2018 | Forum
Der Blick zurück nach vorn
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist 2018 ein zentrales Thema sowohl im Forum als auch im Forum Expanded. Im Interview erläutert Forum-Sektionsleiter Christoph Terhechte diesen Schwerpunkt, spricht über den rebellischen Geist im japanischen Kino und Formen der alternativen Geschichtsschreibung.
Den Beginn der Ausstellung des Forum Expanded in diesem Jahr bildet Nesrine Khodrs Extended Sea. Die Arbeit zeigt 705 Minuten lang nur eine Einstellung. Steht sie damit stellvertretend für die Art von formalen Experimenten, die das Forum ausmachen?
Die Arbeiten im Forum müssen nicht unbedingt so extrem sein, aber wir insistieren auf ein Formbewusstsein. Dass die Form niemals hinter dem Inhalt zurückbleiben darf, kennzeichnet die Sektion. Natürlich ist uns wichtig, wie sich die Filme gesellschaftlich verorten und an die Realität anknüpfen. Aber entscheidend ist, dass sie eine adäquate Form für ihre Geschichte finden. Form und Inhalt müssen gleichberechtigt sein. Das ist für mich eine Essenz unserer Arbeit im Forum.
In diesem Kontext ist mir vor allem auch 11 x 14 von James Benning aufgefallen...
James Benning begleitet uns im Forum seit den 1970er Jahren, 11 x 14 ist sein erster Langfilm und gelebte Erzähltheorie. Er schafft es, aus inszenierten Bildern - und eben nicht aus Dialogen, wie es normalerweise im narrativen Kino der Fall ist - eine Erzählstruktur zu schaffen. Regisseure wie James Benning haben in den 1970er Jahren die Grundlage geschaffen für ein Verständnis von Bildern, auf das das heutige Arthouse-Kino wie selbstverständlich aufbaut. Zumindest in einem Kino, das sich vom Theater und der Literatur abgelöst hat und Film als eigenständige Kunst- und Erzählform versteht.
Wider das Vergessen
Über die Zukunft durch einen Blick in die Vergangenheit nachzudenken scheint ein roter Faden im diesjährigen Programm zu sein…
Dieser Blick zurück nach vorn findet sich tatsächlich in außergewöhnlich vielen Filmen. Ruth Beckermann etwa hat aus Material, das sie in den 1980ern gedreht hat, Waldheims Walzer montiert. So ist ein Film über den Wahlkampf Kurt Waldheims entstanden, der zum Zeitpunkt seiner Kandidatur für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten 1986 seine Nazivergangenheit vergessen haben wollte. Das passt sehr gut zum gegenwärtigen Zustand Österreichs.
In ähnlicher Weise wie Beckermann entfaltet Christina Konrad in Unas preguntas (One or Two Questions) ihr Thema. Auch sie arbeitet mit Material, das sie in den 1980ern gedreht, aber bisher nicht verwendet hatte. Jetzt ist ein fast vierstündiger Dokumentarfilm daraus geworden, der nach Sinn und Zweck des Erinnerns fragt. Ihr Sujet ist der Widerstand gegen eine Amnestie, die die uruguayische Regierung 1986 für die Täter der Militärdiktatur erlassen hat. Der Film reflektiert den Zusammenhang von Amnestie und Amnesie, und wir lesen ihn als Plädoyer, statt mit der Geschichte abzuschließen, Erinnerung aufzuarbeiten und sich der Verantwortung zu stellen. Dadurch, dass Konrad dieses Material heute verwendet, ergibt sich eine Doppelung: Zum einen geht es um den Umgang mit der Vergangenheit, aber auch um den Umgang mit dem Material, das in der Vergangenheit entstanden ist. Unas preguntas plädiert für einen Blick zurück, um in die Zukunft schauen zu können.
Diese Idee zieht sich durch das ganze diesjährige Programm. Teatro de guerra (Theatre of War) von Lola Arias verfährt ähnlich. Auch im Zusammenhang mit einer Militärdiktatur - der argentinischen, die eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Akteuren nicht zugelassen hat. Die Arbeit ist ein inszenierter Dokumentarfilm, in dem argentinische und britische Veteranen des Krieges um die Falklandinseln bzw. Malwinen einander begegnen.
In La casa lobo (The Wolf House) von Cristóbal León und Joaquín Cociña findet sich noch einmal eine ganz andere Form des Blicks zurück. Der Film verwendet Stop-Motion-Animation. Der Hintergrund ist erneut eine Militärdiktatur in Lateinamerika, die chilenische. Und die deutsche Colonia Dignidad, aus der ein Mädchen flieht und in einem dunklen Wald ein Haus findet, in dem alles in ständiger Metamorphose begriffen ist - sie selbst eingeschlossen. Der Film benutzt Elemente aus deutschen Märchen und es geht auch hier um Aufarbeitung und Erinnerung.
Findet sich das Thema auch in den Spielfilmen?
Ja. Das Spektrum ist sehr breit. Our Madness von João Viana erzählt von einer psychiatrischen Klinik in Maputo und den kolonialen Geistern der Vergangenheit, die bis heute in den Köpfen spuken. Wieża. Jasny dzień. (Tower. A Bright Day.) von Jagoda Szelc verkündet ganz am Anfang, dass er auf Ereignissen in naher Zukunft basiert. Er zeigt eine Familie, deren Geheimnisse – das Unausgesprochene und Verdrängte - in der Vergangenheit es unmöglich machen, diese nahe Zukunft zu bewältigen.
Quo vadis?
Sagt diese Konzentration auf ein Thema etwas über den aktuellen Zustand der Welt aus?
Ganz klar. Unsere Arbeit als Kuratoren bedeutet, im Schaffen der Filmemacher*innen eine Linie zu erkennen und diese in der Zusammenstellung des Programms deutlich zu machen. Und die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist das, was die Filmemacher*innen im Moment extrem beschäftigt. Gerade weil der Blick in die Zukunft weltweit verstellt ist. Man kann sich nicht wirklich vorstellen, wie unsere Zivilisation in 20 oder 50 Jahren aussehen wird. Um Antworten auf diese Frage zu finden, muss man sich unbedingt mit der Vergangenheit beschäftigen, denn dort liegen die Gründe für das Heute. Das ist die Voraussetzung für zukünftige Utopien.
Im Hinblick auf das Thema Zukunft ist es interessant, dass in gleich drei Filmen - Last Child, Mariphasa und Syn (The Son) – Kinder sterben…
In allen drei Filmen geht es um die Verarbeitung von Tod in der Familie. Der Tod ist ein gewaltiger Einschnitt und stellt immer die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und der Sinn des Lebens ist wiederum verknüpft mit weiteren Fragen: Wie soll man leben? Wie kann man die Zukunft gestalten? Wie kommen wir zurück zu einer positiven, optimistischen und utopischen Sicht auf die Zukunft?
Im Programm ist die Vergangenheit ein roter Faden, aber es besteht natürlich nicht ausschließlich aus diesem Thema. Wir veranstalten ja keinen Themenabend, sondern versuchen ein Programm zu erstellen, in dem die unterschiedlichsten Farben ein Ganzes bilden, das einen roten Faden tragen kann.
Angesichts der Filme, über die wir bisher gesprochen haben, klingt das Programm in diesem Jahr eher düster...
Das trügt. Es gibt sehr viele humorvolle Filme im Programm, schräge Dokumentarfilme wie L’empire de la perfection (In the Realm of Perfection) von Julien Faraut, der die Figur John McEnroe und sein Tennisspiel seziert. Fotbal infinit (Infinite Football) von Corneliu Porumboiu ist unheimlich witzig, weil er eine sehr skurrile Person porträtiert. Motiviert durch seine persönliche Geschichte - als junger Mann hat er eine sehr schwere Verletzung beim Fußball erlitten - setzt er nun alles daran, die Regeln des Spiels neu zu definieren. The Green Fog von Guy Maddin, Evan Johnson und Galen Johnson ist ein extrem unterhaltsamer und auch komischer Film, der mit Versatzstücken der Film- und Fernsehgeschichte arbeitet und aus vorgefundenem Material, das die Gegend rund um die San Francisco Bay zeigt, eine neue Geschichte zusammenstellt. Selbst wenn sich keiner der Filme als Komödie per se definieren lässt, gibt es sehr viel komödiantische Elemente, Groteskes, Humoristisches und visuell Verblüffendes. Das Programm lebt von der Mischung, nur düstere Filme zu zeigen, würde nicht funktionieren.
Der Geist der Anarchie
Dennoch scheint eine Figur wie Amiko in ihrer Wildheit und Anarchie eher die Ausnahme zu sein....
Ja, das stimmt. Und das hat mich auch eingenommen. Amiko ist ein Erstlingsfilm, ein erster Gehversuch im Kino. Yoko Yamanaka ist mit 20 Jahren die jüngste Regisseurin im ganzen Festival. Ich hoffe sehr, dass sie weiter Filme macht, denn sie hat offensichtlich extrem viel Phantasie und besitzt eine Frechheit und Unangepasstheit, die sehr selten geworden ist. Es gab sie im japanischen Kino der 1980er Jahre, wie es vor zwei Jahren im Programm „Hachimiri Madness – Japanese Indies from the Punk Years“ zu sehen war. 8mm-Filme, die diesen rebellischen Geist dokumentierten. Das gibt es heute nicht mehr. Wenn eine 20jährige wie Yoko Yamanaka diesen Geist versprüht, ist es bereits eine Offenbarung. Amiko ist ein Film, den man auf den ersten Blick vielleicht nicht im Forum erwartet, wenn man hier nach den großen Entwürfen der Experimentalfilmkunst sucht. Aber ich finde, Filme wie Amiko gehören zu uns, diesen Aufbruch, diese ungezähmte Kraft und dieses Imperfekte stelle ich gerne neben Altmeister wie James Benning.
Finden sich diese Anarchie und Dynamik in den japanischen „pinku eiga“-Filmen, die ihr in diesem Jahr zeigt?
Ursprünglich waren die „pinku eiga“ ein rein kommerzielles Unternehmen: billige Filme mit erotischem Inhalt. Aber sehr schnell haben junge Regisseure begriffen, dass sie in diesem Genre, wenn sie dessen Regeln erfüllen - genügend Sexszenen zu präsentieren - machen können, was sie wollen. Es entstanden Filme, die zum Umsturz der Regierung aufriefen, Avantgarde- und Genre-Kino, das mit dem rein kommerziellen „sex sells“ nichts mehr zu tun hatte. Atsushi Yamatoya hat es mit Inflatable Sex Doll of the Wastelands sogar geschafft, einen Film in diesem Genre komplett ohne die klassischen Sexszenen zu realisieren und stattdessen den Voyeurismus zu thematisieren. Auch das ging irgendwie durch. Das ähnelt der Art und Weise, wie Regisseure der Nouvelle Vague in Europa Genre-Kino gemacht haben - komplett gegen den Strich gebürstet. Jenseits der Pflichtszenen haben die „pinku eiga“-Regisseure sich ausprobiert und ein radikales Kino geschaffen. Das hat so gut funktioniert, dass ganze Generationen von Filmemachern bis Ende der 1980er Jahre in diesem Genre groß geworden sind. Allerdings haben die Filme der „pinku eiga“-Reihe einen ganz anderen Stellenwert als die Hachimiri-Filme, die offenen Protest gegen die Gesellschaft, gegen Konventionen leisteten. Hier wird das System benutzt, um überhaupt Filme machen zu können.
Alternative (Film-)Geschichtsschreibung
Sind diese Special Screenings auch Teil der Archivarbeit, die zentral ist für das Forum?
Ja. Und sie hängen unmittelbar mit dem Thema der Erinnerung im diesjährigen Programm und der Arbeit des Arsenals und seiner Geschichte zusammen. Von Beginn an hat das Forum die Filme, die gezeigt wurden, in den Verleih übernommen. So ist ein riesiges Archiv entstanden, das oft der einzige Ort weltweit ist, an dem es noch eine Kopie bestimmter Filme gibt. Inzwischen restaurieren wir auch Filme, die gerne als „marginal“ bezeichnet werden und beweisen damit, dass es ein großes Interesse gibt, sich mit den so genannten „Rändern“ des Filmschaffens auseinanderzusetzen. Wir kämpfen gegen die herrschende Idee der Filmgeschichtsschreibung, die über einen sehr engen Kanon definiert wird und die in einer Zeit entstand, als man dachte, dass alle Filme von Bedeutung im Westen produziert würden. Alles außerhalb der eigenen Perspektive wurde marginalisiert. Obwohl sich von den „Rändern“ aus oft viel mehr erkennen lässt als aus einem engen Kanon heraus. Deshalb zeigen wir in den Specials wesentliche Filme, die nie richtig wahrgenommen und fast wieder vergessen wurden. Und auch Arbeiten, wie zum Beispiel die Geschichten vom Kübelkind von Edgar Reitz und Ula Stöckl, die sich nie einfügen wollten in den üblichen Verwertungskreislauf des Kinos und Alternativen erfanden - in diesem Fall das Kneipenkino, das wir in diesem Jahr im silent green Kulturquartier reinszenieren und das Vorläufer war für die vielen Mikrokinos, die heute entstehen.
Bezieht sich diese alternative Geschichtsschreibung nur auf die Filmgeschichte?
Jeder Film ist auch ein alternativer Blick auf soziale Realitäten. Ein gutes Beispiel ist Yama – Attack to Attack von Mitsuo Sato und Kyoichi Yamaoka. Die Regisseure wurden beide ermordet, weil sie die Schicksale von Tagelöhnern im Tokio der 1980er Jahre dokumentiert haben. Das störte die Interessen der Yakuza, die für diese Art der Ausbeutung verantwortlich waren. Yama – Attack to Attack ist nicht nur alternative Filmgeschichtsschreibung, weil er ein Meilenstein des japanischen politischen Dokumentarfilms ist, der hier kaum bekannt ist, sondern gleichzeitig ist er auch ein Werk alternativer Geschichtsschreibung, weil er ein völlig ungewohntes Bild von Japan und Tokio zu sehen gibt.