2013 | Hommage
Claude Lanzmann
Als Steven Spielbergs Spielfilm Schindlers Liste im März 1994 in Deutschland und Frankreich in die Kinos kam, sah Claude Lanzmann sich zu einer Reaktion veranlasst. Er wandte sich in scharfen Worten gegen den von der Kritik gefeierten und vom Publikum mit großem Interesse angenommenen Versuch, in Form einer ausschnitthaften, fiktionalisierenden, pietätvoll gerahmten Erzählung die Judenvernichtung darzustellen. „Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist. Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist.“
Lanzmanns Verdikt, das weit über den Einzelfall von Spielbergs Film hinausreicht, entsprach der Position, die er mit seinem eigenen Dokumentarfilm Shoah (1985, 1. Teil, 2. Teil) in diesem Zusammenhang längst formuliert hatte. Ein Werk der indirekten Repräsentation, in dem Überlebende über Ermordete sprechen, in dem harmlos wirkende Landschaften für die historischen „Bloodlands“ (Timothy Snyder) einstehen, in dem ein „absolutes Maß an Greueln“ durch eine absolute „Aussparung“ (Gertrud Koch) evoziert wird: Lanzmann verzichtet vollständig auf vermeintlich dokumentarische Aufnahmen der Vernichtung und zieht so „die Grenze zwischen ästhetisch, menschlich Vorstellbarem und dem unvorstellbaren Ausmaß der Vernichtung“ (Koch). Mit einer aus der Unvorstellbarkeit resultierenden Politik der Undarstellbarkeit trug Lanzmann einen gewichtigen Teil zu der „Sakralisierung des Holocaust“ (Peter Novick) bei.
Das Riesenwerk Shoah hat sich seither allerdings, trotz seiner unumstrittenen Bedeutung, in gewisser Weise als unabschließbar erwiesen. Nicht nur hat Lanzmann mit Sobibor, 14. Oktober, 16 Uhr (2001) einen kürzeren Film über die „Wiederaneignung der Kraft und Gewalt durch die Juden“ ergänzt. Dieser Film über den erfolgreichen Aufstand in dem deutschen Vernichtungslager hat in der geschichtspolitischen Logik das gleiche Gewicht wie der deutlich längere Film über die Vernichtung. Zunehmend wurden und werden auch weitere Komplexe aus dem unveröffentlichten Material zugänglich, so hat Lanzmann ein Kapitel über Jan Karski „ausgekoppelt“, sein Film Un Vivant qui Passe (Ein Lebender geht vorbei, 1997) gehört im weiteren Sinn ebenfalls zum Shoa-Komplex, und auch die Aufnahmen mit dem umstrittenen Judenältesten in Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, sind inzwischen in Teilen zugänglich und sollen nunmehr die Grundlage für Lanzmanns nächsten Film Der Letzte der Ungerechten bilden. Shoah hat also gegenüber den vielen Formen der Geschichtsaufarbeitung eine autoritative Position als Dokument, Mahnmal, Instanz.
Umgekehrt erweist sich Lanzmanns Hauptwerk in sich als durchaus offen für Differenzierungen, Ergänzungen, Reflexionen. Als Zeuge und Weltbürger des 20. Jahrhunderts stellt Claude Lanzmann auch persönlich mehr dar als nur einen Autor dokumentarischer Arbeiten zu entscheidenden Geschehnissen. Er verkörpert selbst die Dramatik der Gefährdung der Juden und (in seinem Falle) des Überlebens. Als Sohn aus einer arrangierten Verbindung zweier tief in Osteuropa verwurzelter Familien französischer Juden wurde er selbst zum Opfer des Antisemitismus und der Verfolgung, wandte sich aber früh den (kommunistischen) Widerstandsbewegungen zu und bekämpfte die deutschen Besatzer. In Paris wurde er in den Nachkriegsjahren zu einem wichtigen Teil der intellektuellen Szene: als Lebensgefährte von Simone de Beauvoir und Freund von Jean-Paul Sartre knüpfte er wichtige Verbindungen. Mit dem Philosophen Gilles Deleuze brach er, nachdem dieser seine Schwester verlassen hatte. Als Journalist für „Elle“ und als Chefredakteur der Zeitschrift „Les Temps Modernes“ bewies Lanzmann eine vielfache, flexible Begabung.
Als Reporter kam er in den frühen fünfziger Jahren zum ersten Mal nach Israel und fand dort sein Lebensthema. Obwohl oder gerade weil er von sich selbst sagen muss, dass er „außerhalb jeder Religion und Tradition, außerhalb jeder im eigentlichen Sinne jüdischen Kultur (...) erzogen“ worden war, wurde er aufgrund seiner Erfahrungen und Nachforschungen zu einer der wichtigsten Stimmen des Nachkriegsjudentums. Die aus seiner gefeierten Autobiografie „Der patagonische Hase“ deutlich hervorgehende lebenslange Beschäftigung mit Formen und Erfahrungen des Muts und der Feigheit ist immer wieder auch Thema seiner filmischen Arbeiten.
Als emphatischer Zionist trat er für das Existenzrecht Israels als souveräner Staat ein: Pourquoi Israël (Warum Israel, 1973) und Tsahal (1994) sind Dokumente dieser intensiven Anteilnahme an der Entstehung und Durchsetzung jüdischer Staatlichkeit auf dem Territorium des historischen Palästina. Dass er gerade mit diesen Filmen Angriffe auf sich gezogen hat, war unvermeidlich. Er idealisiere die israelische Armee in Tsahal. Ihm wurde vorgeworfen, er hätte den Libanonkrieg von 1982 ignoriert und die Realitäten der Okkupation nur gestreift. Diese „realpolitischen“ Vorwürfe unterschätzen das prinzipielle Element von Lanzmanns dokumentarischer Arbeit. Die Geschichte des Aufstands in dem Vernichtungslager Sobibor 1943 rückte Lanzmann erst spät eigens in den Blick, sie kann aber in der Legitimierungslogik seines Werkes als Gründungsmotiv für den wehrhaften Staat Israel gelten, an dessen konkreter Politik Lanzmann selten ausdrücklich Kritik übt. Die schwierige Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus wurde in Deutschland etwa anlässlich einer Vorführung von Tsahal in Hamburg sinnfällig, die von Protesten überschattet wurde, und anlässlich derer Lanzmann die Kritiker als „Antisemiten“ bezeichnete.
Als Lanzmann anlässlich eines öffentlichen Gesprächs in New York im Jahr 2012 gebeten wurde, sein Leben in sieben Begriffen selbst zu charakterisieren, wählte er die folgenden: Jude, Spur, Furcht, Tod, Leben, Ehre, Liebe. Mit seinem Werk schuf er einen Flammenkreis um den Staat Israel, vor allem aber um ein historisches Geschehen, dessen Undarstellbarkeit wesentlich im Dienst der Abwehr jeglicher Wiederholbarkeit steht.
Bert Rebhandl