2013 | Berlinale Shorts
Filmische Korrespondenzen
Maike Mia Höhne beschreibt das Programm der Berlinale Shorts 2013 als sternenförmig. Die Filme ergänzen sich gegenseitig, treten miteinander in Interaktion und weisen im Zusammenspiel weit über die zunächst fassbaren thematischen Dimensionen hinaus. Im Interview gibt die Kuratorin einen Überblick über das große Ganze.
Letztes Jahr hast Du die Narration und die Frage, wie Erzählen heute noch funktionieren kann, in den Vordergrund gestellt. Dein Leitmotiv hieß „Say Goodbye to the Story“. Kannst Du für dieses Jahr wieder so ein übergeordnetes Thema benennen?
Cylixe, die Regisseurin von Una Ciudad En Una Ciudad (Eine Stadt in einer Stadt) hat als Motiv ihres Films die Heterotopie benannt, einen Ort des Anderen also, der gleichzeitig auch ein Spiegel für gesellschaftliche Verhältnisse ist, der im Kleinen für das Größere steht bzw. es reflektiert oder kritisiert. Ich finde, das trifft es sehr gut. Die Frage nach Struktur und Organisation in der heutigen Gesellschaft, weniger das Singuläre oder der Weg des Einzelnen, steht im Mittelpunkt des Programms.
Una Ciudad En Una Ciudad ist eine Reflektion über das Zusammenleben im höchsten besetzten Haus der Welt in Caracas. Auf 20 Stockwerken, die einst als Finanz-Tower konzipiert wurden, leben und organisieren sich die Bewohner. Wie funktioniert Besitz, wenn der Besitz niemandem gehört? Der Film findet einen sehr innovativen Weg, mit diesen Fragen umzugehen, ganz ohne die Talking Heads klassischer Dokumentationsformate.
Mario Rizzi hat sieben Wochen in einem jordanischen Camp gelebt, in dem über 10.000 syrische Flüchtlinge untergekommen sind. In 30 unglaublichen Minuten erzählt er in Al Intithar (Warten) vom Alltag der Flüchtlinge und eben vom Warten. Mario Rizzi, der schon 2008 mit seinem Portraitfilm impermanent (unbeständig) im Programm der Berlinale Shorts vertreten war, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Nahen Osten, kennt sich gut aus und hat sich viel Zeit genommen. Das spürt man in Al Intithar in den Gesprächen, die er mit den Frauen im Camp führt. Er ist sehr nah dran, begleitet sie beim Beten und sogar bei einer Entbindung durch Kaiserschnitt.
Die große Klammer bildet letztlich Khutwa Khutwa (Step by Step) von Ossama Mohammed aus Syrien. Es ist sein Abschlussfilm an der staatlichen Filmhochschule in Moskau von 1978, den mir der libanesische Künstler Akram Zaatari (Tomorrow Everything Will Be Alright, Berlinale Shorts 2011) zugesteckt hat. Ich finde, Khutwa Khutwa gehört eindeutig in den Kanon des kurzen Films. Er untersucht, was passiert, wenn Armut den Menschen nicht mehr viele Möglichkeiten offen lässt. Einzig Religion und Militär scheinen als strukturgebende Systeme übrig zu bleiben. Dabei geht es keineswegs um eine Zwangsläufigkeit der Geschehnisse. Der Film regt vielmehr zum Nachdenken an und wirft weiterführende Fragen auf, die sich auf viele andere Länder übertragen lassen: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie können Regierungsformen aussehen? Was ist Freiheit? Was ist Religion?
Intime Blicke
In SANCTITY (R: Ahd) steht eine Frau im Mittelpunkt, die durch den Tod ihres Mannes aus ihrem Alltag herausgerissen wird, an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stößt, sich gezwungen oder ermutigt sieht, gesellschaftliche Tabus und Regeln zu brechen, sich ihren Platz zu erkämpfen...
Der Eingangssatz des Films sagt im Grunde alles. Der Bruder des verstorbenen Mannes klopft an ihre Tür und verlangt nach Geld, das ihr Mann ihm noch schuldet. Als sie antwortet, sie wisse davon gar nichts, erwidert er: „Warum sollte er Dir das erzählen? Du bist doch eine Frau.“ SANCTITY ist in seiner filmischen Struktur sehr einfach gehalten und transportiert in seiner Ruhe doch so viel. In vielen Filmen spürt man die Liebe und Hingabe, mit der die Filmemacher an ihren Projekten gearbeitet haben. Dies trifft vor allem auch auf die Dokumentationen zu, die dieses Jahr geradezu mit einer formalen Strenge aufwarten.
Ein gutes Beispiel ist der türkisch-deutsche Dokumentarfilm Aşura von Ergun Köken, dem es gelingt, die zeremoniellen Abläufe des höchsten schiitischen Trauertages zu dokumentieren. Er dringt dabei bis ins Allerheiligste vor und filmt die Männer beim Weinen auf Kommando.
Ja kada sam bila klinac, bila sam klinka (Als ich ein Junge war, war ich ein Mädchen) ist ein beindruckender Dokumentarfilm aus Serbien. Endlich keine Klischees über Sexarbeiter! Ivana Todorovic portraitiert ihren transsexuellen Freund, was ihr wiederum einen sehr besonderen, unprätentiösen Zugang gewährt. Ein sehr intimer Blick, der genau hinschaut. Das sind die Filme, die man braucht, um Menschen nahe zu kommen, die ganz fern von einem sind.
Offene Charaktere
In dem koreanischen Beitrag Love Games wird eine Liebesgeschichte mit sehr reduzierten Mitteln erzählt. Worin liegt für Dich die Stärke dieser Reduktion?
Joung Yumi schafft es in ihren Animationen, mit ganz feinen Zeichnungen tief ins Detail zu gehen, weil sie situative Konstellationen nie in Klischees auflöst. Wie in diesem Fall, wenn das Paar gemeinsam versucht, einen Keks zu essen, der an einer Schnur hängt. Kombiniert mit zwei weiteren Bildern versteht jeder: Das Paar ist verliebt. Doch Joung Yumi hört an dieser Stelle nicht auf, sondern untersucht die Situation genau, legt die Charaktere offen. Das sehe ich selten in Animationen.
Über den Film Geliebt (Berlinale Shorts 2010) hast Du damals gesagt, dass er Dich im Umgang mit einem potentiell reißerischen Thema, der (auch sexuellen) Beziehung von Menschen zu Hunden, durch seine Ruhe, Konzentration und die klaren Bildkompositionen beeindruckt hat. In Traumfrau von Oliver Schwartz geht es um einen Mann, der eine Liebesbeziehung zu einer Gummipuppe führt. Das Gesicht des Protagonisten bleibt verborgen. Schürt das nicht einen voyeuristischen Blick?
Ich verstehe das ganz im Gegenteil eindeutig als Schutz. Mit einem unglaublichen Timing beantwortet der Film jede Frage, die sich einem stellt, genau in dem Moment, in dem sie aufkommt. Der Protagonist selbst ist sich sehr im Klaren über das, was er da tut. Er ist sehr reflektiert. Eigentlich möchte er zurück in den Schoß der Familie. Jan Soldat zeigt in Geliebt seine Protagonisten von Anfang an sehr offen, allerdings sind die auch zu zweit. Im Fall von Traumfrau wissen wir noch nicht einmal, ob das seine echte Wohnung ist. Situationen werden an stereotypen Orten Bett, Esstisch, Sofa installiert. Indem Oliver Schwarz seinen Protagonisten schützt, gibt er dem Zuschauer die Möglichkeit, seiner Figur nahe zu kommen.
Ta av mig (Undress me) von Victor Lindgren bildet eigentlich in der inszenierten Form ein Äquivalent zu Traumfrau. Auch hier werden alle Fragen, die einem zum Thema Geschlechtsumwandlung auf den Lippen liegen, aufgeworfen und verhandelt.
Auch Kwaku Ananse von Akosua Adoma Owusu korrespondiert mit Traumfrau, allerdings auf eine ganz andere Art. Eine junge Frau reist zur Beerdigung ihres Vaters nach Ghana, wo sie auf dessen Familie und seine zweite Frau trifft. Sie überwindet ihre Scheu, verlässt ihren engsten Kreis und geht den nächsten Schritt. Den Schritt, den der Mann in Traumfrau nicht schafft.
Assoziative Brücken
Für mich ist das Programm dieses Jahr ein Stern mit vielen Spitzen, Ergänzungen und Interaktionen zwischen den Filmen. Man kann die Filme auf die unterschiedlichsten Arten anordnen. Am Ende wird es zwischen den Arbeiten immer ein Dialog geben können.
Eine Spitze des Sterns ist sicherlich A coup de couteau denté (Stab) von Clément Decaudin. Eine großartige Studie über moderne Musik. Die Musiker verlassen die große Bühne, setzen sich direkt dem Publikum aus und treten damit in ein neues Stadium. Außerdem beobachtet der Film wunderbar die wortlose Kommunikation zwischen den Musikern.
Der zweite laute Film im Programm ist Between Regularity and Irregularity (Zwischen Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit) von Masahiro Tsutani. Den muss man wirklich auf der großen Leinwand sehen und über das Soundsystem eines Kinos hören. Aber auch dramaturgisch ist er sehr gut. Wir zeigen dieses Jahr noch zwei weitere japanische Filme: UZUSHIO -Seto Current- von Naoto Kawamoto, eine Forsetzung und Erweiterung seiner Arbeit aus dem letzten Jahr, und The Silent Passenger von Hirofumi Nakamoto, der seltene Einsiedlerkrebse aus ihrem natürlichen Lebensraum entfernt und in einem Hotelzimmer ausgesetzt hat. Dort krabbeln sie unter der Bettdecke hervor und erkunden jeden Winkel. Die Künstlerin Rachel Mayeri hat wiederum einen Film explizit für die Schimpansen im Zoo gedreht und konfrontiert in Primate Cinema: Apes as Family die eingesperrten Tiere mit dem Ergebnis. Auch hier steht die Frage nach der Gestaltung von Raum im Mittelpunkt.
Wie programmierst Du bei all den genannten Verweisen und Querverbindungen die einzelnen Blöcke für das Publikum?
Das Kernstück werden die Spielfilme bilden wie SANCTITY und Kwaku Ananse, aber auch La Fugue (Die Ausreißerin) von Jean-Bernard Marlin, der sehr bewusst mit der Bildsprache arbeitet und seine Figuren inszeniert.
Um diese starken Spielfilme herum werde ich in der imaginären Sternform fünf Programme bauen, so dass man ein Gefühl für das Ganze bekommt. In diesem Jahr richten wir zum ersten Mal auch einen Blog zum Programm ein. Mitglieder der Auswahlkommission werden zu den einzelnen Filmen schreiben oder assoziative Bilder posten. Außerdem werde ich gezielt Leute einladen sich zu beteiligen, die Filme einzuordnen und zueinander in Beziehung zu setzen. Die Filmjournalistin Anke Leweke wird zum Beispiel etwas über Khutwa Khutwa und der Galerist Olaf Stüber etwas zu FORST von Ulu Braun schreiben, um den Film in einen anderen Kontext zu setzen. Ulu Braun kommt eigentlich aus der Sprayer-Szene und arbeitet an vertikalen Triptychons. Für mich erfindet er mit FORST einen neues Genre: die dreidimensionale Videocollage. Er montiert Bilder zum deutschen Mythos Wald, die durch nationalsozialistische Ideologisierung einen bitteren Beigeschmack haben, zu einer Kollage und öffnet durch seine verspielte Herangehensweise einen Gedankenraum. Ein bewegtes und bewegendes Gemälde, das in diesem Fall nicht an der Wand hängt, sondern auf der großen Leinwand wirken wird.