2013 | Forum Expanded

Das Zwischen der Bilder

Das Forum Expanded verspricht in diesem Jahr mit einer Projektion im Berliner Liquidrom eines der großen Highlights des Festivals zu setzen. Zudem findet die Gruppenausstellung im ehemaligen Krematorium Wedding statt. Im Interview spricht Kuratorin Stefanie Schulte Strathaus über die Eroberung des Raums, die Sehnsucht der Partikel nach einer Welle und Telefonate aus dem Weltraum.

Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel

Zum ersten Mal findet die Gruppenausstellung dieses Jahr im ehemaligen Krematorium Wedding statt. Welche Atmosphäre habt Ihr vorgefunden und waren alle von Beginn an begeistert?

Ja, der Ort ist ein ehemaliges Krematorium, heißt jetzt aber „Silent Green Kulturquartier“ und wurde von den Betreibern übernommen, um einen Ort für Kultur zu schaffen. Wir sind die ersten, die dort eine Ausstellung machen. Er ist als Krematorium schon seit vielen Jahren nicht mehr in Betrieb, aber die Ruhe ist noch spürbar, es ist ein Ort der Erinnerung und des Innehaltens. Das Gebäude ist sehr reizvoll, gerade für die Künstler, die anfangs sehr unterschiedlich auf den Ort reagiert haben. Das reichte von absoluter Faszination bis zu der Aussage, das ginge gar nicht. Inzwischen sind aber alle sehr glücklich.

Ist die Geschichte des Gebäudes in die Arbeiten der Künstler eingeflossen oder habt ihr ausschließlich fertige Arbeiten eingeladen?

Die meisten Arbeiten waren schon fertig, aber wir haben bei der Auswahl sehr genau darauf geachtet, was es bedeutet, sie in einem ehemaligen Krematorium zu sehen. Durch die Videoinstallationen wird der Raum natürlich auch verändert, er wird in eine andere Farbigkeit versetzt, es kommt Bewegung hinein. Allerdings gibt es eine größere Arbeit, die tatsächlich für den Ort entstanden ist: „Canst Thou Draw Out Leviathan With A Hook?“ von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel. Die beiden haben zuvor Leviathan, einen Dokumentarfilm über Fischer gedreht. Kurz nach Drehbeginn haben sie sämtliche Kameras verloren, weil es sehr stürmisch war auf See. Also haben sie Kameras am Boot und an den Körpern der Fischer fixiert, damit sie nicht mehr verloren gehen konnten. Das hat den Effekt, dass der Zuschauer wirklich mitten drin ist im Geschehen, im Bild. Die Fische fliegen auf die Kamera zu, Wellen brechen über das Boot herein... Das führt zu einer sehr sinnlichen, körperlichen Filmerfahrung.

„Canst Thou Draw Out Leviathan With A Hook?“ von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel

Nach mehrmaligem verlangsamten Sehen ist den Filmemachern aufgefallen, dass durch die Wasserspritzer, die schimmernden Fische, die Sterne im nächtlichen Himmel und die Lampen auf dem Boot neue Dinge, ich nenne sie mal Wasser- und Lichtbilder sichtbar wurden. Zwischen den Bildern tauchten Geister auf, die sie in mühseliger Kleinarbeit aus den Filmbildern destillierten. Sie begannen, den Film nicht mehr linear zu sehen, sondern in seine Tiefe hinein zu blicken, Diagonalen zu ziehen, Einzelbilder sprechen zu lassen. Als die Künstler hörten, dass die Ausstellung in einem Krematorium stattfindet, entstand die Idee für eine Installation, die mit jenen verschiedenen Ebenen der filmischen Wahrnehmung spielt. Der Film wird auch in Einzelbildaufnahme zwei Stunden am Tag im Arsenal 2 zu sehen sein, bis er zum Ende des Festivals dreimal in ganzer Länge durchgelaufen ist, damit man das „Zwischen-den-Bildern“ wirklich sehen kann. Und wir werden auch im Rahmen einer Podiumsdiskussion über dieses Phänomen sprechen, über Gespenster, die sich in Filme hinein begeben und über sie hinaus erzählen.

Bühne von Daniel Kötter

„Waves vs. Particles“

Der Film Bühne von Daniel Kötter beschäftigt sich auf seine ganz eigene Art und Weise mit Architektur und der Besetzung des Raums...

Zu Beginn sieht man eine riesige Bühne in einem Auditorium, die ganz langsam – zuerst ist die Bewegung gar nicht zu erkennen – gekippt wird. Das muss ein gigantischer Motor sein, denn die Tribüne wird einmal komplett um 180 Grad gedreht. Und zwischendurch gibt es Bilder, in denen, würde man sie für sich sehen, nicht zu erkennen ist, worum es sich handelt. Es ist ein struktureller Film, der für sich genommen ein filmisches Ereignis sein könnte. Aber die Tribüne steht in der Haupthalle des Palastes für Sport und Kultur in Varna, im postkommunistischen Bulgarien. Mit seiner Architektur verändert dieser Raum auch seine soziale Funktion. Je nachdem, was stattfindet – ob Sport oder Kultur – wird der Raum komplett umgestaltet oder eben auf den Kopf gestellt. Das hat natürlich eine sehr starke Symbolkraft.

Grundsätzlich sind die Orte in fast allen Arbeiten extrem wichtig, in ihrer Eigentümlichkeit erzählen sie globale Geschichte. Wir haben die Ausstellung deshalb auch „Waves vs. Particles“ genannt, d.h. es geht um das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen und um die Frage, ob man als Teil des Ganzen noch eine individuelle Existenz hat, bzw. um die These, dass dies eine Frage der Betrachtung ist, im übertragenen Sinne des physikalischen Experiments. In diesem Themenfeld sind alle Arbeiten sehr stark verortet. Aus einer lokal verorteten Situation heraus, wird eine größere Analyse versucht. Wenn man sich alle Arbeiten zusammen anschaut, die Filme und die installativen Arbeiten, so erkennt man eine politische Karte, die Verbindungslinien herstellt und interessante Referenzen zwischen einem Nachdenken über die Welt und konkreten politischen Situationen vor Ort herstellt. Sie beherbegen aber eben auch Geister, die aus solchen Systemen wieder ausbrechen können.

Zeichnen sich neue Wellen, Bewegungen ab oder verbleibt es im Partikularen?

Du beziehst Dich hier auf politische Bewegungen der Vergangenheit und fragst nach politischen oder ästhetischen Zusammenschlüssen. Aus einer offenen Gegenwart heraus denke ich, dass durchaus ein Bedürfnis besteht, sich wieder stärker zu solidarisieren. Natürlich wird rückblickend immer vieles verklärt. Aber das finde ich auch gar nicht schlimm, denn es geht ja nicht immer einfach nur um eine detaillierte historische Rekonstruktion. Mich beschäftigt die Frage: Was interessiert mich an der Vergangenheit und warum? Dann darf ich auch ein bisschen verklären und mir die Dinge herausnehmen, die Relevanz besitzen für die Gegenwart. Dabei muss man natürlich den Blick offen halten für die Fülle und die Facetten dieser Vergangenheit. Das kann und muss den Blick auf die Gegenwart verändern.

Once Every Day von Richard Foreman

Einer Eurer Gäste, Richard Foreman, wuchs in einer Zeit auf, als es noch Bewegungen gab. Ist davon in seinem neuen Film etwas zu spüren?

Richard Foreman war ganz wichtig für die New Yorker Theater- und Filmszene der Spätsechziger und 1970er Jahre. Mit seiner Zeitgenossin Babette Mangolte, die mit Edward Krasinski's Studio auch einen eigenen Film im Programm hat, werden wir auf einem Panel über diese Zeit sprechen. Wir zeigen seinen neuen Film Once Every Day, den er nach einer jahrzehntelangen Pause gemacht hat. Der Film ist sehr aktuell, was er transportiert, ist eine Lebenserfahrung, oder eine Erfahrung der gelebten Wahrnehmung, die aus Bewusstseinsprozessen und Widerständen besteht. Sie zeigen sich in Theaterproben, in denen Anweisungen gegeben werden, in Fragmentarisierungen und Wiederholungen. Darin liegt eine filmische Betrachtungsweise. Ich empfinde es als keinen Zufall, dass Foreman jetzt wieder mit den neuen technischen Möglichkeiten einen Film macht, um seine Theaterarbeit noch einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.

Blinder Fleck von Björn Speidel

Materialität, Inhalt und Referenz

Wir haben über die mediale Eroberung des Raums gesprochen, die ein Ausgreifen der Kunst auf die soziale Wirklichkeit bedeutet. Gleichzeitig widmet sich das Programm Experimenten, die sehr stark selbstreflexiv sind. Widersprechen sich diese beiden Tendenzen oder ergänzen sie sich?

Das sind keine gegensätzlichen Dinge. Strukturelle Arbeiten wie Blinder Fleck von Björn Speidel oder RP31 von Lucy Raven hinterfragen die Bedingungen von Wahrnehmung und das sollten wir eigentlich immer tun, wenn wir uns sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Themen nähern. Beide Filme beziehen sich außerdem auf etwas sehr Konkretes, nämlich auf das Bild selbst. Bei RP31 sind das die farbigen Testbilder, die uns allen vertraut sind, die aber mit dem analogen Filmmaterial verloren gehen. Raven stellt dabei allerdings ihre normierende Funktion heraus, die es auch im digitalen Zeitalter gibt, allerdings versteckter und damit womöglich gefährlicher.

In Blinder Fleck geht es um Familienfotos oder ganz allgemein um Fotoarchive, die nur noch als Fragmente, als Schatten wahrnehmbar sind. Information und Trägermaterial sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Beide Werke stellen die Frage, was wir unter welchen Bedingungen sehen.

Einer Eurer Schwerpunkte ist der brasilianische Künstler Hélio Oiticica. Der gleichnamige Dokumentarfilm über ihn läuft aber im Forum. Wieso?

Forum Expanded ist ja ein Teil des Forums und daraus hervorgegangen. Die Arbeit des 1980 verstorbenen brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica ist ein übergreifendes Thema, das uns in beiden Sektionen beschäftigt. Auf der einen Seite gibt es den Dokumentarfilm und auf der anderen Seite Installationen und unbekanntes Filmmaterial. Oiticicas Kunst ist sehr bekannt aber was die wenigsten gesehen haben, sind seine Super-8-Filme. In den 1970ern in New York stand er der Underground-Szene nahe, die schon häufig bei uns im Blickpunkt stand, ich erinnere an – Mario Montez, Jack Smith, Andy Warhol. Zu jener Zeit hat Oiticica sehr viel im Super-8-Format gedreht und dieses Material ist in den Dokumentarfilm eingeflossen. Wir präsentieren im Forum Expanded eine Auswahl des Materials selbst, sowie Super-8-Filme anderer Künstler, in denen Oiticica zu sehen ist. Dazu gibt es eine Podiumsdiskussion mit Sabeth Buchmann und Max Jorge Hinderer Cruz, die in den nächsten Tagen ein Buch über Oiticica veröffentlichen.

CC4 Nocagions von Hélio Oiticica und Neville D'Almeida

„Quasi-Cinema“

Was ist mit dem Begriff „Quasi-Cinema“ gemeint, den Oiticica geprägt hat?

Er war der Meinung, dass das Fernsehen das Kino ablösen würde, und damit berührte er viele Fragen, die sich auch das Forum Expanded stellt. Das Kino stirbt nicht, es verändert sich nur massiv, tritt aus dem Kinosaal heraus – so dass man einen anderen Kinobegriff entwickeln muss und nicht vom Tod des Kinos sprechen sollte. Eine bestimmte Funktion des Kinos als gesellschaftlicher Ort existiert immer weniger. Aber das Kino kann in anderen Formen weiter leben. Oiticica hat das damals genauso gesehen und die Cosmococa-Installationen entwickelt. Dazu hat er auf Platten- und Katalogcover Kokain-Formationen gelegt und von dieser Aktion Dias gemacht, die er in eine installative Form brachte. Es geht sehr stark um das Verhältnis von Einzelbild und Bewegung in einem gesellschaftlichen Raum, den er eigens dafür entworfen hat. Eines der Werke, CC6, zeigen wir im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart. Sie bleibt nah an den Anweisungen, die Oiticica für die Präsentation hinterlassen hat.

Die Präsentation der CC4-Installation in der Berliner Therme Liquidrom geht allerdings sehr weit über das übliche Präsentationsformat von filmischen Installationen hinaus...

Ja, deshalb ist sie auch nur an einem einzigen Abend zu sehen. In diesem Fall gehen wir recht offen mit den Anweisungen Oiticicas um. Dass man diese Installation vom Wasser aus sieht, ist Teil seiner Idee, aber es sollte eiskaltes Wasser sein. Wir haben nun sehr warmes Salzwasser. Um die Installation wirklich zu erfahren, muss man Badekleidung mitbringen und sich ins Wasser legen. In der Kuppel des Liquidroms sieht man dann die Projektion, unter Wasser hört man John Cage. Im Hamburger Bahnhof erleben wir eine Art Rekonstruktion, während wir im Liquidrom relativ frei mit den Anweisungen des Künstlers umgehen. Das sind zwei sehr verschiedene Zugänge, zwei Versuche mit Geschichte umzugehen, die beide ihre Legitimation besitzen. Im Rahmen der Podiumsdiskussion können diese Fragen vertieft werden.

Forum Expanded versucht, eine Brücke zu bauen zwischen dem Premierenmoment, dem Ereignis, das die Berlinale mit sich bringt – und das ganz wichtig ist, um die Wahrnehmung überhaupt erst einmal in Gang zu bringen – und dem Diskurs darüber. Wir wollen alles, was wir tun, in unserer Arbeit mit der Frage verbinden, warum wir es tun, für wen es interessant ist und wie man es vermittelt. Das ist oft schwer vereinbar, aber im Kontext des Oiticica-Projekts ist diese Synthese gegeben.

Mammas von Isabella Rossellini

Wer diesen Spagat zwischen Event und kritischer Analyse wunderbar verkörpert, ist Isabella Rossellini. Deshalb sind wir sehr froh, dass sie mit ihrer 20-minütigen Kurzfilmserie Mammas wieder im Forum Expanded vertreten ist. Die Serie ist eine sehr scharfe, aber extrem lustige Auseinandersetzung mit dem Mythos des Mutterinstinkts. Isabella Rossellini spielt selbst alle Rollen. Für ihr Geschick, Ereignis und Kritik miteinander zu verbinden, könnte man sie fast zur Symbolfigur der Sektion ernennen.

Eine letzte Frage noch: Pipe Dreams beschäftigt sich mit Syrien. Gibt es tatsächlich heute Bilder aus Syrien, die nicht von Krieg und Zerstörung berichten?

Der Film spielt im Weltall. Es gab einen Kosmonauten, der an einer russischen Raumfahrtmission teilgenommen hat. Vom Orbit aus telefonierte er mit dem damaligen Präsidenten Hafez al-Assad. Dieses Gespräch ist unglaublich. Worüber spricht man aus dem Weltall mit einem Präsidenten? Es ist völlig klar, dass vorher sehr genau festgelegt wurde, welche Fragen gestellt und welche Antworten gegeben werden. Was dabei herauskommt, ist natürlich pure Propaganda. Und sehr faszinierend. Dazu kommt Material aus der jüngsten Vergangenheit des Landes, in der man sieht, wie eine Assad-Statue abmontiert wird, um sie vor Demonstranten zu schützen. Kritik aus dem Weltraum.