2016 | Retrospektive
„Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“
Die Retrospektive 2016 widmet sich dem Jahr 1966. Damals herrscht Aufbruchstimmung im deutschen Film: Eine junge Generation von Filmemachern in West und Ost richtet einen unverstellten Blick auf die Gegenwart und hinterfragt gesellschaftliche Entwicklungen. Doch während der Junge deutsche Film Erfolge feiert, werden in der DDR infolge des 11. Plenums des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) rund die Hälfte aller Filme verboten, die 1966 in die Kinos hätten kommen sollen. Die filmischen Perspektiven sind fortan völlig andere. Wie viel die Filme aus Ost und West damals gemein hatten, lässt sich heute in der retrospektiven Zusammenschau des Filmjahres 1966 entdecken, so Rainer Rother im Interview.
Können Sie zu Beginn den historischen Rahmen der diesjährigen Retrospektive skizzieren? Und wie stellt sich die Situation im geteilten Deutschland Mitte der 1960er Jahre für die Filmschaffenden dar?
Diese beiden Entwicklungen sind zunächst einmal getrennt voneinander zu betrachten. Künstlerisch wurden sowohl in Ost- als auch in Westeuropa in den 1960er Jahren neue Wege beschritten: in Frankreich durch die Filmemacher der Nouvelle Vague, die einen großen Einfluss auf das westdeutsche Kino hatten, in Osteuropa durch Regisseure wie Andrzej Wajda und Roman Polanski in Polen oder Miloš Forman in der Tschechoslowakei, deren frühe Filme den „Neuen Wellen“ zuzurechnen sind. Auf diese Impulse zur Erneuerung der filmischen Artikulation reagierten Filmemacher in Ost und West auf ihre jeweils eigene Weise. In der Bundesrepublik mit der Distanzierung vom konventionellen Erzählkino, wie sie im Oberhausener Manifest von 1962 zum Ausdruck kam. In einer Umfrage der Filmwissenschaftlichen Mitteilungen gaben 1965 viele DEFA-Regisseure und Autoren ihre Faszination für die „Neuen Wellen“ Osteuropas zu erkennen. Und ein Film wie Konrad Wolfs Der geteilte Himmel (DDR 1964) knüpfte eben daran mit großer Virtuosität an.
Politisch prägte der Bau der Mauer 1961 die Vorgeschichte. Die Illusion, nun die Probleme des eigenen Landes ungeschminkt thematisieren zu können, zerstob jedoch schnell. Mit dem 11. Plenum des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Dezember 1965 wurde deutlich, dass Reformen innerhalb des Systems nicht möglich waren und authentische Gegenwartsfilme künftig keine Chance mehr haben würden.
Doch bevor das Jahr 1966 zu einem Wendepunkt werden sollte, einte eine Aufbruchstimmung die Filmschaffenden in West und Ost und es gab viele künstlerische Gemeinsamkeiten ...
Der parallele Aufbruch zu Neuem war den Zeitgenossen so natürlich nicht bewusst. Er lässt sich nur noch in der retrospektiven Zusammenschau des Filmjahres 1966 entdecken. Denn einerseits war die Kenntnis des Filmschaffens im jeweils anderen Teil Deutschlands aufgrund der Importpolitik in Ost und West sehr gering. Andererseits blieb der Aufbruch im Filmschaffen der DDR sogar für das eigene Kinopublikum unsichtbar, da diese Filme verboten wurden und bis 1990 nicht zu sehen waren.
Hinwendung zur Gegenwart
Was ist das Neue im Filmschaffen in Ost und West?
Die überwiegende Mehrheit der Filme verhandelt Gegenwartsstoffe, was sich wiederum deutlich in der Filmsprache zeigt. So wird in beiden Teilen Deutschlands Fiktionales und Dokumentarisches durch ein sehr genaues Beobachten der Figuren und die Fokussierung auf den Moment miteinander verwoben. In Jahrgang 45 (Jürgen Böttcher, DDR 1966/1990) steigen westdeutsche Touristen aus einem Bus aus und machen Fotos. Eine gefundene Szene, die Böttcher geschickt in seine Spielfilmhandlung auf dem Ostberliner Gendarmenmarkt einbaute, so dass es wirkt, als würden sich seine Protagonisten und die Touristen gegenseitig beobachten.
Und ganz allgemein werden sowohl die DEFA-Produktionen als auch die Autorenfilme von kleinen unabhängigen Produktionsgesellschaften im Westen nicht mehr ausschließlich im Studio gedreht, sondern „on location“.
Mit dem Dreh „on location“ geht auch eine neue Aufmerksamkeit für die Umgebung einher, insbesondere für die noch vom Krieg gezeichneten Städte. Berlin ist hüben wie drüben ein wichtiger Spielort: In Es (Ulrich Schamoni, BR Deutschland 1966) versuchen Immobilienmakler Grundstücke als lohnende Geldanlage an Westdeutsche zu verkaufen. Playgirl (Will Tremper, BR Deutschland 1966) ist eine Tour durch West-Berlin mit seiner Architektur der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, schick und absolut nicht heruntergekommen. In Fräulein Schmetterling (Kurt Barthel, DDR 1965–66/Deutschland 2005) werden die Neubauten an der Karl-Marx-Allee, der ehemaligen Stalinallee, als Sinnbild der Moderne mit einem bröckelnden Altbauviertel kontrastiert, und in Jahrgang 45 dunkle Hinterhöfe im Stadtzentrum mit halbfertigen Hochhäusern an der Peripherie.
Bemerkenswert ist auch das freie Spiel der Darsteller. Viele der Filmemacher hatten den Mut, mit unbekannten Darstellern oder gar Laien zu arbeiten. Und so ist die Hinwendung zur Gegenwart eine durchaus facettenreiche.
Rebellen und Drifter
Wie lassen sich die Filmfiguren charakterisieren? Äußert sich der Gegenwartsbezug in einer kämpferischen Haltung, einem hoffnungsvollen Tenor, oder ist die Stimmung eher resignativ?
In den DEFA-Filmen sind die Figuren insofern kämpferischer, als sie das Erstarrte der Gesellschaft aufbrechen wollen, ohne sich grundsätzlich vom Sozialismus abzuwenden. Da ist der rebellische Brigadier Balla alias Manfred Krug in Spur der Steine (Frank Beyer, DDR 1965/66), die von Dieter Mann gespielte Figur des Olaf in Berlin um die Ecke (Gerhard Klein, DDR 1965–66/1987 und 1990) oder Karla, gespielt von Jutta Hoffmann, im gleichnamigen Film von Herrmann Zschoche (DDR 1965/66) – Figuren, die Missstände klar benennen und sie beheben wollen. Natürlich stoßen sie dabei auf Widerstände aus ihrem Umfeld: Familie, Kollegen, Betriebskader. Doch anders als im Westen werden in den DEFA-Filmen Lösungsmöglichkeit aufgezeigt.
In den westdeutschen Filmen ist das Aufbegehren viel weniger konkret. In Klammer auf Klammer zu (Hellmuth Costard, Bundesrepublik Deutschland 1966) will ein junger Mann, gespielt von Klaus Wyborny, nach den Bundestagswahlen von 1965 das Land verlassen, kehrt aber schon bald nach Hamburg zurück. In Der sanfte Lauf von Haro Senft (BR Deutschland 1966) kämpft Bernhard, gespielt von Bruno Ganz, mit seinen inneren Widerständen, geht dann aber Kompromisse ein und ergreift die Chance, Karriere zu machen. Und so ist vielen dieser Figuren etwas Ungewisses zu eigen.
Drifter, die sich einfach treiben lassen, hätte man im ostdeutschen Film nicht unbedingt erwartet, und doch gibt es diese Figur auch in den DEFA-Produktionen, so in dem bereits erwähnten Jahrgang 45 oder in dem Kurzfilm Die Verantwortung von Kurt Tetzlaff (DDR 1966).
Kündigt sich in den Filmen aus dem Westen denn schon die Revolte von 1968 an?
In den Filmen von 1966 kommt ein ganz eigener Zustand zum Ausdruck: Die Protagonisten befinden sich in der Schwebe und arrangieren sich mit Situationen, was nicht heißt, dass sie sie bejahen. Erst in den Jahren darauf sollten sich dann die Generationskonflikte verschärfen. Man merkt das übrigens auch an der Musik. Der Jazz ist in vielen Filmen der Retrospektive Ausdruck einer Kultur, deren intellektuelle Prägung sich vom rebellischen Gestus der Rockmusik unterscheidet. Die große gesellschaftliche Zäsur der 1968er Revolte ist noch nicht vollzogen.
Frauen und Paare
Verlaufen die Konfliktlinien nur zwischen Individuum und Gesellschaft? Wie verhält es sich mit Paarbeziehungen?
Im Verhältnis der Geschlechter herrscht Verunsicherung, selten sind sie durch Ehe oder in Treue miteinander verbunden. Die Frauenfiguren sind in dieser Hinsicht besonders interessant, in West wie in Ost. Es von Ulrich Schamoni beispielsweise handelt nicht nur von einem unverheirateten Paar mit seinen Problemen. Im Mittelpunkt steht vor allem Hilke als Frau, die mit ihrem Freund nicht über ihre Schwangerschaft sprechen kann und notgedrungen alleine eine Entscheidung trifft. Und in der DEFA-Produktion Karla von Herrmann Zschoche beweist die Titelheldin nicht nur in der „nicht legitimen“ Liebe zu dem ehemaligen Journalisten Kaspar Charakter, sondern auch im Konflikt mit dem Lehrerkollektiv, denn sie will ihre Schüler zu mündigen Menschen erziehen.
In den meisten DEFA-Filmen sind berufstätige Frauen übrigens eine Selbstverständlichkeit, anders als im Westen. Doch es eint sie die Frage nach dem persönlichen Glück.
Planwirtschaft und Wirtschaftswunder
Welche Rolle spielt Arbeit denn in gesellschaftlicher Hinsicht?
Seit 1963 war durch den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ eingeführt worden. Einzelnen Betrieben sollten mehr Entscheidungsspielräume eingeräumt werden, um das starre System der Planwirtschaft zu reformieren und die ostdeutsche Wirtschaft international konkurrenzfähiger zu machen. Größere Spielräume erhofften sich auch die Künstler in der DDR. Doch das 11. Plenum, auf dem ja beispielsweise auch Wolf Biermann an den Pranger gestellt wurde, beendete diese Hoffnung.
In der Folge führte gerade die Darstellung von Problemen im Produktionsalltag wie in Berlin um die Ecke oder von den Härten der Arbeit wie in dem Kurz-Dokumentarfilm Es genügt nicht 18 zu sein (Kurt Tetzlaff, DDR 1964–1966/1990) zum Verbot. Gesellschaftliche Missstände wollte die Partei nicht wahrhaben und schon gar nicht kritisch hinterfragen, denn offiziell galten sie als bereits „gelöst“.
Im Westen wurde das beständige Wirtschaftswachstum 1966/67 durch eine erste Rezession unterbrochen. Dies löste einen Realitätsschock aus, der auch in jenen Filmen anklingt, die den wirtschaftlichen Profit als alleinseligmachend in Frage stellen, etwa Peter Schamonis Debütfilm Schonzeit für Füchse (BR Deutschland 1965/66) oder Der sanfte Lauf.
Stichwort „Filmerbe“. Mit welchen Highlights kann die Retrospektive in diesem Jahr aufwarten?
Für vier Aufführungen steuert die Deutsche Hörfilm im Rahmen ihres Projektes „Barrierefreies Filmerbe für Blinde“ Audiodeskription bei, unterstützt von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Und wir freuen uns, neu kopierte oder digitalisierte Filme präsentieren zu können. Die Retrospektive-Filme von Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff und Peter Schamoni werden in digitaler Fassung aufgeführt. Christian Rischerts Kopfstand, Madam! (BR Deutschland 1966/67) wurde anlässlich der Berlinale von der Deutschen Kinemathek in Kooperation mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv neu kopiert. Neben diesen Klassikern des Jungen deutschen Films präsentiert die Retrospektive auch nahezu unbekannte Werke wie den Kurz-Dokumentarfilm Berlin Klammer auf Ost Klammer zu (BR Deutschland 1966) der Westberliner Filmemacher Fritz Illing und Werner Klett, die im Ostteil der geteilten Stadt filmten, oder den Kurzfilm Die Koffer des Felix Lumpach (BR Deutschland 1966, Regie: Gerd Winkler). Das Publikum kann also wahre Raritäten für sich entdecken.