2018
68. Internationale Filmfestspiele Berlin
15. – 25. Februar 2018
„Denn der Zauber der Berlinale erwächst aus dem Publikum selbst und ist für jeden, der dabei ist, so einfach wie schwer: eine Reise zu den eigenen Gefühlen, eine Kurzstrecke raus aus der aufregenden Stadt hinein in die weite Welt der Möglichkeiten, sein eigenes Leben anders zu leben." – Robert Ide, Der Tagesspiegel, 26.02.2018
In gewissem Sinne begann die Berlinale 2018 frühzeitig: am 24. November 2017. Unter dem – etwas reißerischen – Titel „Filmemacher wollen Berlinale revolutionieren“ veröffentlichte Spiegel-Online einen Aufruf von 79 Regisseur*innen. Bei der Neubesetzung der Festivalleitung sollte ein transparentes Verfahren gewählt werden. Ein legitimer Vorstoß. Dieter Kosslicks Vertrag würde 2019 auslaufen und die Besetzungsverfahren der Leitungsposten von Berliner Kulturinstitutionen waren in den Vorjahren zuweilen eher unglücklich verlaufen und auf massiven Widerstand gestoßen – die Erinnerung an die Tumulte nach der Installation von Chris Dercon als Intendant der Volksbühne waren noch frisch.
Was den Aufruf in ein Schmierentheater verwandelte, war der Artikel, in den die wenigen Zeilen der Filmemacher*innen eingebettet worden waren. Hannah Pilarczyk schrieb: „Statt das inhaltliche Profil des Festivals zu schärfen, hat Kosslick dem Bedeutungsverlust eine ständige Erweiterung der Sektionen und Sonderprogrammierungen entgegenzusetzen versucht. Dadurch ist ein Wust an Reihen entstanden, die für sich genommen ebenso wenig stichhaltig wie der Wettbewerb sind und Aufmerksamkeit und Diskurse eher streuen als bündeln.“ (Spiegel-Online, 24.11.2017). Statt die kulturpolitischen Defizite und Strukturen zu fokussieren, wurde die Debatte zu einer Abrechnung mit dem Festivaldirektor stilisiert. Eine Wendung, die so niemals beabsichtigt war, wie Christian Petzold als Mitunterzeichner später klarstellte: „Unser Appell wurde personifiziert und zur Abrechnung mit Dieter Kosslick gemacht. Dabei hatte er damit überhaupt nichts zu tun“ (Im Interview mit dem Tagesspiegel, 16.02.2018). In gleicher Weise äußerte sich ein wütender Dominik Graf: „Wenn ich gewusst hätte, dass unser Schreiben in das publizistische Fahrwasser einer Abrechnung mit Kosslick gezogen wird, hätte ich nie unterschrieben“ (in Die Zeit, 29.11.2017).
Der Aufruf wurde instrumentalisiert, um jahrelange – oft persönliche - Befindlichkeiten in einer Art Rachefeldzug zu kanalisieren. Im Spiegel-Artikel führte Pilarczyk im Wesentlichen nur das seit 30 Jahren bei den Kritiker*innen der Berlinale schwelende ungute Gefühl der zunehmenden „Gigantonomie des Festivals“ (Jahreschronik 1988) ins Feld, um den Unterzeichner*innen unterzuschieben, sie würden der „Kosslick-Ära eine klägliche Bilanz ausstellen“. Er selbst konnte nur noch lakonisch auf die immer gleichen Anfeindungen reagieren: „Na ja, da ist man dann schon verblüfft. [...] Das zielte ja [...] auf das Verfahren ab, und dann ist es auf mir gelandet [...]. Ich hatte immer darauf gewartet, dass es auch konkrete Vorschläge gibt, was wir machen sollen. Aber außer, dass wir die Berlinale kleiner machen sollen, ist ja bis jetzt nichts gekommen“ (Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur, 15.02.2018).
Die Vielfalt der Film/Welt
Die Berlinale verkleinern, der Ruf nach einer strengeren kuratorischen Hand – Forderungen, die mittlerweile zum Festival gehörten wie das kalte Wetter. Angesichts des journalistischen Störfeuers im Vorfeld konnte der Eindruck entstehen, Dieter Kosslick müsse 2019 eine desolate und sinnfreie Veranstaltung an seinen Nachfolger übergeben. Dass dem nicht so war, bewiesen die Festivaltage, das Programm und die publizistische Debatte, die sich im Anschluss entspann. Klar wurde, dass die Berlinale lebte, denn ihre Einzigartigkeit stach 2018 deutlich hervor. Kritiker*innen wie Hannah Pilarczyk enthüllten der Öffentlichkeit keine unhaltbaren Zustände, die dringend revolutioniert werden müssten, sie waren einfach anderer Meinung und ihre Meinung war nicht mehrheitsfähig, wie sich herausstellte. „Das Dickicht, die Überfülle – das ist der Großstadtdschungel, das ist Berlin. Das unterscheidet die Berlinale von der hysterischen Übersichtlichkeit der Kleinstädte Cannes und Venedig [...]. Die Kritiker [...] scheitern mit ihrem Verständnis der Berlinale, weil sie schon mit ihrem Verständnis Berlins scheitern. Man sollte ihnen nicht entgegenkommen, indem man die Filmfestspiele zurückstutzt auf etwas, was dem autoritären Kleinstadtcharakter und seinen Herrschaftsfantasien entgegenkommt“, schrieb Jens Jessen am 14.02.2018 auf Zeit-Online. Man musste nur einmal frühmorgens über den Potsdamer Platz laufen, das langsam erwachende Gewimmel aus Journalist*innen, Fachbesucher*innen, Publikum, Selfie-Jäger*innen und Touristen beobachten, um die besondere Qualität und Atmosphäre des Festivals zu verstehen.
Ziel des Festivals war es nie gewesen, hermetisch abgeriegelte Expertendiskurse zu hofieren. Im Zentrum standen die Vielfalt und ein begeistertes Publikum, das die Kinosäle auch 2018 füllte.„Zeugt es nicht von cinephiler Selbstüberhöhung, zu glauben, das Publikum wolle an eine starke Hand genommen werden? Stattdessen könnte man auch darauf vertrauen, dass es die Menschen in dieser komplexen Welt schaffen, sich durch ein umfangreiches Programmheft anregen zu lassen und selbst zu orientieren“, argumentierte Wenke Husmann auf Zeit-Online (15.02.2018).
Unterstützt wurde sie in ihrem Plädoyer pro Vielfalt von prominenter Seite: “I usually hate film festivals. Last night, Gus [Van Sant] was doing the Berlin Talents and I went along to watch and saw all these young filmmakers that are curious about the process and hearing Gus speak, I had a real appreciation for a film festival”, beschrieb Joaquin Phoenix, der anlässlich der Premiere von Gus Van Sants Don’t Worrry, He Won’t Get Far on Foot nach Berlin gekommen war, seine erste positive Festivalerfahrung (deadline, 21.02.2018).
Die Berlinale als Möglichkeit, in knapp 400 Filmen eine Reise um die Welt anzutreten, die unterschiedlichsten Milieus, Lebensformen, Einstellungen und Haltungen kennenzulernen, die eigenen Urteile und Vorurteile auf den Prüfstand zu stellen, wurde wie in den Jahren zuvor über die Festivaltage gefeiert. „Die Augen vieler Berlinale-Zuschauer leuchten beim Abspann, wenn sie an die Filme in den Nebenreihen Panorama, Forum oder Generation denken, mit denen sie ihre Zeit sinnhaft verschwendet haben bei der Neuvermessung des eigenen Weltbilds“, schrieb Robert Ide (Der Tagesspiegel, 26.02.2018). Stellvertretend für die immense Vielfalt des gesamten Festivals stand 2018 der Wettbewerb. Filmkritikerin Katja Nicodemus gestand: „So etwas habe ich noch nie erlebt, dass es so viele verschiedene Ästhetiken und irre Filmideen gibt“ (NDR-Online, 22.02.2018).
Eröffnet wurde die Berlinale 2018 zum ersten Mal überhaupt von einem Animationsfilm: Isle of Dogs von Wes Anderson war nicht nur ein kuratorischer Glücksgriff, weil er die notwendige Starpower für den ersten Roten Teppich des Festivals mitbrachte, sondern zudem als „Parabel auf eine Welt faschistischer Reinheits- und Exklusionsideen“ (Verena Lueken, FAZ, 16.02.2018) paradigmatisch für den Vielfaltsgedanken des Festivals stand.
#MeToo und Diversity
Mitte Oktober 2017 beherrschte der Hashtag MeToo die sozialen Netzwerke. Er etablierte sich im Zuge der hitzigen Debatten um Geschlechterverhältnisse in der Filmbranche, die durch den Skandal um den Produzenten Harvey Weinstein ausgelöst worden waren. Weinstein war von mehreren Schauspielerinnen der sexuellen Nötigung bis hin zur Vergewaltigung beschuldigt worden. Die Affäre zog weite Kreise, auch in Deutschland, und geriet zu einem beherrschenden Themen der Berlinale 2018. Wobei Dieter Kosslick #MeToo in einen größeren Kontext stellte und Machtverhältnisse generell in den Fokus nahm. Diese Diskussionen seien „auch ein bisschen die DNA der Berlinale“ (Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur, 15.02.2018), denn auch hier ging es letztlich um Vielfalt. Das Engagement des Festivals wurde von der Presse entsprechend honoriert: „Where else can cinema-goers find such a wide range of queer, international and political movies without working as an industry insider? Certainly not Cannes nor Venice, both of which remain privy only to those with the correct pass […]. Much like Berlin itself, the Berlinale prizes inclusivity above all else, and in this tumultuous era, it’s hard to imagine anything more important than that” (David Opie, EXBERLINER, 09.02.2018).
Der verstellte Blick
Mit #MeToo richtete die Filmwelt den Blick auf ihre eigenen Strukturen und auch im Hinblick auf die aktuelle globale politische Situation wurde das Festival 2018 zur Identitätsfrage. Das Bild einer Welt aus den Fugen aus den Vorjahren hatte sich nur weiter verschärft und die Berlinale, 1951 angetreten als „Schaufenster zur freien Welt“, musste sich fragen, wo diese freie Welt denn noch zu finden sei. Der so genannte „Führer der freien Welt“, ein clownesker US-Milliardär, inzwischen wider Erwarten ein Jahr im Amt, hatte seinen Traum von einer Betonwand zwischen den USA und Mexiko noch nicht aufgegeben, führte Schutzzölle ein, entließ seinen Außenminister per Twitter und wurde selbst der sexuellen Nötigung beschuldigt. Als Manifestation der Unübersichtlichkeit fungierte weiterhin das zerbombte Syrien. Die (Stellvertreter-)Kriege zwischen Russland und den USA, den Interessen der Türkei, den Kurden, Baschar al-Assad, den Dystopien eines islamischen Staates usw. wurden auf dem Rücken einer flüchtenden oder sterbenden Zivilbevölkerung ausgetragen. Der Großteil der Welt schloss die Augen vor dem Massenmord.
Umso wichtiger war es, dass sich ein Trend aus den Vorjahren im 2018er Programm fortsetzte: Die Filme traten wieder das Vergessen an und beharrten auf der Schuld der Vergangenheit, quer über alle Sektionen hinweg. Wie der Leiter des Forums Christoph Terhechte im Interview zusammenfasste: „Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist das, was die Filmemacher*innen im Moment extrem beschäftigt. Gerade weil der Blick in die Zukunft weltweit verstellt ist. Man kann sich nicht wirklich vorstellen, wie unsere Zivilisation in 20 oder 50 Jahren aussehen wird. Um Antworten auf diese Frage zu finden, muss man sich unbedingt mit der Vergangenheit beschäftigen, denn dort liegen die Gründe für das Heute. Das ist die Voraussetzung für zukünftige Utopien.“
Nationalismus damals wie heute
Auffällig oft standen dabei die Verheerungen diktatorischer Regime im Fokus. Lav Diaz kehrte im Wettbewerbmit Ang Panahon ng Halimaw (Season of the Devil) in die dunkelsten Stunden des philippinischen Marcos-Regimes zurück. Im Panorama zeigten Almudena Carracedo und Robert Bahar mit The Silence of Others den Kampf gegen das staatlich legitimierte Vergessen des Franco-Regimes in Spanien. Ein Amnestiegesetz, das nach der Militärdiktatur in Uruguay erlassen wurde, stand im Zentrum von Unas Preguntas (One or Two Questions) von Kristina Konrad im Forum. Konrad griff auf Material zurück, das sie in den 1980er Jahren gedreht hatte, um zu zeigen, wie gelebte Demokratie damals funktionierte und heute funktionieren sollte. In ähnlicher Weise montierte Ruth Beckermann Material, das sie ebenfalls in den 1980er Jahren gedreht hatte. In Waldheims Walzer begleitete sie den – erfolgreichen – Wahlkampf des ehemaligen UNO-Botschafters Kurt Waldheim, der 1986 für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte. Seine Nazi-Vergangenheit hatte Waldheim zu diesem Zeitpunkt vergessen und so erschien er als die Symbolfigur eines ganzen Landes, das sich nicht als Mittäter, sondern als Opfer des NS-Regimes empfand. Waldheims Walzer beharrte, bestand darauf, genau hinzusehen und nicht zu vergessen – belohnt wurde der Film dafür mit dem Glashütte Original – Dokumentarfilmpreis. Zudem zeugte Beckermanns Film von brennender Aktualität, denn der Ruck nach Rechts und das Wiedererstarken des Nationalstaates waren überall in einer vermeintlich globalisierten Welt zu beobachten.
Dass sich bestimmte Milieus oder Individuen von der Idee der Demokratie längst verabschiedet hatten, reflektierte das 2018er Programm in vielen Facetten. Im Panorama dokumentierte Jan Gebert mit Až přijde válka (When the War Comes) die Vorbereitungen einer paramilitärischen Gruppe in der Slowakei auf einen selbst ausgerufenen Kampf der Kulturen. Schockierend wirkte vor allem die Alltäglichkeit, mit der das paramilitärische Gehabe in den Alltag der Menschen integriert wurde. In welcher Katastrophe dieses Denken münden kann, machte Erik Poppe im Wettbewerb erfahrbar. Mit Utøya 22. juli (U – July 22) schickte er die Zuschauer*innen zurück ins Jahr 2011, ins Kampfgebiet eines entgrenzten Krieges, zum Massenmord des selbsternannten Verteidigers des Abendlandes Anders Breivik, der auf den Kampf der Kulturen nicht mehr warten wollte und das Jugendzeltlager der sozialdemokratischen Partei in den Tatort eines Massakers verwandelte.
Die Revolution der Sinne
Jenseits seines Themas griff Utøya 22. juli eindrücklich auf die Bedingung jeglicher Politik, die Wahrnehmung, aus. Mit einer Lauflänge von 90 Minuten entsprach die Zeitspanne des Films derjenigen des Massakers von 2011. Poppe verzichtete auf Schnitte und so durchlebten die Zuschauer*innen das Flüchten und das Sterben der norwegischen Jugendlichen auf einer mitunter qualvollen Tour-de-Force in einer einzigen Plansequenz. Den Geschehnissen ihre Dauer zurückzugeben, machte das Leiden, die Angst fühlbar, viel stärker als es eine herkömmliche Dokumentation je vermocht hätte. Wie stark politische Implikationen mit der Form verbunden sind, zeigte auch Nesrine Khodrs Installation Extended Sea in der Ausstellung des Forum Expanded. Auch hier eine einzige, in diesem Fall starre Einstellung. 705 Minuten passiert fast nichts. Wer sich gute elf Stunden Zeit nimmt – und dies ganz besonders im Rahmen eines Filmfestivals, in denen Zeitknappheit und die möglichst große Akkumulation von gesehenen Filmen den Tagesverlauf strukturieren –, um seine Aufmerksamkeit einem einzigen Werk zu schenken, hat die Prämissen des Turbokapitalismus ganz offensichtlich hinter sich gelassen und kann auch die soziale Welt in völlig neuer Form wahrnehmen.
Sein Gegenstück fand Extended Sea im Panorama. Profile bot eine wunderbare Reflektion über den Zustand der Wahrnehmung in der digitalen Zeit. Timur Bekmambetov erzählt die Geschichte einer britischen Journalistin, die sich via Skype vom IS rekrutieren lässt, um darüber einen Artikel zu schreiben. Als filmischer Raum reicht ihm allein der Bildschirm eines Laptops. Wie die Wahrnehmung hysterisiert und in unfassbarem Maß beschleunigt wird, auf welch abstruse Weise Privates und Professionelles, Leben und Tod in harten Schnitten aneinandergereiht werden, war hier zu erfahren. „Filmfestivals sind, vom Standpunkt eines normalen Bewohners der audiovisuellen Kultur gesehen, nur so gut, als sie Repräsentanten, Motoren und Reflexionen der allgemeinen Bilderkultur sind“ schrieb Georg Seeßlen im Freitag (Ausgabe 07/2018) – vor diesem Anspruch musste sich das 2018er Programm nicht verstecken.
Ein Abschied und drei Willkommen
Eine einschneidende personelle Veränderung spielte sich im Sommer 2017 im Panorama ab. Wieland Speck übergab nach 25 Jahren die Leitung an Paz Lázaro, die zur 68. Berlinale gemeinsam mit Michael Stütz und Andreas Struck das Programm kuratierte. Alle drei waren langjährige Mitarbeiter*innen des Panoramas und setzten Schwerpunkte wie das LGTB-Kino ungebrochen fort. Zugleich war ihre eigene Handschrift deutlich zu spüren in einem fokussierten, kompakten Programm.
Auch beim European Film Market endete eine Ära. Die Grande Dame der Filmwelt Beki Probst wurde nach 30 Jahren mit einer Berlinale Kamera verabschiedet. Sie hatte den Markt als Direktorin und später als Präsidentin zu einer unvergleichlichen Erfolgsgeschichte gemacht. „Ich fing mit drei Mitarbeitern und einer Handvoll Filmen an“, erinnerte sie sich im Tagesanzeiger (15.02.2018). 2018 stellte der EFM mit 10.000 Besucher*innen aus 112 Ländern und 661 gezeigten Filmen neue Rekorde auf.
„Sexperimente“
Die größte Überraschung behielt sich das Festival 2018 für die Preisverleihung vor. Jurypräsident Tom Tykwer und seine Mitstreiter*innen zeichneten nicht etwa die gehandelten Favoriten im Wettbewerb aus, sondern einen „kleinen“, semidokumentarischen Erfahrungstrip aus Rumänien, den kaum jemand auf der Rechnung hatte: Touch Me Not von Adina Pintilie konnte sowohl den GWFF Preis Bester Erstlingsfilm als auch den Goldenen Bären einheimsen. Der offenherzige Umgang mit nackten Körpern, Sexualität und Intimität hatte schon bei seiner Premiere zwei Tage zuvor für Aufregung gesorgt. Einige Kritiker verließen echauffiert die Vorstellung, die Schlagzeilen schillerten in den nächsten Tagen bunt: „Gold für den Nacktschocker“ (Berliner Morgenpost), „Sexperimental-Film ‚Touch Me Not’ verstört Berlinale-Publikum“ (Rolling Stone), „Zuschauer verlassen Kinosaal wegen zu heftiger Sex-Szenen“ (Die Welt).
In Zeiten der omnipräsenten digitalen Pornoökonomie hatte Pintilie einen Nerv getroffen. Der Film fragt nach den Grundlagen dessen, was Intimität genannt wird, was sie ausmacht, wie sie gelebt wird. Angesichts der portraitierten heterogenen Körper und Persönlichkeiten – Pintilies Protagonist*innen sind auf je eigene Art psychisch oder physisch besonders – wirkt im Film nicht die Nacktheit selbst monströs, sondern eher die Normativität derjenigen „schönen“ Körper, welche im Allgemeinen die Kinoleinwand beherrschen. Pintilies Film entdeckt die Schönheit in dem, was nur allzu oft ausgeschlossen und marginalisiert wird, und war in Zeiten von #MeToo noch einmal ein äußerst nachdrückliches Plädoyer für echte Vielfalt. Die Reaktionen auf den Goldenen-Bären-Gewinner fielen hitzig und konträr aus. Peter Bradshaw nahm die Jury-Entscheidung im Guardian zum Anlass für eine persönliche Abrechnung mit dem Festival als Ganzes: „Victory for Adina Pintilie’s humourless and clumsy documentary essay underscores Berlin’s status as a festival that promotes the dull and valueless“ (25.02.2018). Tobias Kniebe schrieb in der Süddeutschen Zeitung hingegen: „Und ein Film, dem das gelingt, der ein paar Synapsen im Hirn seiner Zuschauer komplett neu verdrahtet - hat der nicht jeden Bären verdient?“ (25.02.2018).
Die Leidenschaft, mit der die Debatte um Touch Me Not geführt wurde, zeigte aber auch, dass der 2018er Wettbewerb eine außergewöhnliche Qualität besaß, viele Filme einen Preis verdient gehabt hätten. Vor allem die deutsche Kritik zeigte sich enttäuscht, dass die vier starken deutschen Beiträge – Christian Petzolds Transit, Emily Atefs 3 Tage in Quiberon, Philip Grönings Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot und Thomas Stubers In den Gängen – leer ausgingen. Gunnar Decker fasste am 26.02.2018 im Neuen Deutschland die allgemeine Stimmung prägnant zusammen: „Der diesjährige Wettbewerb [war] einer der stärksten der letzten Jahre. Vor allem auch: endlich wieder starke deutsche Filme, die durch ganz verschiedene Handschriften überraschten.“
Die weiteren Preise offenbarten, wie facettenreich und vielfältig der Wettbewerb 2018 gewesen war: Małgorzata Szumowska gewann mit ihrer Satire über das zeitgenössische Polen Twarz (Mug) den Großen Preis der Jury, Wes Anderson wurde für den Animationsfilm Isle of Dogs mit dem Preis für die Beste Regie bedacht. Das stille, intime paraguayische Drama Las herederas (The Heiresses) von Marcelo Martinessi wurde mit dem Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis und dem Silbernen Bären für die Beste Darstellerin für Ana Brun ausgezeichnet.
Für seine Rolle als drogenabhängiger, haltloser Jugendlicher in Cédric Kahns La prière (The Prayer) gewann der französische Jungschauspieler Anthony Bajon den Silbernen Bären als Bester Darsteller. Nach Mexiko ging der Preis für das Beste Drehbuch für Manuel Alcalás’ und Alonso Ruizpalacios’ (der bei Museo (Museum) auch Regie geführt hatte) Bearbeitung eines waghalsigen Einbruchs ins mexikanische Nationalmuseum im Jahre 1985. Für ihre Herausragende Künstlerische Leistung (Kostüm und Production Design) in Alexey German Jr.s Künstlerporträt Dovlatov wurde die Russin Elena Okopnaya geehrt.
Und so mündete die 68. Berlinale in einer Preisverleihung, welche die ganze Vielfalt des Festivals noch einmal widerspiegelte. „Die Filmfestspiele von Berlin kehren zu ihren Anfängen zurück. Sie waren wieder ein politisches Festival des freien Denkens, das mehr Risiko wagt als Venedig oder Cannes. ‚Touch me not’ ist ein Signal an die anderen Festivals, dass diese Berlinale bereit ist, sich zu ändern. Und ein Signal an alle Filmemacher, dass sie das Risiko sucht“, resümierte Hanns-Georg Rodek (Die Welt, 25.02.2018). Unter der Kritik dominierte am Ende die Vorfreude auf das nächste Jahr und die 69. Berlinale. Tim Caspar Böhme etwa schrieb „Dieser Jahrgang könnte sich […] als Auftakt zu einem verstärkten Verständnis der Berlinale als Versuchslabor des Films herausstellen. Was keine schlechte Sache wäre“ (Die Tageszeitung, 25.02.2018). Das vermeintliche Gefühl der tiefen Krise, das Ende November vom Spiegel ausgerufen worden war, hatte sich bis Ende Februar endgültig in eine optimistische Aufbruchsstimmung verwandelt.
Die Berlinale 2018 in Zahlen
Besucher | |
---|---|
Kinobesuche | 489.791 |
Verkaufte Eintrittskarten | 332.403 |
Fachbesucher | |
Akkreditierte Fachbesucher (ohne Presse) | 18.080 |
Herkunftsländer | 130 |
Presse | |
Pressevertreter | 3.688 |
Herkunftsländer | 84 |
Screenings | |
Anzahl Filme im öffentlichen Programm | 380 |
Anzahl Vorführungen | 1.096 |
European Film Market | |
Fachbesucher | 9.973 |
Anzahl Filme | 780 |
Anzahl Screenings | 1.112 |
Stände auf dem EFM (Martin-Gropius-Bau & Business Offices) |
201 |
Anzahl Aussteller | 546 |
Berlinale Co-Production Market | |
Teilnehmer | 579 |
Herkunftsländer | 54 |
Berlinale Talents | |
Teilnehmer | 251 |
Herkunftsländer | 79 |
Jahresbudget | € 25 Mio. |
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 7,7 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. |