2013 | Forum
Jenseits des Rezeptfilms
Das Forum wirft auch in diesem Jahr einen umfassenden und facettenreichen Blick auf das weltweite Filmschaffen. Im Interview spricht Sektionsleiter Christoph Terhechte über lokale Blicke auf globale Phänomene, die Popularisierung experimenteller Erzählformen und die Diskussionskultur eines russischen Arbeiterclubs.
Wong Kar Wai ist 2013 der Präsident der Internationalen Jury der Berlinale. Freut man sich, wenn eine Entdeckung der eigenen Sektion im Mittelpunkt des Festivals steht?
Ich weiß nicht, ob er wirklich eine Entdeckung des Forums war, aber tatsächlich waren frühe Filme von ihm in der Sektion zu sehen. Fallen Angels (1996 im Forum) war ein früher Genreversuch. Ein Gangsterfilm, in dem er versucht hat, seine spezifische Art des Erzählens in einem klassischen Hongkong-Genre unterzubringen. Das hat er mit Ashes of Time wieder gemacht und jetzt eben im Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals The Grandmaster.
Der Sinn der Sache ist ja, dass in einer Sektion wie dem Forum Erzählformen ausprobiert werden. Warum sollten die sich nicht irgendwann etablieren und ein größeres Publikum erreichen? Etwa experimentelle Erzählweisen, die bestimmte dominante Rezeptionsgewohnheiten herausfordern, wie z.B. das Aufbrechen der Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. So etwas gibt es natürlich schon lange Zeit, aber im Forum besitzt es eine gewisse Selbstverständlichkeit. Die Sektion will zeigen, dass es für jede Art Film und nicht nur für bestimmte Rezeptfilme ein Publikum gibt – und das kann man natürlich immer erweitern, bis es so stark ist, dass es ins Zentrum des Festivals, den Wettbewerb vordringt.
Ist der portugiesische Beitrag Terra de ninguém (No Man's Land) von Salomé Lamas, in dem ein Söldner Auskunft über seine Gräueltaten gibt, ein Beispiel für eine solche Verwischung der Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm?
Es ist ein Dokumentarfilm, aber gleichzeitig ist es ein Stück Fiktion. Zumindest fragt sich die Regisseurin, ob es Fiktion ist, weil sie bis zum Schluss nicht sicher sein kann, ob der Mann, der da seine Geschichte erzählt, die Wahrheit sagt. Klar ist, dass der Hintergrund stimmt, dass es diese Aktionen, die er erwähnt, gegeben hat. Aber im Unklaren bleibt, wie weit er daran wirklich selbst beteiligt war und inwieweit seine Geschichte verfälscht ist. Das gilt natürlich für jeden Dokumentarfilm. Man kann nie wissen, ob die Leute die Wahrheit erzählen und es gibt immer verschiedene Versionen einer Geschichte. Terra de ninguém thematisiert explizit die Möglichkeit, dass es sich um Lügen oder einfach nur Mythomanie handeln könnte.
Die unscharfen Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm sind in ganz vielen Filmen in diesem Jahr zu sehen. Es sind hybride Formen, an die sich ein größeres Publikum gerade gewöhnt. Der griechische Dokumentarfilm Sto lyko (To the Wolf) ist teilweise inszeniert. In welchem Grade, weiß man nicht, denn die Leute spielen sich selbst. La plaga (The Plague) benutzt eine Spielfilmdramaturgie, um seine fünf Protagonisten im heutigen Katalonien zu verfolgen. A batalha de Tabatô (The Battle of Tabatô) ist ein Spielfilm, aber es gibt sehr starke dokumentarische Elemente. Der Film spielt im afrikanischen Guinea-Bissau und versucht, die Stammestraditionen mit der Kolonialgeschichte zu kontrastieren.
Akteure im doppelten Sinne
In Matar extraños (Killing Strangers) von Jacob Secher Schulsinger und Nicolás Pereda steht der Doppelsinn des Wortes „Akteur“ im Zentrum – sowohl als Actor/Schauspieler als auch als historischer Akteur. Die Frage ist: Wie führt ein Schauspieler eigentlich eine historische Rolle auf? Der Film zeigt das Casting für einen fiktiven Film über die mexikanische Revolution. Ist das jetzt selbst eine dokumentarische oder eine fiktionale Arbeit? Ich glaube, es ist ein größeres Bewusstsein dafür entstanden, dass es keine klare Trennung gibt und dass man in dem Moment, in dem eine Kamera präsent ist, immer von einer Form der Inszenierung sprechen muss.
Das klingt wie eine Brechtsche Tradition, in der der gelebte Alltag verfremdet wird, um ihn zu distanzieren und dadurch begreifbar zu machen. Die 727 Tage ohne Karamo von Anja Salomonowitz fällt mir in diesem Kontext ein...
Sie stilisiert extrem. Die Farbe Gelb ist dominant in den Dekors und in den Kostümen. Es ist ein Dokumentarfilm in dem Sinne, dass es tatsächliche Fälle binationaler Paare sind, die porträtiert werden. Aber die Regisseurin hat sie eben in Kostüme gesteckt und in Dekors agieren lassen, um diesen Authentizitätsfaktor da herauszunehmen, die emotionale Überwältigung. Durch die Methoden des Spielfilms versucht sie zu abstrahieren und zu verallgemeinern. Das hat natürlich etwas Brechtsches. Interessanterweise gibt es einen Film, den russischen Za Marksa… (For Marx…) von Svetlana Baskova, in dem es um Arbeiter geht, die in einer Fabrik gegen ihre Führung rebellieren, welche mit frühkapitalistischen Methoden im postsozialistischen Russland vorgeht. Sie gründen ihre eigene Gewerkschaft und haben unter anderem einen Arbeiterfilmclub, in dem sie über Brecht vs. Hollywood diskutieren. Das ist ganz herrlich.
Die Euro-Krise ist im Moment in aller Munde. In welcher Weise erzählen die drei griechischen Filme in Eurem Programm von ihrem Land?
Ich finde das Wort „Krise“ furchtbar, weil es ein verharmlosendes Wort ist, das glauben lässt, es gebe Mechanismen, die notwendigerweise immer wiederkehren und gegen die man nicht viel tun kann. Das Forum-Programm beschäftigt sich ganz stark mit den großen Umwälzungen, die weltweit eine Folge des Zusammenbruchs der kommunistischen Welt sind. Das hält uns jetzt schon seit den späten 80er Jahren in Atem – seit erkannt wurde, dass die Hoffnung auf den guten Sozialismus vom realsozialistischen, kommunistischen System nicht erfüllt worden ist. Gleichzeitig hat der Kapitalismus einen Auftrieb erfahren, der zu den schlimmsten Exzessen geführt hat und letztlich zur Verarmung, die man heute in Griechenland, Spanien und Portugal – drei der Länder, die immer als die „Krisenländer“ benannt werden – spüren kann. Es gab eine ungeheure Bereicherung auf Kosten großer Schichten. Und diese haben nicht nur unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der ganzen Spekulationen und zerplatzten Blasen unmittelbar zu leiden, sondern stehen auch vor einem Orientierungsproblem. Denn lange Zeit wurde uns eingetrichtert, dass die soziale Marktwirtschaft am Ende sei und dass mit Thatcheristischen Methoden weitergemacht werden müsse. Das hat alles verwüstet und heute gibt es keine Bilder und Ideale, die zeigen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte. Von diesen Umwälzungen handelt das Programm, vom Versuch zu begreifen, was da eigentlich passiert ist – sich in seiner Historie zu begreifen.
Bebilderung einer Farce
In Za Marksa… geht es um die Bebilderung eines Marxschen Zitates, der in Erwiderung zu Hegels Aussage, dass Geschichte sich immer wiederhole, anmerkte, Hegel habe aber vergessen zu sagen, einmal als Tragödie und einmal als Farce. Wir befinden uns heute in der Farce und dieser Film illustriert das. Es ist unglaublich schwierig, sich sozial, politisch, geopolitisch zu verorten. Von der Position des Einzelnen in der Gesellschaft handeln ganz viele Filme, aber eben nicht von irgendwelchen behaupteten Krisen. Das Wort Krise tut ja letztlich so, als sei alles in Ordnung mit dem kapitalistischen System und man müsse nur den staatlichen Einfluss ein wenig weiter zurückdrängen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. In Wirklichkeit hat es den gigantischen Zusammenbruch einer Alternatividee gegeben, die sich als fehlerhaft, teilweise sogar kriminell erwiesen hat. Dadurch hat das westlich-kapitalistische System jede Art von Hemmung verloren.
Gibt es neue Ideen am Horizont? In Za Marksa… organisieren sich die Arbeiter ja als Gewerkschaft, um der Ausbeutung etwas entgegenzusetzen...
Ja, aber das ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich glaube auch nicht, dass man mit alten Mitteln dagegen ankommt. Die Filme besinnen sich oft auf Menschlichkeit und Lokalität. Es gibt viele Beispiele, in denen Figuren zurückkehren in die Heimat und zu ergründen versuchen, wer sie sind und was menschliches Zusammenleben ausmacht. Im taiwanesischen Beitrag Tian mi mi (Together) von Hsu Chao-jen kommt eine junge Frau zurück in die Familie und in die alte Nachbarschaftsstruktur. Beides hat sich völlig verändert. In Elelwani von Ntshavheni Wa Luruli wird Tradition zuerst als Bedrohung empfunden. Obwohl eine Frau studiert hat, soll sie zwangsverheiratet werden. Aber langsam geht sie auf in dieser Tradition, die ihr einen ganz neuen Horizont eröffnet. Mehrere Filme handeln von Rückbesinnung. Sie geben keine Antworten, aber sie versuchen zu beschreiben, wie man so ganz allgemein am Schwimmen ist. Andrew Bujalski geht mit Computer Chess zurück in die 80er Jahre und schaut sich die Atmosphäre seiner Jugendzeit an, den Beginn der Computernerd-Bewegung. In die 70er Jahre verschlägt es Annemarie Jacir. In Lamma shoftak (When I Saw You) erzählt sie die Geschichte eines Jungen, der von zu Hause ausreißt, weil sein Vater verschwunden ist und er mit seiner Mutter nicht zurechtkommt. Er geht in ein PLO-Camp, in dem Kämpfer ausgebildet werden.
Das ist ein Trend in zeitgenössischen Filmen. Keiner von ihnen hat eine Antwort. Man versucht sich wieder zu verorten und aus diesem als fatal erkannten Wettlauf um den Wohlstand auszubrechen. Man sucht nach Werten, Bedeutungen, nach Identitäten.
Ist Fynbos von Harry Patramanis, in dem eine Frau in die südafrikanischen Townships driftet, ein gutes Beispiel für diese Art von Bewegungen?
Am Anfang sieht man sie, wie sie ihre Identität wegwirft, indem sie ihre Handtasche in eine Mülltonne leert, inklusive ihres Passes. Dann behauptet sie, beraubt worden zu sein. In der Filmhandlung hat das damit zu tun, dass sie psychische Probleme hat. Aber auch damit, dass das Geschäft ihres Mannes, eines Immobilienhändlers, ein völlig aufgeblasenes ist. Er versucht es mit Spekulationen, versucht eine Villa zu verkaufen, die sich zwischen Himmel und Erde, unterhalb der Berge aber oberhalb eines Townships befindet. Eine wunderschöne Glasarchitektur in der schönsten Landschaft aber natürlich total irreal, weil sie die krassen Widersprüche zwischen Arm und Reich in Südafrika schon geographisch-architektonisch verkörpert. Der Mann will nur, dass die Frau den Mund hält und mitspielt, damit er den Deal durchziehen kann. Sie verweigert sich dem durch eine psychische Erkrankung und durch die Flucht aus ihrer Identität.
Stimmungswandel im japanischen Kino
Fukushima ist erneut ein Thema im Forum. Inwieweit hat die Katastrophe den japanischen Film verändert?
Senzo ni naru (Roots) von Kaoru Ikeya handelt von einem alten Holzfäller, der nicht so richtig wahrhaben will, was passiert ist. Sein Haus in traditioneller japanischer Zimmermannskunst ist vom Tsunami zerstört worden und er will es wieder aufbauen. Das ganze Dorf zieht weg, auch seine Frau, alle verlassen ihn. Aber er bleibt stur und hält allem stand. Ein Film über einen Leugner, der auf seiner Tradition beharrt.
Und mit Sakura namiki no mankai no shita ni (Cold Bloom) hat Atsushi Funahashi (im Forum 2012: Nuclear Nation) jetzt den Film gedreht, der damals vom Tsunami verhindert wurde. Er spielt an der Ostküste Japans. Der Regisseur erzählt seine Geschichte natürlich leicht verändert, so wie es in vielen aktuellen japanischen Filmen geschieht. Alle versuchen auch zu reflektieren, was passiert ist. Nicht nur dadurch, dass sie Teile der Verheerungen zeigen. Die ganze Stimmung ist eine andere. Man spürt größeren Zweifel an der Identität, die die Figuren mit sich tragen, das „Japanisch-Sein“ ist nicht mehr so ungebrochen. Wie viel davon in Sakura namiki no mankai no shita ni schon vorher angelegt war und wie viel durch die Ereignisse beeinflusst ist, muss man im Gespräch mit dem Regisseur herausfinden. Er zeigt eine unmögliche Liebesgeschichte, sehr melodramatisch, in gewisser Weise auch romantisch. Aber gleichzeitig traurig, weil sehr Vieles spürbar im Niedergang ist – und das kann sicherlich auch mit der Katastrophe zu tun haben.
Im Forum Expanded lautet der Titel der Gruppenausstellung dieses Jahr Waves vs. Particles. Was hast Du für einen Eindruck vom zeitgenössischen Kino. Zeichnen sich neue Wellen ab oder überwiegt die Partikularisierung in Einzelwerke?
Ich glaube nicht, dass man von großen Bewegungen oder Wellen sprechen kann, dazu ist die Welt viel zu transparent geworden. Die frühere Opazität hat solche Wellenbewegungen überhaupt erst ermöglicht. Man wusste sehr viel weniger von dem, was woanders passierte, und man hat sich deshalb viel stärker mit einer Sache identifiziert. Heute sind die Einflüsse so mannigfaltig, dass man keine Bewegungen im Kino mehr haben wird, außer bestimmte, politisch-sozial bedingte Brüche von nationalen Kinematographien.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist Georgien. Nach der Unabhängigkeit und den Bürgerkriegen sind dort lange Zeit kaum Filme gemacht worden, obwohl Georgien in den 60er, 70er und 80er Jahren eine der interessantesten Kinematographien der sowjetischen Einflusssphäre hatte. Jetzt gibt es da eine junge Generation von inzwischen Über-30-, -35-Jährigen, die endlich wieder in der Lage sind, Spielfilme zu drehen. Grzeli nateli dgeebi (In Bloom) von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß ist ein Beispiel dafür. Zum einen nehmen sie georgische Erzähltraditionen auf – man erkennt stilistische Mittel wieder, die Filmemacher wie Otar Iosseliani und Abuladse verwendet haben. Ihr Blick ist also durchaus typisch georgisch. Gleichzeitig ist der Film ein Versuch, die verlorene Zeit aufzuarbeiten, diese zwanzig Jahre, in denen diese jungen Filmemacher groß geworden sind.
Werden globale Phänomene wie der Kapitalismus auf lokaler Ebene verschieden wahrgenommen?
Sicher. Das hängt aber auch von den Regisseuren ab. Natürlich ist der argentinische Blick anders als der kanadische oder der koreanische. Man ist auf unterschiedliche Weise eingebunden ins System und hat verschiedene Ausblicke auf die Welt. Es gibt lokaltypische Erzählweisen, auch wenn sie extrem schwierig zu beschreiben sind – und wenn überhaupt, dann nur an Einzelwerken. Viola von Matías Piñeiro zum Beispiel verfolgt eine sehr spielerische, argentinische Erzähltradition, in der die Figuren im Film Rollen spielen und den Zuschauer im Unklaren lassen, ob sie gerade ihre Rolle im Film oder ihre Rolle in der Rolle verkörpern. Das sind so Traditionen, die sich von Film zu Film beschreiben lassen – im deutschen Film ist das die Berliner Schule als eine zusammengehörige stilistische Einheit. Es hat uns nicht einmal gewundert, dass Halbschatten von Nicolas Wackerbarth, der sich sicherlich der Berliner Schule verbunden fühlt, in Südfrankreich spielt. Das scheint ein Anziehungspunkt für die Berliner Schule zu sein. Es gibt bestimmte regionale, nationale Besonderheiten, aber vieles entzieht sich der verbalen Beschreibung.