscheinlich die Filme im diesjährigen Programm, die am leichtfüßigsten daherkommen.
This Ain´t California wiederum schaut auf eine ganz andere Art zurück. Wir haben in der Perspektive immer wieder Filme mit einem DDR-Bezug gezeigt. This Ain´t California hat mich auf ganz besondere Weise beeindruckt. Der Film erzählt in wunderbaren, alten Super-8-Aufnahmen von den sogenannten Rollbrettfahrern und zeigt uns eine DDR, wie ich sie noch nie im Kino gesehen habe. Ein wildes, buntes Land. Die drei Protagonisten sind wahnsinnig gut drauf und total außer der Reihe – mit außer der Reihe meine ich, dass sie nicht angepasst sind. Sie sind keine Rebellen im eigentlichen Sinne, die sich gegen das System auflehnen oder große Reden schwingen, sondern ihre Rebellion besteht darin, dass sie etwas machen, was sonst keiner macht. Dabei rufen sie ein unheimliches Gefühl von Freiheit hervor.
Preise und Gespräche
2012 wird zum ersten Mal der von Glashütte Original gestiftete Preis „Made in Germany – Förderpreis Perspektive“ verliehen. Kannst Du etwas zum Hintergrund dieses Preises sagen?
Die Idee hinter dem Preis ist es, die Talente, die ihre Filme in der Perspektive bereits präsentiert haben, weiter zu fördern, sie bei ihrem nächsten Projekt zu unterstützen und zu motivieren. Deshalb haben die Regisseure der Perspektive 2011 die Möglichkeit bekommen, ein Treatment einzureichen. Die drei Jurymitglieder Thomas Arslan, der mehrmals mit seinen Filmen auf der Berlinale vertreten war, Anna Brüggemann, Autorin und Schauspielerin auch von/in Perspektive-Filmen, und Gian-Piero Ringel, Produzent von Wim Wenders Pina, lesen die Treatments und suchen ein Projekt aus. Der Autor des besten Treatments erhält bei der diesjährigen Eröffnung der Sektion eine Förderung von 15.000€. Die Summe ist für die Drehbuchentwicklung eines Spielfilms bzw. für die Recherchearbeit zu einem Dokumentarfilm gedacht. Wir sind sehr gespannt.
Außerdem laden wir zum ersten Mal einige Regisseure der diesjährigen Perspektive zu einstündigen Gesprächen in die Glashütte Lounge ein, um ihre Filme und aktuelle Themen rund um den deutschen Film vor Publikum besprechen zu können.
Und zum Abschluss der Berlinale wird unser Hauptpreis „Dialogue en perspective“ - gestiftet vom Deutsch-Französischen Jugendwerk – an den besten Film des diesjährigen Perspektive-Programms verliehen. Den Juryvorsitz hat Jan Henrik Stahlberg, der mit seinem Film Muxmäuschenstill schon 2004 in der Perspektive und danach mehrmals im Panorama war.