2013 | Perspektive Deutsches Kino
Außerhalb des sicheren Terrain
In der diesjährigen Perspektive Deutsches Kino präsentiert sich der junge deutsche Film stark und vielfältig. Ein thematischer Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit dem Abschiednehmen. Im Interview gibt Sektionsleiterin Linda Söffker einen Ausblick auf elf Filme, die für den erstmals mit 5.000 Euro dotierten „DFJW-Preis Dialogue en perspective“ nominiert sind sowie auf das weitere Programm.
Einen thematischen Schwerpunkt scheinen in diesem Jahr Filme über einen Neuanfang, ein Ausbrechen aus dem Alltag – freiwillig oder unfreiwillig – zu bilden. Ich denke in erster Linie an den Eröffnungsfilm Freier Fall, aber auch an Silvi…
Der Eröffnungsfilm Freier Fall von Stephan Lacant erzählt nicht unbedingt von einem Neuanfang, sondern von einem Mann, der aus der Bahn geworfen wird. Marc hat einen festen Job, seine Frau erwartet ein Kind und gemeinsam haben sie gerade das Nachbarhaus ihrer Eltern in einer Reihenhaus-Siedlung bezogen. Sie sind glücklich miteinander, alles ist gut. Doch dann verliebt sich ein Kollege in ihn. Erst wehrt sich Marc dagegen, muss sich aber irgendwann eingestehen, dass auch er mehr für Kay empfindet. Ein Neuanfang wäre dann erst der nächste Schritt.
Silvi von Nico Sommer setzt eigentlich da an, wo Freier Fall aufhört. In der ersten Szene des Films wird Silvi von ihrem Mann verlassen. Sie war 20 Jahre verheiratet und ist mit Ende 40 nicht mehr die Jüngste. Da ihr Ehemann ihr erster und einziger Partner war, will sie sich neu ausprobieren. Sie lernt Männer kennen, die alle über einen gewissen sexuellen Erfahrungsschatz verfügen und diesen jetzt mit Silvi teilen wollen. Da sind wirklich die schärfsten Kandidaten dabei.
Die Melancholie des Abschiednehmens
Auch in Kalifornia und Die mit dem Bauch tanzen betrifft dieser Neuanfang schon etwas ältere Menschen. Welchen Zugang findet der Filmnachwuchs?
In Kalifornia von Laura Mahlberg lebt ein älterer Mann alleine in einem Wohnwagen am Meer. Eines Tages greift er zum Telefon, ruft seinen alten Freund Jack an und beschließt, ihn in Kalifornien zu besuchen. Mit seinem Köfferchen läuft er los. Auf seinem Weg trifft er auf die unterschiedlichsten Menschen und muss feststellen, dass ihm die Welt in all den Jahren fremd geworden ist. Schließlich kehrt er in seinen Wohnwagen zurück. Das klingt vielleicht deprimierend, ist es aber letztlich gar nicht. Es geht vor allem um die Aufbruchssituation. Kalifornien dient als Projektionsfläche seiner Sehnsucht. Im positiven Sinne stellt er am Ende fest, dass es Zuhause auch schön ist. Er trägt seinen Sessel an den Strand und schaut aufs Meer.
Der Dokumentarfilm Die mit dem Bauch tanzen funktioniert eigentlich umgekehrt. Hier geht es um das Moment des Abschiednehmens, in diesem Fall von der Jugend. Die Regisseurin Carolin Genreith ist selbst erst 28 und hat Angst, das für sie schwierige Alter 30 zu erreichen, da sie die körperlichen Veränderungen fürchtet. Ihre Mutter fühlt sich hingegen mit 50 sehr wohl in ihrer Haut. Sie ist Mitglied in einer Bauchtanzgruppe. Mit einem zunächst etwas verzweifelten, dann aber sehr liebevollen und persönlichen Blick nähert sich die Regisseurin der eigenen Mutter und konfrontiert sich gleichzeitig mit ihren eigenen Ängsten. Am Ende tanzt sie sogar mit, wenn auch nicht bauchfrei.
Vom Spiel mit Bild und Erinnerung
Letztes Jahr haben wir darüber gesprochen, dass Filmemacher sich am Anfang ihrer Karrieren oft noch nicht in den Bereich der Fantasie und Vision trauen. In diesem Jahr gibt es gleich zwei Filme, die Endzeit-Szenarien entwerfen: Endzeit und Die Wiedergänger.
Die Wiedergänger von Andreas Bolm ist nicht in erster Linie ein Endzeitfilm, sondern eher die Suche nach einem verlorenem Zuhause. Ein kunstvoller Essayfilm, der in sehr eindringlichen Bildern vom Wald und vom Verlust von Heimat erzählt; eigentlich ein Gedicht und ein Spiel mit Bild und Erinnerung. Der Film ist eine ganz besondere Farbe im Repertoire der eingeladenen Filme, indem er an den Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm kratzt.
In Endzeit von Sebastian Fritzsch haben mehrere Kometeneinschläge die Welt zerstört und die Menschheit ausgerottet. Die Anfangsszene schafft sofort ein starkes Bild einer postapokalyptischen Welt: Eine junge Frau baut eine Falle auf und erlegt einen Hasen, den sie dann häutet und am Feuer brät. Ich finde, die Schauspielerin Anne von Keller ist wahnsinnig gut besetzt. Sie hat ein sehr interessantes Gesicht, sehr besondere Augen, die sie in diesem Kontext selbst wie ein Reh aussehen lassen, welches durch den Wald streift. Später kommen Anklänge an das Horror-Genre hinzu. Der Regisseur Sebastian Fritzsch verlässt hier eindeutig die „heimischen Gefilde“, denn Nachwuchsfilme spielen in der Tat oft im realen Umfeld der Filmemacher und kreisen um Themen wie Familie, den engsten Freundeskreis oder die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Sven Halfars DeAD macht dies auf sehr verspielte Weise. Nach dem Selbstmord seiner Mutter taucht der coole Patrick auf dem 60sten Geburtstag seines Vaters auf, den er noch nie gesehen hat, aber indirekt verantwortlich für den Tod seiner Mutter macht. Die Tragik der Situation wird aber nicht als Drama, sondern als ziemlich trashige Groteske erzählt: sehr farbig, frisch und stilisiert, ohne dabei Klischee zu sein.
In unserem letzten Interview hast Du davon gesprochen, dass Du nach einem besonderen Formbewusstsein bei jungen Filmschaffenden suchst und nach neuen, ungewöhnlichen Arten, sowohl dramaturgisch als auch visuell, Geschichten zu erzählen. Ist Chiralia ein Ergebnis dieser Suche?
Chiralia (R: Santiago Gil) war wirklich ein richtiger Glücksfall. Ich war lange auf der Suche nach einem passenden Film zu Die Wiedergänger. Chiralia korrespondiert nicht nur inhaltlich mit Die Wiedergänger, sondern durch eine besondere filmische Sprache auch mit dessen besonderer, eigenwilliger Form. Ein Vater geht mit seinem Sohn im Waldsee schwimmen. Plötzlich taucht der Junge unter und ist nicht mehr zu sehen. Der Mann kommt schließlich alleine aus dem Wasser und berichtet von dem Verschwinden des Kindes. Die Kamera trägt die Geschichte von Mensch zu Mensch und damit von einer Erzählperspektive zur nächsten, bis am Ende niemand mehr weiß, ob der Junge überhaupt verschwunden ist.
Neben Die Wiedergänger bricht noch ein zweiter Film die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm auf: Zwei Mütter. Welche Mittel kommen hier zum Ausdruck?
Während sich Die Wiedergänger genau nicht auf die dokumentarische Form verlässt, sondern nach dem Punkt sucht, an dem die Fiktion anfängt, ist es bei Zwei Mütter von Anne Zohra Berrached umgekehrt. Die fiktionale Geschichte wird mit dokumentarischen Mitteln - fast protokollarisch und auf der Grundlage recherchierter Fakten und Statistiken - erzählt. Es geht um ein weibliches Ehepaar, das sich ein Kind wünscht und einen Samenspender sucht. Schnell wird klar, dass es für gleichgeschlechtliche Partner nicht so einfach ist, bei den „normalen“ Samenbanken Hilfe zu finden. Der Film versucht die Frage zu beantworten, warum das so schwierig ist und wie die Beziehung der Frauen beeinträchtigt und verunsichert wird.
Die Schönheit der Vergänglichkeit und persönliche Zugänge
Wie ordnest Du die beiden Dokumentarfilme Metamorphosen und Einzelkämpfer ein?
Sebastian Mez hat mit Metamorphosen einen Film über das Gebiet um das Kernkraftwerk Majak im Südural gemacht, in dem es 1957 zum weltweit drittgrößten Atomunfall der Geschichte kam. Über Tschernobyl und Fukushima wurde viel berichtet, aber wer hat schon mal vom Kernkraftwerk Majak gehört? Der Film ist in wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern fotografiert, die im Widerspruch zu der radioaktiv verseuchten Landschaft stehen. Im positiven Sinne macht Sebastian Mez so auf die Schönheit von Vergänglichkeit aufmerksam und ruft uns gleichzeitig eine vergessene Region und Geschichte in Erinnerung.
Einzelkämpfer ist ähnlich wie Die mit dem Bauch tanzen ein sehr persönlicher Film, zuweilen mit der Off-Stimme der Filmemacherin versehen. Die Regisseurin Sandra Kaudelka war selbst Leistungssportlerin in der DDR. Sie wollte nie auf eine Sportschule, wollte sich nie diesem Drill aussetzen, war aber zu ihrem „Unglück“ sehr talentiert. Jetzt sucht sie vier damals sehr erfolgreiche Leistungssportler auf und setzt deren Erinnerungen und Einschätzungen aus der heutigen Sicht ins Licht und vergleicht die Erfahrungen.
Fruchtbare Nachwuchsförderung
Annekatrin Hendel hat den im letzten Jahr erstmals vergebenen „Made in Germany – Förderpreis Perspektive“ gewonnen. Was ist aus ihrem Projekt geworden?
Das Buch zu dem Dokumentarfilm-Projekt Disko über den Bombenanschlag auf die Diskothek La Belle in Schöneberg, bei dem 1986 drei Menschen ums Leben gekommen sind, ist inzwischen fertig und das Projekt befindet sich in der Finanzierungsphase. Gedreht wird voraussichtlich Anfang 2014. Auch in diesem Jahr wird der Preis wieder von Glashütte Original gestiftet und ist mit 15.000 Euro dotiert. Alle Regisseure und Regisseurinnen des Perspektive-Vorjahres waren berechtigt ein Treatment einzureichen. Der Gewinner wird dann bei der Eröffnung der Perspektive Deutsches Kino gekürt.
Mit Hans-Christian Schmid, Nicolette Krebitz und Heino Deckert habt Ihr für 2013 eine sehr starke, prominente Jury gewinnen können. Der Preis wurde also gut aufgenommen und hat sich etabliert!?
Auf jeden Fall! Das ist eine wirklich richtig gute Nachwuchsförderung. Nachdem ein Film in der Perspektive gezeigt wurde, lassen wir die Regisseure und Regisseurinnen nicht einfach laufen, sondern geben ihnen einen Ansporn, weiter zu arbeiten und ein nächstes Buch zu entwickeln. Der Gewinner bekommt neben dem Drehbuch-Stipendium auch eine dramaturgische Beratung an seine Seite. Wir helfen auch bei der Suche nach Finanziers und hoffen dann, dass der fertige Film so gut wird, dass er am Ende in einer der anderen Berlinale-Sektionen laufen kann…
Über die Finanzierung von Filmprojekten sprechen wir in diesem Jahr auch in zwei „Made in Germany - Reden über Film“-Veranstaltungen. Die Hälfte der Filme des diesjährigen Programms wurde frei oder in kleinen Produktionsfirmen produziert. Die Regisseure von Silvi, Endzeit und DeAD haben ihre Filme über Umwege sogar selbst finanziert.
Dabei bleibt es aber nicht. Wir laden außerdem wieder zusammen mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk zu einem Werkstattgespräch, diesmal zum Thema „Tradition und Widerstand“. Als Gäste erwarten wir Volker Schlöndorff, Bruno Dumont, Emily Atef und Pia Marais.