2021

71. Internationale Filmfestspiele Berlin

Industry Event 01.–05.03.2021
Summer Special 09.–20.06.2021

Best of Berlinale Summer Special 2021

Zahlen und Fakten 2021

Es zahlt sich jetzt aus, dass ein Online-Festival für Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian keine Option war, dass sie die große Leinwand für 2021 nicht aufgegeben haben, obwohl es viel einfacher gewesen wäre. Es war eine Wette gegen die Pandemie, von der keiner wusste, wer sie gewinnen würde. Das ist neben der Liebe zum Kino auch der Wertschätzung der Berlinale-Macher für treue Berliner Kinobegeisterte zu verdanken. Dieses Festival ist für sie.
Susanne Lenz, „Berliner Zeitung“, 05.06.2021


Am Anfang stand das Virus. COVID, Corona, Covid-19, SARS-CoV-2. Es infizierte alles. Nicht nur die Körper, den Rachen, die Lungen, sondern auch das Denken, die Wahrnehmung, die Ängste, Hoffnungen und Wünsche einer von einer heimtückischen Atemwegserkrankung überfallenen Welt. Auch für die Berlinale bedeutete dies ein Jahr im permanenten Ausnahmezustand, in dem nichts so werden sollte, wie man es erwartet hatte. Was sich zur Berlinale 2020 bereits als böse Vorahnung abgezeichnet hatte, wurde in rasender Geschwindigkeit zur Matrix einer neuen Normalität: Noch im März 2020, nur wenige Tage nach dem Ende der 70. Berlinale, beschloss die Bundesregierung einen ersten Lockdown, die Straßen Berlins waren danach wie leergefegt. Das öffentliche Leben und diverse Wirtschaftsbereiche kamen zum Erliegen, ein Land im nahezu totalen Stillstand. Fallzahlen wurden wie Aktienkurse studiert, die mediale Landschaft schoss sich monothematisch auf dieses eine, alles beherrschende Thema ein. Der R-Wert, der angibt, wie viele weitere Menschen ein/e Infizierte*r ansteckt, wurde zum allwissenden Orakel der individuellen wie kollektiven Zukunft. Das für das menschliche Auge unsichtbare Virus hatte innerhalb weniger Wochen die Welt erobert. Man sah nur seine Folgen – drastisch eingefangen etwa im Bild eines Lastwagenkonvois mit Särgen, der die Leichen der Opfer aus dem italienischen Bergamo brachte, nachdem die örtlichen Krematorien vor der schieren Last der Aufgabe kapitulierten. Die Angst ging um. Vor einer Infektion, vor dem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen, überfüllten Intensivstationen. Die Grenzen wurden geschlossen, man igelte sich nationalstaatlich ein, an Reisen war nicht zu denken. Virolog*innen wurden Meinungsführer*innen, kaum eine politische Entscheidung wurde mehr getroffen ohne Rücksprache mit den Wissenschaftler*innen, die mitunter zu Popstars aufstiegen, sich aber auch diversen Anfeindungen ausgesetzt sahen.

Neue Regeln

Das Virus traf das Kino als spezifische Infrastruktur des Sozialen mit voller Wucht. Der Aufenthalt in einem Innenraum wurde zum Sicherheitsrisiko und deshalb während der Lockdowns verboten, der Kontakt zu anderen Menschen musste sich den Regeln des Social Distancing, dem Mindestabstand unterwerfen. Die Filmtheater wurden geschlossen, die Idee von Kino als Ort des gemeinsamen Erlebens lag brach, der individuelle, isolierte Konsum von audiovisuellen Bildern vor dem heimischen Bildschirm hatte Hochkonjunktur. Die Nutzer*innenzahlen von Streamingdienstleistern explodierten, Künstler*innen sorgten für Live-Übertragungen aus ihren heimischen Wohnzimmern, um den Kontakt zu ihrem Publikum nicht vollends zu verlieren.

Im Frühsommer 2020 entspannte sich die Lage, im Sommer schien die alte Normalität wieder greifbar. Doch im Herbst kehrte das Virus in einer zweiten und dann einer dritten Welle mit voller Intensität zurück. Erneuter Lockdown, erneute Schließung der Kinos, erneuter Stillstand. Erneutes Orakeln mit den Virolog*innen, wie sich das Virusgeschehen in den kommenden Wochen entwickeln würde. Regeln für das öffentliche Leben stellte die Politik so schnell auf, wie sie sie wieder verwarf - und das von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Was in Berlin erlaubt war, konnte schon ein paar Meter weiter in Brandenburg zu einer Geldstrafe führen. Die Verordnungen wurden mitunter so komplex, dass sie kaum noch jemand verstand. Und in dieser ungewissen Lage stand die Berlinale-Leitung vor der schier unlösbaren Aufgabe, ein internationales Festival zu planen. Im Februar nach der größten Herausforderung der letzten Monate befragt, antwortete Mariette Rissenbeek: „Everything is so unpredictable. A pandemic evolves in a very dynamic way and what’s possible today is not possible tomorrow. That makes it very difficult to plan an event like the Berlinale. We feel so committed to showing the films to the Berlin audience and feel committed to working with cinemas, and these two elements are the most unpredictable so that makes it a big challenge“ (im Interview mit Michael Rosser, „Screendaily“, 25.02.2021).

Digital oder physisch lautete die Frage der Stunde

Dabei verfolgte die Festivalleitung von Beginn an eine klare, entschiedene und unbeirrbare Philosophie: Filmfestivals sind Orte des direkten Kontaktes und der unmittelbaren Begegnung, des gemeinsamen Erlebens – gerade die Berlinale als eines der größten Publikumsfestivals der Welt. Nimmt man ihr diese Aspekte, so nimmt man ihr ihre Substanz. Wie Carlo Chatrian es in einem Interview mit David Mouriquand betonte: „The collective experience is something we consider to be essential“ („Exberliner“, 04.02.2021).

Die 71. Berlinale – ein Festival in zwei Stufen

Ende August 2020 wurde ein erster Plan für die 71. Berlinale verkündet: das Festival würde wie gewohnt physisch veranstaltet, der European Film Market in einer hybriden Version mit Präsenz- und digitalen Angeboten. Doch was das Jahr 2020 von allen Veranstalter*innen über die Maße einforderte, war Flexibilität. Die Fähigkeit, angesichts der sich ständig ändernden Infektionslage die eigenen Entscheidungen zu überdenken und anzupassen. Als sich im Herbst die zweite Covid-Welle schnell und heftig formierte, wurde klar, dass die kommende Edition in der im August verabschiedeten Form nicht umgesetzt werden könnte. Neue Pläne und Konzepte wurden ent- und verworfen, auch etwa die Idee, das Festival in den April zu verschieben, geprüft. Am 18. Dezember 2020 wurde schließlich die endgültige Entscheidung bekanntgegeben: Erstmals in ihrer Geschichte würde die Berlinale in zwei Stufen stattfinden, mit einem digitalen Industry Event Anfang März für die Branche und einem Summer Special im Juni für das öffentliche Publikum. Damit trug die Festivalleitung den verschiedenen Interessen und Bedürfnissen Rechnung: „Die Berlinale hat zwei wichtige Bausteine: Einmal gibt es das Publikum, das Stars und Regisseure hautnah erleben möchte. Und dann gibt es die Kinobranche, die mit Filmen, Rechten und Ideen handelt. Diese beiden Säulen teilen wir auf“ (Mariette Rissenbeek im Interview mit Stefan Stosch, „Redaktionsnetzwerk Deutschland“, 01.01.2021).

Diese Entscheidung erforderte viel Mut. Im Dezember 2020 war die deutsche Impfkampagne, die Erleichterung und Sicherheit versprach, allenfalls eine vage Hoffnung, die Regierungsparteien hatten in den vorherigen Monaten durch diverse Schnellschüsse, Verzögerungen, Korruptionsskandale und Fehlentscheidungen einiges Vertrauen eingebüßt. Niemand konnte voraussagen, was im März, geschweige denn im Juni möglich und erlaubt sein würde. Festivals abzusagen oder komplett in den digitalen Raum zu verschieben war zur Regel geworden. Das Sundance Film Festival etwa ging Ende Januar 2021 mit einer digitalen Ausgabe an den Start. Zu groß schienen die Risiken und Unwägbarkeiten der nächsten Tage und Wochen.

Am Set eines der digitalen Berlinale Talents Talks im HAU Hebbel am Ufer

Das Berlinale Industry Event

Vom 1. bis zum 5. März 2021 bildete das Industry Event mit rein digitalen Angeboten des European Film Market, des Berlinale Co-Production Market, von Berlinale Talents und des World Cinema Fund den Auftakt der 71. Berlinale. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, die digitale Infrastruktur für eine solche Veranstaltung musste erst geschaffen werden. Das Berlinale-Publikum blieb zunächst außen vor, allerdings wurde der Presse die Möglichkeit gegeben, die Filme online zu sichten und zu besprechen - ein wichtiger Impuls für die Filmemacher*innen und ihre Werke: „Filme, die nicht bei Festivals auftauchen und dort vielleicht sogar Preise gewinnen, werden von Zuschauern weniger wahrgenommen. Der Weg auf die Kinoleinwand ist für sie schwerer. Es kann passieren, dass sie nie wirklich zum Leben erweckt werden“, begründete Mariette Rissenbeek die Entscheidung (im Interview mit Stefan Stosch, „Redaktionsnetzwerk Deutschland“, 01.01.2021). Die Teilnahme in den verschiedenen Sektionen des Festivals - als Gütesiegel für jeden Film - sollte erhalten, die mediale Aufmerksamkeit auf die eingeladenen Arbeiten als Verkaufsargument bestehen bleiben. Die Rechnung ging auf, wie Barbara Schuster in „Blickpunkt:Film“ resümierte: „Ein ungewöhnliches Experiment, das aber, wenn man die Reaktionen der deutschen Käufer und Verkäufer als Maßstab nimmt, unbedingt erfolgreich war“ (25.03.2021).
Und John Hopewell und Elsa Keslassy bilanzierten in „Variety“: „Berlin’s virtual 2021 European Film Market, many companies feared, would be an underwhelming affair. Wrapping today, at least officially, the online event built over this week to finally give cause for much needed optimism“ (05.03.2021).

Dennis Ruh, Leiter des European Film Market, mit Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin der Berlinale

So wurde der erste digitale European Film Market ein voller Erfolg – nicht zuletzt für dessen frischgebackenen Leiter Dennis Ruh, der im Sommer den zur European Film Academy gewechselten Matthijs Wouter Knol beerbt hatte.

Und auch für das öffentliche Publikum gab es viel zu entdecken: Unter dem Titel „Dream On!“ streamte Berlinale Talents einen Großteil seiner Veranstaltungen frei zugänglich. „Decolonising Cinema“ war das zentrale Thema der öffentlichen Online-Veranstaltung des World Cinema Fund. Im eigens eingerichteten Berlinale-Studio wurden außerdem zahlreiche Interviews mit den Filmschaffenden der 2021er Edition geführt, die on-demand abgerufen werden konnten.

Filmauswahl und Preise

Auch programmatisch nahm das Virus Einfluss. Eine Schwierigkeit waren die Reisebeschränkungen, die die Sektionsleiter*innen und Programmer*innen weitestgehend zwangen in Berlin zu bleiben, statt wie gewohnt in aller Welt auf die Suche nach Filmen zu gehen. Am Ende eines ungewöhnlichen Auswahlprozesses waren zwar alle Sektionen vertreten, allerdings in reduziertem Umfang. Carlo Chatrian übernahm die Aufgabe, den Sektionsleiter*innen die schmerzhaften Einschnitte beizubringen: „I had to play the bad cop to my colleagues. From last summer, it was clear the 2021 line-up would be reduced. We then had to change our formula [to online-only] and the reduction had to be more drastic for some sections“ (im Interview mit Michael Rosser, „Screendaily“, 25.02.2021). Wobei die geringere Anzahl der Arbeiten keinen negativen Einfluss auf die Qualität hatte, im Gegenteil. Das Programm wurde national wie international durchweg als eines des stärksten der letzten Jahre gefeiert. So resümierte Jonathan Romney im „Guardian“ euphorisch: „The most impressive selection in years“ (06.03.2021). „Particulièrement riche“ (Luc Chessel, Elisabeth Franck-Dumas, „Libération“, 07.03.2021), „überzeugend“ (Tim Caspar Boehme, „taz“, 08.03.2021), „stellar“ (Jessica Kiang, „The New York Times“, 05.03.2021) – so das lobende Medienecho auf die Filmauswahl.

Gleichzeitig mit dem Resümee erfolgte die Reflektion der besonderen Situation, in der Filme gesichtet und bewertet wurden. Das Defizit, das ein reines Industry Onlineevent bedeutete, wurde von den Journalist*innen immer wieder zum Ausdruck gebracht: „Was dieser Berlinale am schmerzlichsten fehlte, das waren alle anderen: die Leute, die im Kino sitzen und stöhnen, gähnen, lachen und im Glücksfall still sind in den intensiveren Momenten. Sie geben einem Film ja erst den Hallraum und erinnern den Kinogänger immer wieder daran, dass Filme zu betrachten nicht nur das reine Schauen ist – sondern immer schon der Anfang eines Gesprächs“ schrieb Claudius Seidl am 06.03.2021 in der „FAZ“. Was fehlte, waren die Imperfektionen, die Reibungen, die Störungen des Kinosaals: „At some point, I realized: It’s no longer even the sociability of the theatrical experience that I long for; it’s simply the interference. I miss the dust in the projector beam. I miss the tiny tactile imperfections of being in a public place that remind you there’s a world outside the film and your own echo-box brain. Without them, everything is too clean“ (Jessica Kiang, „The New York Times“, 05.03.2021).

Censor von Prano Bailey-Bond

Die Welt und die Wahrnehmung waren eine andere geworden. Kontakte zur Außenwelt virtualisierten sich zunehmend und verloren ihre Stofflichkeit. Prano Bailey-Bonds Censor aus dem Panorama, in dem sich die Protagonistin mehr und mehr in den Bildwelten des B-Horrorfilms verliert, bis sie zwischen dem Virtuellen und dem physisch Präsenten nicht mehr unterschieden kann, erlangte plötzlich eine erschreckende Dringlichkeit und Aktualität.

Die im Sommer noch drängende Frage, ob es überhaupt genug Filme geben würde, um ein Programm auf die Beine zu stellen, erübrigte sich schnell. Es wurden mehr Filme als sonst eingereicht. Filme, die kurz vor dem Beginn der Pandemie noch fertig gestellt wurden und solche, die während der Pandemie entstanden. Ganz deutlich merkte man etwa Céline Sciammas Wettbewerbsbeitrag Petite Maman die Umstände der Produktion an. Der französische Film wirkt wie ein Kammerspiel, extrem reduziert im Hinblick auf die Schauplätze und Charaktere – und funktioniert dennoch wunderbar: „Making these two characters vulnerable and delicate children is an artistic masterstroke on Sciamma’s part. What a superb movie – a jewel of this year’s Berlin film festival“, schrieb Peter Bradshaw am 03.03.2021 im „Guardian“. Und Sciamma war nicht die einzige, die die Herausforderungen einer neuen Zeit annahm und ästhetisch triumphierte. Am offensichtlichsten wurde der Einfluss des Virus auf die Dreharbeiten in Radu Judes Babardeală cu bucluc sau porno balamuc (Bad Luck Banging or Loony Porn), der mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Die Figuren tragen Mund-Nasen-Schutz, das Superzeichen der neuen Zeitrechnung.

In den meisten anderen Filmen spielte Covid oberflächlich betrachtet keine große Rolle. Und dennoch war das Virus in jedem Bild präsent, weil die veränderte Wahrnehmung der Zuschauer*innen zum Schauplatz der Reflektion wurde, was Corona in den Köpfen der Gesellschaften angestellt hatte. Wie Carlo Chatrian erklärte: „Ich und meine Kollegen und Kolleginnen im Auswahlkomitee – wir hatten den Eindruck, dass es in den Filmen ein Gefühl der Unsicherheit gibt, der Beklemmung und der Angst. Ich habe mich dann gefragt, ob das wirklich in den Filmen steckt oder mehr in meinem Kopf“ (im Interview mit Susanne Burg, „Deutschlandfunk Kultur“, 13.02.2021). Besonders manifest wurde die infizierte Wahrnehmung an einem Film wie Maria Speths Langzeitstudie Herr Bachmann und seine Klasse. Der Film zeigt „nur“ den gewöhnlichen Schulalltag eines außergewöhnlichen Lehrers – und dennoch, nach Monaten der Kontaktbeschränkungen und des Home Schoolings wirkten die Bilder Dekaden entfernt, fremd, unwirklich, aus der Zeit gefallen. Maria Speth konnte mit ihrer stillen Beobachtung auch die Internationale Jury – die sich 2021 aus sechs Regisseur*innen von Goldenen-Bären-Gewinnerfilmen der Vorjahre zusammensetzte - überzeugen und wurde mit dem Silbernen Bären Preis der Jury ausgezeichnet. Ein Preis, den es bisher so nicht gegeben hatte. Nach den Enthüllungen zur Person des ersten Festivaldirektors und seinen Verstrickungen in das NS-Regime, die im Vorjahr für viel Wirbel gesorgt hatten, wurde der nach ihm benannte Silberne Bär Alfred-Bauer-Preis ab 2020 ausgesetzt und stattdessen 2021 eben jener Silberne Bär Preis der Jury neu eingeführt. Neu war 2021 auch, dass die Schauspieler*innenpreise genderneutral vergeben wurden und so die zunehmend hitzig geführten identitätspolitischen Debatten konkrete Wirkung zeigten. Beide Preise gingen an Frauen, Maren Eggert wurde für Ich bin dein Mensch von Maria Schrader mit dem Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle, Lilla Kizlinger mit dem Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle in Bence Fliegaufs Rengeteg – mindenhol látlak (Forest – I See You Everywhere) ausgezeichnet.

Wie wenig Filme sich von Reisebeschränkungen und nationalen Grenzen beeindrucken lassen, ließ sich an der geografischen Vielfalt der weiteren Gewinner ablesen: Asien war zwei Mal vertreten; mit Guzen to sozo (Wheel of Fortune and Fantasy) von Ryusuke Hamaguchi wurde ein japanischer Film mit dem Silbernen Bären Großer Preis der Jury ausgezeichnet und Inteurodeoksyeon (Introduction, Republik Korea) von Hong Sangsoo wurde mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch bedacht. Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung ging nach Mexiko, an Yibrán Asuad, den Editor von Alonso Ruizpalacios’ Una película de policías (A Cop Movie), während der Ungar Dénes Nagy für Természetes fény (Natural Light) als Bester Regisseur ausgezeichnet wurde.

Gianfranco Rosi, Ildikó Enyedi, Jasmila Žbanić und Adina Pintilie sind zwei Drittel der Internationalen Jury; Nadav Lapid und Mohammad Rasoulof sichteten die Filme jeweils zu Hause.

Verkündet wurden der Goldene und die Silbernen Bären sowie ein Großteil der weiteren Preise zum Industry Event. Die Jurys hatten die Möglichkeit bekommen, die Filme in Berlin auf der Leinwand zu sichten - für berufliche Reisen galten andere Regeln als für touristische. Die einzigen Ausnahmen waren Nadav Lapid (Synonymes, Goldener Bär 2019), der angesichts der pandemiebedingten Reisebeschränkungen leider zu spät eine Sondererlaubnis erhalten hatte, sowie Mohammad Rasoulof (Sheytan vojud nadarad, Goldener Bär 2020), dessen Reiseverbot durch die iranische Regierung weiterhin Bestand hatte. Da die Gewinner*innen im März jedoch nicht nach Berlin kommen konnten, erfuhren sie von ihrem Triumph virtuell. Ihre Freude übertrug sich dennoch, in Dankesbotschaften sowie Reaction-Shot-Videos, in denen ihnen die frohe Nachricht überbracht wurde.

Babardeală cu bucluc sau porno balamuc (Bad Luck Banging or Loony Porn) by Radu Jude

Die Juryentscheidungen stießen auf positive Resonanz, insbesondere Babardeală cu bucluc sau porno balamuc war in den Augen vieler Kritiker*innen ein würdiger Preisträger: „Immer wieder wurde bei Berlinale-Gewinnern gelobt, dass sie das politischste aller großen Filmfestivals mit ihrer Relevanz und Dringlichkeit schmücken. ‚Bad Luck Banging or Loony Porn‘ bestätigt und sprengt diese Regel, er fängt Zeitgeist ein und stellt sich gegen ihn, will nicht gefallen und ist trotzdem der größte Spaß, der seit Ewigkeiten einen Goldenen Bären gewinnen konnte“ (Hannah Pilarczyk, „Der Spiegel“, 05.03.2021).

Am Ende des Industry Events war bereits die Vorfreude auf die Verlängerung des Festivals in den Sommer hinein zu spüren. „Die Kinos und der direkte Austausch fehlten schmerzlich, doch das Programm war so stark wie seit Jahren nicht. Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass die Publikums-Berlinale im Juni auch wirklich stattfinden kann, ob Openair oder auch in Kinosälen. Sehenswerte Filme jedenfalls stehen in Hülle und Fülle bereit“, schrieb Thomas Abeltshauser im „Freitag“ (Ausgabe 10/2021). Und Andreas Busche ergänzte im „Tagesspiegel“ kurz und knapp: „Berlin darf sich auf einen tollen Kinosommer freuen“ (05.03.2021).

Regisseurin Jacqueline Lentzou beim Screening ihres Films Moon, 66 Questions am Kulturforum

Das Summer Special

Und wieder begann das Hoffen und Bangen, das unermüdliche Warten auf die Zeichen einer quantifizierten Welt des Machbaren, deren Ausdrücke sich geändert hatten: Vom R-Wert hatte sich der Fokus auf die 7-Tage-Inzidenz verlagert, die angab, wie viele Menschen sich innerhalb der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner*innen infiziert hatten. Im April führte die Regierung die sogenannte „Bundesnotbremse“ ein, um den Flickenteppich an Öffnungen und Schließungen, der über die Zeit in den verschiedenen Bundesländern entstanden war, in den Griff zu bekommen. Ab einer Inzidenz von 100 griffen verschärfte Gebote wie eine Ausgangssperre, an ein Filmfestival in physischer Form wäre dann nicht zu denken. Und wieder bewies die Festivalleitung Mut: Am 10. Mai – bei einem Inzidenzwert noch über 100 - wurde die Entscheidung verkündet, dass das Summer Special als reine Open-Air-Veranstaltung in Berlin an 16 Orten stattfinden sollte. In einem Umfeld, in dem die Filmtheater seit Monaten geschlossen waren, wollte man den Startschuss für den Neustart des Kinos und der Kultur im Allgemeinen geben: „Wir wollen damit das Kino stärken. Durch die Pandemie hat das Streaming zugenommen, die Kinos waren lange geschlossen. Da ist es uns sehr wichtig, ein Zeichen zu setzen, dass wir an die Leinwand glauben und an das Kino als Ort des Erfahrungsaustauschs“ (Mariette Rissenbeek im Interview mit Susanne Lenz, „Berliner Zeitung“, 06.10.2020). Die Standhaftigkeit und Unbeirrbarkeit der Festivalleitung in ihrem Wunsch, der Kinolandschaft ein Signal zum Aufbruch und dem Publikum die Möglichkeit des Filmgenusses auf der großen Leinwand zu geben, zeigt sich allein daran, dass diese Worte aus dem Oktober 2020 stammen. Knapp acht Monate später sollten sie nun Wirklichkeit werden. Und das Kino brauchte einen Neuanfang, denn die Pandemie hatte neben den neu hinzugekommenen Problemen auch seine bereits zuvor grassierende Krise weiter verschärft und das Ausmaß beschleunigt. Mehr und mehr gingen die großen amerikanischen Verleiher dazu über, das exklusive Auswertungsfenster der Filmtheater außer Kraft zu setzen und ihre Filme direkt zum Streamen freizugeben. Bei den Academy Awards waren 2021 erstmals und wiederum pandemiegeschuldet Arbeiten ohne Kinoauswertung zugelassen.

Die Regisseurin Maria Speth mit dem Berlinale Publikums-Preis Wettbewerb, den sie für Herr Bachmann und seine Klasse erhielt

Einen Großteil der Filmauswahl aus dem März würde das Berliner Publikum nun in den Freiluftkinos erleben können. Nur die Retrospektive „No Angels – Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard“, deren Werke vornehmlich auf traditionellem Filmmaterial vorgeführt werden müssen, wurde - bis auf einen Vorgeschmack in Form von Wesley Ruggles‘ I’m No Angel (USA 1933) mit Mae West in der Hauptrolle - auf 2022 verschoben, weil dies in den Freiluftkinos nicht möglich war. Um ein Jahr verschoben wurde auch die Ausstellung des Forum Expanded, die bereits im Mai hätte stattfinden sollen.
Als besondere Geste an das Publikum in diesem außergewöhnlichen Jahr wurde einmalig der Berlinale Publikums-Preis Wettbewerb ausgelobt, so dass die Besucher*innen ihren eigenen Favoriten aus den 15 Filmen des 2021er Wettbewerbs bestimmen konnten. Am letzten Tag des Summer Special wurde Maria Speths Herr Bachmann und seine Klasse als Gewinner gekürt – ein Film, der so intensiv ein Leben vor und ohne Corona porträtiert.

Und Berlin erwachte zu neuem Leben. Die Fallzahlen fielen langsam aber sicher in den Keller, die Straßen und Außenbereiche der Gastronomie füllten sich und spätestens mit dem Start des Ticketverkaufs wurde deutlich, wie groß der Hunger des Publikums nach neuen Filmen und dem gemeinsamen Erleben war. Die Vorstellungen waren rasend schnell ausverkauft, am Ende stand eine Auslastung von über 92%. Freilich war nichts, wie man es gewohnt war, aber das nahmen die Besucher*innen gelassen in Kauf. Möglich wurde das Summer Special nur als Pilotprojekt des Berliner Senats mit Testpflicht und einem umfassenden Schutz- und Hygienekonzept. Mindestabstände mussten eingehalten, Masken jenseits des Sitzplatzes getragen werden. Das Freiluftkino auf der Museumsinsel, das eigens für das Summer Special eingerichtet wurde, konnte mit einem pandemiebedingt einzigartigen roten Teppich aufwarten. Nur wenige Fotograf*innen und Videoteams wurden zugelassen, der Festivalbuzz war auf ein Mindestmaß reduziert. Und dennoch kamen die Filmteams – soweit Reisen wieder möglich war – zahlreich, um ihre Werke vor Publikum zu präsentieren. Am Abend der Preisverleihung waren fast alle Gewinner*innen anwesend, um ihre Auszeichnungen endlich persönlich entgegennehmen zu können. Die Open-Air-Kinos, die kleinen wie die großen, entfalteten einen ganz eigenen Charme, von der imposanten Kulisse am Kulturforum bis hin zu den Waschbären in den Rehbergen, die am Abend über den Außenzaun des Freiluftkinos kletterten um auch endlich einmal Berlinale erleben zu können.

Freiluftkino unterm Sternenhimmel

Das Wetter war bis auf vereinzelte Ausnahmen stabil und so konnten Berlin und die Besucher*innen ein Fest des Kinos unter freiem Himmel feiern, das an weit zurückliegende Berlinale-Jahre erinnerte, als das Festival noch regulär im Sommer stattfand. „Keine Partys oder Empfänge, kein Frieren im eisigen Februarwind am Potsdamer Platz, kein morgendliches Anstehen um Tickets. Stattdessen Sommerflair unterm Sternenhimmel, luftige Klamotten und Liegestühle, es wurde sogar geraucht. Die Stimmung dieser Tage war gelöst, es war eine Erleichterung zu spüren. Und es war ein wichtiges Zeichen für die Kinobranche, die sich mit Corona in der größten Krise ihrer Geschichte befindet“, fasste Thomas Abeltshauser seine Eindrücke zusammen („Freitag“, Ausgabe 24/2021). Und wie Robert Ide, als sich das Summer Special langsam dem Ende zuneigte, in seiner Glosse im „Tagesspiegel“ poetisch (v)erklärte: „Wie jetzt, schon Schluss? So hätte es immer weitergehen können. Ein Film aus Filmen liegt sanft auf der Haut der Stadt. Berlinale, ein Sommernachtstraum“ (19.06.2021).

Der Regisseur Alonso Ruizpalacios mit Carlo Chatrian, dem Künstlerischen Leiter der Berlinale, beim Summer Special.

Und dennoch. Schon am Ende des Summer Special zeichneten sich dunkle Wolken in den blauen Himmel über Berlin. Das Virus hatte sich verändert, mutierte in eine Delta-Variante, ansteckender und gefährlicher als in seiner ursprünglichen Form. Für den Herbst wurde bereits eine vierte Welle prognostiziert. Und was Covid und seine Folgen mit dem Kino gemacht hatte, würde sich erst mit der Zeit zeigen. Gleiches galt für eine Gesellschaft, die verwundet schien, ausgelaugt nach einem Jahr der Öffnungen und Schließungen, des Hoffens und Wartens. Die Arbeitswelt hatte sich im Pandemiejahr verändert, wer das Privileg hatte, arbeitete im Homeoffice, Geschäftsreisen wurden – auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit des eigenen Agierens im Angesicht eines sterbenden Planeten – durch Videokonferenzen ersetzt. Im Winter war viel über die Zukunft der Filmfestivals diskutiert worden, immer verbunden mit der Frage, ob sich hybride oder rein digitale Formate am Ende – auch ohne den Druck einer Pandemie – vielleicht durchsetzen würden. Als im Juli 2021 die Kinos wieder regulär öffnen durften, trieb die Kommentator*innen vor allem die Sorge um, ob das Publikum nach einem Jahr der Konditionierung auf das Streamen in die Kinosäle zurückkehren würde. So blieb am Ende eines außergewöhnlichen Jahrgangs viel Unsicherheit, aber auch viel Hoffnung, dass das Summer Special einen nachhaltigen Auftakt zur Rückkehr in das gemeinsame Kinoerleben bedeutete. Die Festivaldaten für 2022 wurden jedenfalls wieder auf den angestammten Februartermin gesetzt.

Die Berlinale 2021 in Zahlen
Industry Event & Summer Special

Filme    
Anzahl Filme in der Filmauswahl 170  
     
  Industry Event Summer Special
Anzahl Festivalfilme auf dem Online EFM 139  
Anzahl Filme im öffentlichen Programm des Summer Special   130
     
Screenings    
Anzahl Vorführungen beim Summer Special   194
     
Besucher*innen    
Kinobesuche beim Summer Special   60.410
Verkaufte Eintrittskarten beim Summer Special   57.962
     
Presse    
Pressevertreter*innen 1.177 447
Herkunftsländer 70 21
     
European Film Market    
Fachbesucher*innen (mit Online Market Badge) 7.999  
Herkunftsländer 131  
Anzahl Filme 821  
Anzahl Online-Screenings 1.452  
virtuelle Stände auf dem EFM 264  
Anzahl Aussteller*innen 504  
     
Berlinale Co-Production Market    
Teilnehmer*innen 593
(plus 125 Visitor Producers)
 
Herkunftsländer 64  
     
Berlinale Talents    
Teilnehmer*innen 204  
Herkunftsländer 65  
     
Jahresbudget € 21,1 Mio.  
Die Internationalen Filmfestspiele Berlin erhalten eine institutionelle Förderung in Höhe von € 10,2 Mio. von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Sie erhalten außerdem eine Förderung aus dem Programm NEUSTART KULTUR der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.

Genderevaluation 2021

Wie in den vergangenen Jahren hat die Berlinale auch 2021 eine umfangreiche Genderevaluation (2,2 MB) zum Programm und zur Zusammensetzung von Gremien und Leitungspositionen erhoben.