2014 | Forum Expanded
Das Denken der Bilder
„What do we know when we know where something is?” lautet die zentrale Frage des Forum Expanded in diesem Jahr. Im Interview spricht die Sektionsleiterin Stefanie Schulte Strathaus über das Verhältnis von Dokument und Fiktion, den Ort der Bilder und die Schwierigkeiten der filmischen Geschichtsschreibung.
Die Berlinale setzt 2014 einen Schwerpunkt auf dokumentarische Formate. Inwieweit ist es heute noch sinnvoll, kategorial zwischen Fiktion und Dokument zu unterscheiden?
Es gibt heute ein Verständnis von Kino, das Fiktionalisierung und dokumentarische Praxis nicht mehr als Gegensatz sieht, sondern in der Realität das inszenierte hervorhebt bzw. Inszenierung als Abbild von Realität begreift. Trotzdem ist es wichtig, weiterhin vom Dokumentarischen zu sprechen als Ausdruck eines Nachdenkens über das Verhältnis des Kinos zur Realität. Kino machen ist der Versuch, reale Erfahrung in eine ästhetische Form zu übersetzen. Das ist etwas Prozesshaftes und insofern niemals deckungsgleich mit der Erfahrung selbst. Je stärker diese Differenz ausgestellt wird, desto mehr wirkt es vielleicht wie ein fiktionaler Film, aber desto dokumentarischer wird es, weil die Medialität sichtbar wird. Das Forum hat nie eine klare Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm gezogen, dennoch bin ich dafür, dass die dokumentarische Praxis gestärkt wird, da das Kino als ästhetische Erfahrung in vielerlei Hinsicht noch immer auf den Spielfilm reduziert wird.
Haben sich im Hinblick auf durch die Vermischung von Dokument und Fiktion die Strategien der Filme verändert oder unser Blick auf sie?
Beides. Aber das Nachdenken über den Dokumentarfilm hat eine lange Geschichte, in der Praxis, aber auch im Schreiben über Film. Das Publikum ist heute vielleicht erfahrener und dadurch offener, das heißt die Filmemacher sind freier im Umgang mit performativen Strategien, Inszenierungsebenen, filmischen und ästhetischen Konzepten - ohne Angst haben zu müssen, dass der Film als Dokumentarfilm nicht mehr erkannt wird. Wir wissen inzwischen alle, dass Dokumentarfilm nicht einfach darin besteht, die Kamera auf irgendetwas zu richten. Dieser Vorgang ist vermittelnd und bringt Verantwortung, aber auch eine große Gestaltungsvielfalt mit sich.
Kannst Du das anhand des Filmes Everything That Rises Must Converge von Omer Fast erläutern?
Durch die Verwendung des Split-Screen werden verschiedene Räume gleichzeitig auf einer Fläche sichtbar gemacht, um zu zeigen, dass es niemals nur den einen Blick gibt, dass es immer Parallelwelten gibt, die unabhängig davon, ob sie dokumentarische oder fiktionalisierende Verfahren anwenden, nicht voneinander zu trennen sind. Komplexer wird das Verhältnis in Dani Gals Wie aus der Ferne, in dem der Nazi-Jäger Simon Wiesenthal auf den Hitler-Architekten Albert Speer trifft. Die beiden sind sich tatsächlich begegnet aber der Zugang zu dem, was zwischen ihnen passiert ist, ist begrenzt. Dani Gal hat das Treffen in eine Filmkulisse versetzt, also fiktionalisiert, denn das Ereignis ist nur so weit darstellbar, wie wir es uns vorstellen können.
Von solchen Beispielen haben wir einige. Inferno von Yael Bartana transformiert den derzeit tatsächlich in Umsetzung befindlichen Nachbau des Salomon-Tempels in Brasilien und dessen Zerstörung in einen Hollywood-Actionfilm, das sie Pre-enactment nennt. Ein weiteres Beispiel ist 23rd August 2008 von Laura Mulvey. Seit den 1970er Jahren versucht sie, Filmtheorie nicht nur zu schreiben, sondern auch filmisch umzusetzen – das heißt Theorie bildlich zu erfassen. Jetzt hat sie mit Mark Lewis einen Film über den in London lebenden Iraker Faysal Abdullah gemacht, der die Geschichte seines Bruders erzählt, eines Intellektuellen im Irak. Er ging wie viele in den 1980ern ins Exil. Als er später zurückzukehren will, wird er umgebracht. 23rd August 2008 stellt die Frage, wie die Erfahrung einer Staatsgewalt, die vertreibt und tötet, auf die Ebene der filmischen Repräsentation geholt werden kann und wählt die Form des Erzählens in die Kamera.
Die Grenzen zwischen Inszenierung und Dokumentarfilm sind absolut fließend, in der Art und Weise, wie das Performative im Dokumentarfilm als Gestaltungselement verwendet wird, ist es eine Erweiterung der dokumentarischen Praxis.
Die Renaissance des mittellangen Formates
Das mittellange Format erlebt im Moment eine Renaissance, wie Ihr in Eurer Pressemitteilung schreibt. Warum?
Das ist tatsächlich unser Eindruck. Die Länge zwischen 30 und 60 Minuten ist nicht kinotauglich und daher oft chancenlos. Während der diesjährigen Sichtungen haben wir den Eindruck gewonnen, dass in diesem Format zur Zeit besonders viel experimentiert wird. Jenseits vorgegebener Längen entsteht eine Freiheit, in der sich Film und Kunst fast entspannt begegnen. Für die Filme, die wir ausgewählt haben, scheint es genau die richtige Länge zur Umsetzung ihres politischen und ästhetischen Projekts zu sein. Das sagt vielleicht auch etwas über die heutige Zeit aus: Gegen die Schnellebigkeit der Medien, aber nicht auf die Längenvorgaben einer einzigen kulturellen Praxis - der des Kinos - reduzierbar. Also haben wir entschieden, kurze Programmschienen anzubieten und die Filme wie Langfilme zu behandeln, was Zeit lässt für noch intensivere und längere Gespräche nach den Vorführungen: der Film mag jetzt nur 30 Minuten lang sein, aber er ist ein in sich geschlossenes Werk, dass es lohnt, alleine gesehen und diskutiert zu werden. Das ist ein Experiment, wir hoffen, dass es funktioniert, häufig muss man ja solche Dinge öfter machen, bis sie sich etablieren. Mit den Ausstellungen haben wir auch ein paar Jahre gebraucht.
Der Ort des Films
Die Gruppenausstellung findet dieses Jahr im Kirchenraum des ehemaligen Gemeindezentrums ST. AGNES statt. Welche Herausforderung stellt der Raum dar?
Eine Kirche ist eine Herausforderung, weil sie eine bestimmte Besetzung und eine spezifische Architektur mitbringt. Die Akustik ist eine sehr spezielle und wir haben es mit einem großen Raum zu tun, nicht mit vielen kleinen wie im letzten Jahr im ehemaligen Krematorium Wedding. Wir haben die Arbeiten nicht danach ausgewählt, ob sie thematisch dorthin passen, wir haben eher geschaut, wie sie in diesem Raum wirken und miteinander funktionieren. Was die Arbeiten verbindet, ist jedoch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Lokalisierbarkeit von Erfahrungen, der Titel der Ausstellung ist in diesem Jahr „What do we know when we know where something is?“. Diese Frage stellt sich nicht nur in Bezug auf die Arbeiten, sondern auch auf den Ort der Präsentation.
Der Ort des Kinos ist Euer Schwerpunkt 2014. Warum stellt sich diese Frage gerade jetzt?
Einerseits ist das eine sehr individuelle Frage aus der Perspektive des Forum Expanded. Wir waren an so vielen Orten in der Stadt, in Galerien, Museen, an öffentlichen Orten, im Liquidrom. Überall haben wir erfahren, wie die innere Logik eines Ortes funktioniert, aber auch wie es von Außen wahrgenommen wurde, wenn wir unser Programm dort präsentierten. Das spiegelt sich in den Diskussionen über das Verhältnis von Kunst und Kino – an deren Rändern das Forum Expanded ja verortet ist -, die sich immer an Raumkategorien, also an der Frage des Dispositivs festmachen. Wo kommt etwas her und wo wird es präsentiert? Kommt es aus der Film- oder der Kunstwelt? Ist es im Ausstellungsraum oder im Kino zu sehen? Die Dispositivfrage spielt eine große Rolle in der Definition des Kinos. Gleichzeitig ist die Frage nach der nationalstaatlichen und regionalen Zuordnung von Filmen angesichts der vielen Koproduktionen, die wir heute haben, ein großes Thema. Im Hinblick auf das „Weltkino“ haben massive Veränderungen stattgefunden, historische und politische Verschiebungen haben zu Perspektivwechseln geführt, Deutungshoheiten werden in Frage gestellt. Der Blick auf das Experimentalfilmkino verschiebt sich z.B. von der westlichen Welt hin zu Ländern, die bisher nicht oder kaum auf der Landkarte des Experimentalfilms vorhanden waren - der arabische Raum, Afrika. Die Folge ist für mich dann entweder, den Experimentalfilm als historischen Begriff zu nutzen und nach einem neuen Vokabular zu suchen, um das Gegenwartskino zu beschreiben, oder aber alte Begriffe neu zu besetzen.
Der Zoo Palast wird in diesem Jahr wieder Spielstätte der Berlinale. In der Selbstbeschreibung des Kinos heißt es: „Der neue, liebevoll restaurierte Zoo Palast erinnert durch Architektur, Atmosphäre und Service an die große Zeit der Filmtheater.“ Ist ein solches Konzept ein Modell für die Zukunft?
Verluste rufen immer Gefühle von Nostalgie hervor, schaffen aber auch Möglichkeitsräume. Wir selbst mussten erst lernen, dass bestimmte Dinge wirklich nicht im Ausstellungsraum funktionieren. Indem man das Kino verlässt, versteht man ja auch die Funktionsweise des Ortes wieder besser. Insofern sehe ich schon eine gewisse Renaissance des Kinos aufkommen, vielleicht sogar gerade unter denjenigen, die versucht haben, Film in den Kunstraum zu verlagern. Kino bedeutet ja vor allem, dass man ein Raumzeitgebilde hineintritt. In der Ausstellungspraxis haben wir gelernt, wie wichtig das ist. Einen Projektor einfach irgendwo hinzustellen funktioniert nicht. Das heißt wiederum auch nicht, dass das Projekt Filmausstellung gescheitert ist und Filme doch nur im Kinoraum gezeigt werden können. Aber jeder Ausstellungsraum muss als Kino-Ort erst geschaffen werden, und zwar im Hinblick auf die einzelne filmkünstlerische Arbeit. Die Raum-Zeit-Erfahrung kann überall entstehen, wichtig ist, dass der Zuschauer für eine bestimmte Dauer einen Erfahrungsraum betritt.
Die Erfindung des Filmes liegt ja zeitlich vor der Erfindung des Ortes Kino. Gab es in der Geschichte Aufführungspraktiken, an die man heute wieder anschließen könnte?
Als das Kino als Ort noch nicht erfunden war, gab es ja trotzdem schon diesen Erlebnisraum. Die Offenheit gegenüber der konkreten Situation war damals größer als es später der Fall war. Davon können wir sicher lernen. Das Kino muss sich wieder als Ideenraum öffnen. Allerdings ist das kompliziert angesichts der Interessen des Marktes – vom Verleih über die Festivals bis zur Kino-, Fernseh-, DVD- und Internetauswertung. Diese Verwertungskette wird auf Dauer nicht mehr funktionieren.
Ein zentraler Ort für den Film ist die Kinemathek und das Archiv. Das Arsenal arbeitet eng mit der entstehenden Cimatheque in Kairo zusammen, es gibt dazu eine Podiumsdiskussion während des Festivals. Welche Herausforderungen stellen sich an eine zeitgenössische Kinemathek?
Die Cimatheque wird im Laufe des Frühjahrs eröffnet und ist aus dem Bewusstsein heraus entstanden, dass filmische Innovation und der Wachstum des regionalen Kinos einen Ort brauchen, an dem man sich darüber auseinandersetzen kann, an dem Filmgeschichte neu gedacht und verändert werden kann. Es braucht neben Produktionsstätten auch Präsentationsräume, die es für das unabhängige Kino dort nicht gibt. Das ist vergleichbar mit der Gründung der Freunde der Deutschen Kinemathek, aber nicht die Wiederholung dessen, was in Berlin 1963 stattgefunden hat. Die Diskussionen heute in Ägypten finden vor einem ganz anderen Hintergrund statt und müssen sich nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den westlichen Ansprüchen befassen. In den Gesprächen mit unseren Partnern in Kairo haben wie sehr häufig Situationen erlebt, in denen Fragen, die wir ihnen gestellt haben, sehr viel zurückreflektiert haben. Anhand der Antworten merkten wir, dass es Fragen waren, die wir uns selbst stellen sollten. Das ist ein Austausch, von dem alle sehr profitieren.
Die Kinemathek ist traditionell ein Ort, der dem Kino ein zu Hause geben will, der Filmgeschichte pflegt, präsentiert, Zugang dazu verschafft, ein Ort, der die Aufgabe übernimmt, Filme zu zeigen, die sonst nicht zu sehen wären. Sie schafft Begegnungen, öffnet Diskussionsräume und verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft. Und sie öffnet den Blick in die Welt. Da stellt sich natürlich die Frage, was das in einer Zeit bedeutet, in der die Filmrezeption immer mehr dezentralisiert wird. Eine Kinemathek gewinnt in dieser Situation durch ihre Vermittlerrolle an Bedeutung und muss sich entsprechend positionieren, denn die Anforderungen haben sich massiv verändert: What do we know, when we know, where something is? Wenn wir einen Film in der Film- oder in der Kunstwelt, oder in irgendeinem Land dieser Erde lokalisiert haben, glauben wir, aufgrund seiner Umgebung etwas darüber zu wissen. Dieses Wissen bröckelt. Es geht aber nicht darum, es zu ersetzen, sondern die Art und Weise der Wissensproduktion – in unserem Fall durch das Kino – neu in Augenschein zu nehmen. Hier sollte eine Kinemathek heute ansetzen.
Bilder, die denken
Zum ersten Mal vergebt Ihr 2014 einen eigenen Preis, den Think:Film Award...
Dem Begriff Think:Film liegen zwei Denkbewegungen zugrunde: Wir denken über Film nach, gleichzeitig ist Film eine Form des Denkens. Der Ausdruck soll eine Alternative zum historischen Begriff des Experimentalfilms bieten. Wir meinen inzwischen etwas anderes, wenn wir von einer experimentellen Praxis sprechen. Mit dem Think:Film Award wird in Kooperation mit der Allianz Kulturstiftung eine Arbeit ausgezeichnet, die Denkprozesse durch das Medium und über das Medium in Gang setzt, auf diese Weise gesellschaftspolitische Lebens- und Arbeitsräume kritisch analysiert und dabei neue Orte der ästhetischen Erfahrung gestaltet. Der Künstler der prämierten Arbeit wird im Laufe des Jahres nach Berlin und nach Kairo eingeladen, um sie an beiden Orten zu präsentieren.
Ägypten bildet einen Schwerpunkt innerhalb des Programms. Wie verhält sich die Bildproduktion zur unsicheren politischen Lage und wie wird dort Geschichte geschrieben, wenn sie gerade erst passiert?
Eine Phase des politischen Aufbruchs, die sich als sehr schwierig und langwierig erweist, verlangt natürlich nach entsprechend komplexen Formen um dieser Erfahrung Ausdruck verleihen zu können. Die Situation in Ägypten ist dermaßen kompliziert und im Prozess begriffen, dass es eine große Herausforderung ist, sie filmisch zu reflektieren. In dem Moment, in dem man ein Produkt herstellt, schließt man etwas ab, erzeugt einen homogenen Raum und das läuft immer der Situation, den Erfahrungen dort, zuwider. Insofern liegt es nahe, dass sehr offene Formen entstehen. In der Installation von Malak Helmy Music for Drifiting gibt es gar kein Bild zu sehen, es ist eine reine Soundarbeit, was dem Wunsch des Westens nach Revolutionsbildern entgegen läuft. Es ist schwer in Ägypten, über alternative Bildproduktionen nachzudenken, will man im Ausland gesehen werden. Heba Amin stellt sich in ihrer Arbeit vor, woher die Speak2Tweet-Audionachrichten im Januar 2011 gesendet wurden, als das Internet unterbrochen war. Sie hat Bilder dazu in leeren Gebäuden in Kairo aufgenommen und so die ortlosen Sprachnachrichten gewissermaßen wieder geerdet. Jasmina Metwaly setzt sich in From behind of the Monument mit den Ereignissen in der Mohamed-Mahmoud-Straße 2011 auseinander. Obwohl sie in Kairo lebt, war sie zu jener Zeit in Italien. Sie hat dort eine Leinwand aufgestellt, Bilder der Straße projiziert und diesen Distanzraum thematisiert. In einer solchen Situation kann man kaum anders als das Verhältnis von Kino und Realität neu zu deklinieren.