2016 | Forum Expanded
Die Magie des Phantasmas
„Traversing the Phantasm“ lautet das Thema des 11. Forum Expanded. Im Interview sprechen die Leiterin der Sektion Stefanie Schulte Strathaus und Mitkurator Ulrich Ziemons über die kreativen Kräfte des Durcharbeitens, narrative Terroristen und ein Kinoerlebnis ganz ohne Bilder.
„Traversing the Phantasm“ lautet der Titel der Gruppenausstellung und das Thema dieses Jahres. Was hat Euch auf den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan gebracht?
SSS: Nach dem zehnjährigen Jubiläum letztes Jahr haben wir über Forum Expanded nachgedacht und festgestellt, dass die Öffnung, das Hineinholen von etwas Neuem ein zentrales Moment ist – sei es die Bildende Kunst in ein Filmfestival, d.h. nicht nur installative Arbeiten sondern auch neue Diskurse und Perspektiven, oder Filme aus Regionen der Welt, die nicht dem westlich geprägten Experimentalfilmverständnis entsprechen. Wir wollen, dass die Arbeiten uns in dem institutionellen Rahmen, in dem wir uns bewegen, nachhaltig verändern. So kamen wir auf Lacan und den Phantasmabegriff, der sowohl das Imaginäre, als auch das Reale umfasst. Das Phantasma ist nicht greifbar, man kann sich nur hindurcharbeiten, um woanders herauszukommen.
Mit diesem Blick haben wir begonnen, die Arbeiten zu sehen, uns durch sie durchzuarbeiten. So verfahren wir häufig. Wir finden ein Thema, das den roten Faden unserer Diskussionen bei der Auswahl bildet. Die Arbeiten im diesjährigen Programm haben sehr individuelle Ausdrucksformen, Recherchetools und ästhetische Formen gefunden, um wiederum ihr jeweiliges Thema im Lacanschen Sinne durchzuarbeiten. Das steckt hinter dem Titel „Traversing the Phantasma“: Die Einladung, sich für den jeweiligen Moment zu öffnen, in Wahrnehmungs- und Denkprozesse einzutauchen und Veränderung zuzulassen, jenseits von Repräsentation und Gleichschaltung der Ansprüche an die Kunst. Das halte ich für einen Akt der Befreiung für den Zuschauer. Die Filmemacher und Künstler nutzen das in ihren Arbeiten.
Inwieweit setzt sich Anton Vidokles The Communist Revolution Was Caused By The Sun mit Phantasmen auseinander?
UZ: Wir haben letztes Jahr schon einen Film von Anton Vidokle gezeigt. Er setzt sich im Moment mit dem russischen Kosmismus auseinander. Ein Vertreter dieser Denkrichtung, der sich mit der Auswirkung von Sonnenaktivitäten auf das Handeln der Menschen beschäftigt, steht im Zentrum seines neuen Films. Es ist ein unglaubliches technisches Gerät zu sehen, das wie eine Parabolantenne wirkt. Es wurde entwickelt, um die Sonnenstrahlung aufzufangen und nutzbar zu machen. Da geht es natürlich auch um Unsichtbarkeiten und Phantasmen. Welche Kräfte wirken und beeinflussen den Kosmos, wie steht das in Korrelation zu Kriegen und Hungersnöten?
In geopolitischer Hinsicht ist ein Phantasma, das aktuell eine starke Wiederbelebung erfährt, der Nationalstaat. Spürt man das in den Arbeiten 2016?
SSS: Viele Arbeiten setzen sich sehr intensiv damit auseinander. James T. Hong macht es in Terra Nullius or: How to be a Nationalist explizit zum Thema. Es geht um Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer, die sowohl von Japan, Taiwan als auch China beansprucht werden. Der Konflikt ist uralt und reduziert sich mittlerweile auf rein nationalstaatliche Attitüden, deshalb gibt es keine sinnvolle Argumentation mehr.
Deborah Stratmann arbeitet sich in The Illinois Parables durch die Historie des US-Bundesstaates und greift in elf Parabeln Momente der lokalen Geschichte heraus, um die nationalstaatlich begründeten Phantasmen zu durchleuchten und ad absurdum zu führen.
UZ: Die Auseinandersetzungen mit Ideologie und Mythologie gehen in die verschiedensten Richtungen. Einige Arbeiten verfolgen den Komplex historisch. Zum Beispiel Abu Ammar is Coming, Naeem Mohaiemens Arbeit über die Solidaritätsbeziehungen zwischen Freiheitskämpfern aus Bangladesch und der PLO. Es gibt die Legende, dass Kämpfer aus Bangladesch im Libanon an der Seite der PLO gekämpft haben. Anhand eines Fotos versucht Mohaiemen den Wahrheitsgehalt dieser Legende zu bestimmen.
Bunker Drama von Mike Crane zeigt das Sich-Abarbeiten an der eigenen nationalen Geschichte. In Litauen führt ein Schauspieler in einem ehemaligen sowjetischen Bunker Geschichtsshows auf. Unter anderem werden dort mit EU-Förderung arbeitslose Jugendliche hingeschickt. Sie durchlaufen ein nachgestelltes sowjetisches Militärtraining, um sie für den Arbeitsmarkt fit zu machen - einen schreienden Rote-Armee-General und ein stark gefärbtes Bild der Sowjetzeit inklusive.
Als Nationalstaat hat Ägypten in den letzten Jahren viel durchgemacht. Findet man Spuren der politischen Umbrüche in den programmierten ägyptischen Filmen?
SSS: Von vier ägyptischen Filmen im Programm beziehen sich drei explizit auf die ägyptische Film- und Mediengeschichte. Sie sind experimenteller und persönlicher geworden, sie beschäftigen sich eher mittelbar mit der Lage in ihrem Land. Sie sind Ausdruck einer Zuwendung zur eigenen Subjektivität. Gleichzeitig scheinen in ihnen durchaus die Erfahrungen der letzten Jahre auf, weil jeder Lebensbereich durchdrungen ist von Politik. Die Künstler wollen sich positionieren und andere Wege, eine eigene visuelle Sprache finden.
Ich werde geworden sein
Um noch einmal auf Lacan zurückzukommen: Das Futur Antérieur taucht in der Filmtheorie der 1970er Jahre vermehrt auf. Lassen sich mit dieser Form der in der Zukunft vollendeten Gegenwart auch heute noch Filme beschreiben?
SSS: Wir haben 2016 viel Science-Fiction, die in der maximalen Entfernung von der Gegenwart wesentlich mehr über das Heute als über die Zukunft aussagt. In the Future They Ate from the Finest Porcelain von Larissa Sansour und Soren Lind weitet die Form des Futur Antérieur noch aus, indem aus der Zukunft heraus für Archäologen eine fiktive Geschichte konstruiert wird. Aus dem Morgen wird ins Gestern agiert.
UZ: Damit die Gegenwart in der Zukunft eine andere Vergangenheit geworden sein wird. Im Zentrum des Films steht eine Figur, die sich „narrative Terroristin“ nennt. Sie vergräbt Porzellan in der Hoffnung, dass es in der Zukunft von Archäologen gefunden wird, die dann Mutmaßungen anstellen werden über unsere Gegenwart. Sie versucht über die Spekulationen, die in der Zukunft stattfinden werden, die Gegenwart zu verändern. Die computeranimierten Raumschiffe stehen in Landschaften, in die auch Archivfotos projiziert werden. So finden sich die unterschiedlichsten Zeitebenen, sowohl im Bild als auch in dem, was verhandelt wird.
SSS: Obwohl die Raumschiffe Science-Fiction sind, sehen sie absolut altmodisch aus. Die Fantasien sind schon so lange in uns, dass sie Nostalgie auslösen. Das ist auch eine Form des Durcharbeitens von Phantasmen.
Die Zukunft des Archivs
Auch 2016 thematisiert Ihr ausgiebig das Archiv. Wie ist Euer Zeitverständnis des Archivs?
SSS: Im Titel „Visionary Archives 2“, unter dem die Veranstaltungen zum Archiv im Programm versammelt sind, kommt unser Zeitverständnis exakt zum Ausdruck. Ein Archiv ist zunächst mit Geschichte und Vergangenheit assoziiert, „Visionary“ hingegen ist in die Zukunft gerichtet. Das ist unser generelles Archivverständnis: die Archivpraxis ist immer eine Projektion in die Gegenwart oder die Zukunft.
In unserer kuratorischen Arbeit sind uns immer mehr Projekte begegnet, die sich mit behaupteten oder gefundenen Archiven beschäftigen, also Archiven, die noch nie als solche deklariert wurden. An ihnen lässt sich das visionäre und phantasmatische Wesen jedes Archivs noch besser erkennen.
Ein Beispiel ist Nigeria, wo 300 Film- und Tonrollen unter sehr schlechten Bedingungen gelagert und jetzt wiederentdeckt wurden. Das British Film Institute hatte zu Kolonialzeiten ein Kopierwerk errichtet und Kameras zur Verfügung gestellt, um Dokumentarfilme zu realisieren. Einen Teil des entstandenen Materials haben die Engländer in Nigeria gelassen, bzw. es ist erst nach ihrem Weggang entstanden, weil sie die Ausrüstung und das Kopierwerk zurückgelassen haben. Diese Filme sind komplett unbekannt und die Kopien in einem Zustand nahe der Auflösung. Das ist tragisch, weil es kaum Bildmaterial aus der Geschichte des Landes gibt. Wir werden dieses Archiv präsentieren, ohne bis dato irgendetwas zeigen zu können – es geht um die Präsentation der Abwesenheit und darum, während der Veranstaltung „Reclaiming History, Unveiling Memory“ zu diskutieren, was diese Lücke in der Erinnerung bedeutet.
UZ: Das gefundene historische Material hat immer auch einen Mehrwert. Mit „VHS Cyprus: A lost history“ stellen wir ein VHS-Archiv aus Filmen vor, die in den 1980er Jahren in Zypern auf Video für den lokalen Markt produziert wurden. Diese Filme wurden von Zyprioten in allen Teilen der Welt seht intensiv rezipiert. Eben weil das verfügbare Bilder aus der Heimat waren. Der Wert lag weniger in den erzählten Geschichten als in den Orten, an denen gedreht wurde und die wiedererkannt wurden.
Nimmt die jeweilige Materialität des Mediums Einfluss auf die Form der Erinnerung? Etwa in Zakerat Abad El Shams (A Stroll Down Sunflower Lane) von Mayye Zayed?
SSS: In diesem Fall geht es tatsächlich um Mediengeschichte, um die Kamera, den Unterschied zwischen VHS- und Super-8-Material und die Verbindung zur offiziellen Mediengeschichte - zum Fernsehen, zur Musik. Die Praktiken des Mediengebrauchs einzelner und durch den Staat werden in ein Verhältnis zueinander gesetzt.
UZ: Die Figur des Großvaters in diesem Film hat die Obsession, alles festzuhalten. Die Filmemacherin selbst besitzt jedoch kein einziges Bild von ihrem Großvater, weil er immer hinter der Kamera stand. Zakerat Abad El Shams ist der Versuch, diese Erinnerung bildlich zu produzieren, d.h. zu konstruieren, ehe sie verschwindet. Mit seinen Techniken verweist der Film auf einen historischen Moment, der vor der Produktion der Bilder liegt.
Flucht Ursachen
Einer der Filme im diesjährigen Programm beschäftigt sich explizit mit der Situation von Flüchtlingen: Now: End of Season von Ayman Nahle. Kommt das Thema auch in anderen Arbeiten zum Ausdruck?
SSS: Die Länge von Now: End of Season ist bemessen durch ein erfolgloses Telefonat, dass der frühere syrische Staatspräsident Hafiz al-Assad mit Ronald Reagan führen will. Am Anfang sprechen ihre Mitarbeiter miteinander. Als die US-Seite ankündigt, Reagan wäre gleich von seinem Ausritt zurück und bereit zu sprechen, kommt Assad ans Telefon. Doch Reagan erscheint nicht, das Telefonat kommt nicht zustande. Zu sehen ist während des Telefonats die heutige Flüchtlingssituation in Istanbul, die hauptsächlich aus Warten besteht.
Zurückzugehen in die Geschichte und z.B. Machtverhältnisse zwischen dem kapitalistischen Westen und der Region zu analysieren, hilft, Fluchtursachen besser zu begreifen. Wir haben sehr viele starke Filme im Forum, die sich ganz im Sinne des Durcharbeitens von Phantasmen in der Wahl ihrer jeweiligen ästhetischen Form dem Thema anders widmen als durch Repräsentation. Im Forum Expanded ist das Thema weniger explizit zu finden, allerdings sehe ich fast keine Arbeit im diesjährigen Programm, die davon zu trennen wäre. Die Fluchtbewegungen sind ein Symptom einer sehr komplexen Weltlage, in der wir uns befinden, einer geopolitischen Verstrickung, die sehr viele Zugänge, Geschichten und Ursachen aufweist. Hier würde ich das Programm des Forum Expanded eher ansiedeln.
Was ist die ungewöhnlichste Arbeit in diesem Jahr?
SSS: Wir haben eine Arbeit ohne Bilder: die Installation Pssst Leopard 2A7+. Der Kampfpanzer wird von Deutschland nach Katar exportiert. Natascha Sadr Haghighian hat in Echtgröße eine entmilitarisierte Version gebaut, auf der es eine aus Lego gebaute Fläche gibt. In der Mitte der Fläche, im Durchmesser des Geschützes, sind kreisförmig Eingangsbuchsen für Kopfhörer angebracht. An jeder Stelle gibt es etwas anderes zu hören - Politiker, Nachrichtenmedien, und vor allem für das Projekt entstandene Soundarbeiten anderer Künstler. Als wir im Kuratorenteam die Arbeit diskutierten, hat niemand die Frage nach den fehlenden Bildern aufgeworfen. Jedem war klar, dass das Kino ist. Pssst Leopard 2A7+ zeigt sehr deutlich, dass sich manche Dinge nicht visualisieren lassen. Und trotzdem ist es Kino – Kino im Kopf.
Nach 2013 nutzt ihr das silent green erneut. Was erwartet die Besucher?
SSS: Im silent green ist seit November das Filmarchiv des Arsenal - Institut für Film und Videokunst untergebracht. Wir haben im Vorfeld eine Liste mit analogen Filmen aus dem Archiv erstellt, die in Beziehung zu den aktuellen Produktionen im Forum und Forum Expanded stehen. Während der Berlinale können diese Arbeiten an Schneidetischen gesichtet werden. Auch hier geht es darum zu zeigen, welche Relevanz ein Archiv für die Gegenwart besitzt. In der künftigen 800m² großen Ausstellungshalle zeigen wir auf einer zwischen Säulen aufgespannten Leinwand Xénogénèse von Akihiko Morishita, eine Arbeit aus dem Forumsjahr 1984. Der Künstler ist selbst als junger Mann zu sehen, der im Kreis läuft. Immer mehr Laufstreifen kommen ins Bild und es wirkt, als würde Morishita hinter ihnen verschwinden. Ein sehr magisches Kinoerlebnis. Vielleicht ist die Magie aber auch ein Phantasma.