2016 | Forum
Globale Bewegungen
Flucht und Vertreibung sind eines der Schwerpunktthemen im Forum 2016. Im Interview spricht Sektionsleiter Christoph Terhechte außerdem über individuelle Glückssucher, das chinesische Genrekino, moderne Formen der Sklaverei und die Punkjahre des japanischen Films.
Mit Blick auf das Programm entsteht der Eindruck, die Flüchtlingsthematik sei im Forum am stärksten angekommen bei der 66. Berlinale. Ist das richtig?
Es gibt tatsächlich eine Menge Filme zum Thema. Alles Arbeiten, die schon vor längerer Zeit angedacht oder auch realisiert wurden und die sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Arten von Bilder man finden kann, welche Herangehensweisen an und Perspektiven auf das Thema es gibt. Die Filme im diesjährigen Programm des Forums finden sehr unterschiedliche Antworten.
Ein Film, der sich unmittelbar mit dem Thema beschäftigt ist Havarie. Wodurch zeichnet sich Philip Scheffners Arbeit aus?
Havarie verzichtet auf eine Bebilderung. Philip Scheffners Recherchen kreisten um einen gefundenen dreiminütigen Videoclip, der ein Schlauchboot zeigt, das manövrierunfähig im Mittelmeer treibt. Die Ergebnisse dieser akribischen Recherche sind auf der Tonebene zu hören – die Insassen des Bootes, die Besatzung des Kreuzfahrtschiffes, von dem aus ein Tourist den Clip aufgenommen hat usw. Der Film gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, die Aussagen mit eigenen Imaginationen zu füllen und zwingt ihn nicht, ein vorgegebenes Bild zu akzeptieren - so besteht die Chance, selbst zu denken. Viele dokumentarische oder hybride Arbeiten im Programm arbeiten mit einer solchen Entkopplung von Bild und Ton. Der Text wird nicht missbraucht, um Bilder zu erklären und Bilder werden nicht missbraucht, um Texte zu illustrieren, sondern beide Ebenen besitzen eine Eigenständigkeit.
Philip Scheffner hat einen zweiten Film im diesjährigen Programm, der sich ebenfalls mit der Flüchtlingsthematik beschäftigt. And-Ek Ghes… knüpft an Revision (Forum 2012) an: Die Roma-Familie Velcu ist in Deutschland angekommen. Scheffner gibt einen Teil der Kontrolle des Filmemachers ab - was sich als inszenatorische Praxis ebenfalls in vielen Filmen des Programms findet – indem er Colorado Velcu zum Co-Regisseur macht. Als Teil des Sujets filmt und inszeniert Velcu selbst, was mit seiner Familie in Deutschland geschieht. Das ist sehr humorvoll und unterhaltsam. Diese Technik - Kontrolle abzugeben, um zu gewinnen – nutzen auch Moritz Siebert und Estephan Wagner in Les Sauteurs (Those Who Jump). Ihr Co-Regisseur Abou Bakar Sidibé ist ein malischer Flüchtling, der im Norden Marokkos vor der gigantischen Grenzbefestigungsanlage der spanischen Enklave Melilla ausharrt und hofft, die Zäune zu überwinden. Er bringt diesem Film Bilder bei, die die europäischen Regisseure gar nicht hätten finden können.
Die Flüchtlingsthematik im Programm ist global gestreut. Tales of Two Who Dreamt von Nicolás Pereda und Andrea Bussmann und Manazil bela abwab (Houses without Doors) zeigen ebenfalls Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen…
Tales of Two Who Dreamt ist eine kanadisch-mexikanische Produktion, die mit ungarischen Roma in Toronto realisiert wurde – internationaler geht es kaum. Ein Ehepaar bereitet sich auf die Anhörung zum Aufenthaltsstatus der Familie in einem Wohnblock vor. Das Haus am Stadtrand wirkt verlassen und birgt viele Geschichten. Die Proben zur Anhörung vermischen sich mit diesen Stories und es entsteht ein Konglomerat aus Gehörtem, selbst Erlebtem und regelrechten Mythen. Auch hier bringen die Figuren eigene Geschichten ein, inszenieren und prägen den Film nicht nur als Sujet, sondern auch als Schöpfer.
Im syrischen Manazil bela abwab dokumentiert Avo Kaprealian zu Beginn des Krieges von seinem Balkon aus die Szenen, die sich in den Straßen ereignen. Über eine längere Zeit spürt man, wie der Krieg immer stärker in das Alltagsleben der Stadt Aleppo eindringt, bis schließlich die Entscheidung zur Flucht getroffen wird. Dabei spielt Manazil bela abwab mit der Wiederholung von Geschichte, die Familie von Avo Kaprealian ist vor Generationen dem Genozid der Türken an den Armeniern entkommen. In Aleppo entstand eine armenische Enklave in Syrien. Die erneute Flucht – diesmal aus Syrien in den Libanon – und die Parallelen, die dadurch entstehen, nimmt Kaprealian auf, indem er Ausschnitte aus Filmen verwendet, die sich dem Thema des armenischen Genozids widmen. Er montiert assoziativ Beobachtungen mit historischem Filmmaterial.
Gibt es Verbindungen zwischen den einzelnen Filmen, die sich mit dem Thema Flucht auseinandersetzen?
Verbindungen gibt es viele, die muss der Zuschauer finden. Vor allem sollen keine Dopplungen entstehen, wir suchen möglichst unterschiedliche Werke, die zum Teil auch widersprüchlich sind in der Art und Weise, wie sie sich einem Thema nähern oder welche Perspektive sie darauf haben. Erst dadurch entsteht ein Programm.
Von Glückssuchern und Sklaven
Eldorado XXI und Fei cui zhi cheng (City of Jade) erzählen von Arbeitsbedingungen in weit abgelegenen Gegenden der Welt. Lassen sich die beiden Filme vergleichen?
Eldorado XXI von Salomé Lamas zeigt peruanische Goldminenarbeiter auf 5100 Meter Höhe und es lassen sich gewisse Parallelen finden zur burmesischen Jademine, die Midi Z in Fei cui zhi cheng porträtiert. Trotzdem thematisieren die Filme völlig verschiedene Ausgangsbedingungen. Midi Z erzählt von seinem Bruder, der schon seit Jahrzehnten sein Glück in der Mine sucht. Die Schürfarbeiten sind beschwerlich und gefährlich und lassen sich nur durch massiven Drogenkonsum bewerkstelligen. Trotzdem hofft der Bruder seit Jahrzehnten auf den großen Reichtum. Fei cui zhi cheng zeigt eine individuelle Glückssuche, im Gegensatz zu Eldorado XXI, in dem es um organisierte Ausbeutung geht.
Wie in Makhdoumin (Maid for Each)?
In dem Fall geht es um moderne Sklaverei. Im Libanon hat praktisch jeder bürgerliche Haushalt eine südostasiatische oder afrikanische Haushaltsangestellte. Sie werden ausgebeutet, die Verhältnisse enden häufig in körperlichem oder sexuellem Missbrauch. Der junge Regisseur Maher Abi Samra beobachtet, dass dieses Phänomen nun auch in seiner Generation ankommt und zeigt die „Arbeit“ der Agenturen, die den Missbrauch organisieren und diese modernen Sklavinnen an ihre Herren vermitteln. Das ist ein weltweites Phänomen. Noch schlimmer müssen die Bedingungen in Saudi-Arabien sein. In Hongkong gibt es zehntausende philippinischen Hausmädchen, die jeden Sonntag in Hongkong Central zusammenkommen, um einmal in der Woche so etwas wie ein Sozialleben führen können.
Vlažnost (Humidity) von Nikola Ljuca und Inertia von Idan Haguel klingen wie zwei Seiten einer Medaille…
Ja, es gibt eine interessante Parallele. Die Hauptfigur im serbischen Vlažnost ist ein junger Mann aus dem neureichen Milieu, der ein inhaltsloses High-Society-Leben führt. Seine Frau verschwindet plötzlich und er thematisiert dieses Verschwinden überhaupt nicht, lebt sein oberflächliches Dasein einfach weiter. Vlažnost zeigt eine Gesellschaft, in der es nicht mehr um den Menschen, sondern nur noch um den Schein geht, das Funktionieren in einer extrem kapitalistischen Gesellschaft, in der die Reichen sich nur noch ihrer materiellen Werte versichern.
Der israelische Film Inertia wiederum ist ein Film über eine Frau, die irgendwann aus einem Albtraum aufwacht und feststellt, dass ihr Mann verschwunden ist. Am Anfang sucht sie ihn, stellt dann aber fest, dass sie auch ganz gut ohne ihn leben kann. Beide Filme benutzen das Motiv des plötzlichen Verschwindens als Metapher für eine Gesellschaft, in der vieles im Argen liegt. Für eine Gesellschaft, die nicht mehr geerdet ist.
Genrefilm in Hongkong und China
Erlebt das Hongkong-Genre-Kino mit Trivisa ein Revival?
Trivisa ist Genrekino, das die eigene Geschichte, die der Vergangenheit angehört, genüsslich zelebriert. Der Hongkong-Gangster-Film erlebte in den 1990ern seine Blüte und kam mit der Rückgabe der britischen Kolonie an China zum Erliegen. Die Filmemacher in Hongkong produzieren heute für den chinesischen Markt und pflegen nicht mehr dieses originelle, sehr eigenständige Kino. Es gibt Ausnahmen wie Johnny To, der Trivisa produziert hat. Im Film wird die Machtübergabe 1997 direkt thematisiert. Er zeigt die Situation des organisierten Verbrechens, der Triaden, die sich nach dem Umbruch nach neuen Geschäftsmodellen umsehen mussten. Trivisa ist von drei jungen Regisseuren inszeniert, die jeweils eine der Hauptfiguren in Szene setzen.
Ist der Genrefilm komplett aus China verschwunden?
Nicht ganz, aber das chinesische Kino hat keine große Genre-Tradition. Außer Geistergeschichten, die aber nicht erlaubt sind, weil Geister im Widerspruch zur materialistischen Theorie der kommunistischen Machthaber stehen. Ein Film wie Zhi fan ye mao (Life after Life) von Zhang Hanyi hat keine Chance, in China ins Kino zu kommen, auch wenn er das Geistermotiv metaphorisch einsetzt. Der Film erzählt von einer Frau, die im Körper ihres eigenen Sohnes auf die Welt zurückkommt, um ihren Mann dazu zu bringen, dass er einen Baum umpflanzt, d.h. er verweist auf die Umbrüche und die ökologische Katastrophe im Land.
Japanischer Anarchismus in 8mm
Unter dem Titel „Hachimiri Madness - Japanese Indies from the Punk Years“ zeigt Ihr eine Reihe japanischer Arbeiten von 1977 bis 1990. Was ist die Geschichte dieser Filme?
Während in Amerika und Europa in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren das Medium Video entdeckt wurde, haben sich japanische Filmemacher bis in die frühen 1990er hinein im 8mm-Format ausgetobt. Die meisten der heute berühmten Regisseure wie Sion Sono oder Masashi Yamamoto haben ihre ersten langen Filme auf 8mm gedreht. Die Arbeiten von damals sind fast verschwunden, weil das Material schwer zu kopieren ist und nie untertitelt wurde. Keiko Araki vom PIA Film Festival in Tokio, wo die Filme in den 1980er Jahren gezeigt wurden, Jacob Wong vom Hong Kong Film Festival und ich haben uns durch das Archiv gewühlt, zahlreiche dieser Filme angesehen und beschlossen, einige in 2K zu digitalisieren und mit englischen Untertiteln zu versehen.
Der Titel der Reihe „Japanese Indies from the Punk Years“ bezieht sich weniger auf die Musik als die rebellische Haltung des Punk. Die Filme sind in ihrer Anarchie und Verrücktheit ein interessanter Kontrast zu den Arbeiten junger Filmemacher heute, deren Vorsicht und Introspektion. Wie Aru michi (A Road) von Daichi Sugimoto. Er ist mit seinen 22 Jahren wahrscheinlich der jüngste Filmemacher, der je bei der Berlinale mit einem Langfilm debütiert hat und zelebriert die Nostalgie der Kindheit! Mit Anfang 20 ist das Leben für ihn vorbei, weil nun der Ernst des Erwachsenenlebens beginnt, deshalb erinnert er sich an die schönen Momente seiner Kindheit. Sugimoto ist dieser Widerspruch durchaus bewusst, und er demonstriert diese Schizophrenie äußerst sensibel. Aber der Kontrast zu den irrwitzigen Nummern der 1980er ist hart.
Gab es einen Grund für diesen anarchistischen Ausbruch?
Es war mehr als ein Ausbruch. Die Punkbewegung hat weltweit sehr viel aufgebrochen. Die Utopien der 68er-Bewegung mündeten sowohl im Westen als auch in Japan schnell in Desillusion. Auch wenn sich über die Jahrzehnte viel verändert hat, blieb die erhoffte Revolution aus. Die Punkbewegung sagte „Scheiß drauf, wir machen unser eigenes Ding“. Anarchismus und No-Future statt proletarischer Revolution.
Gibt es diesen Anarchismus auch heute noch? Le Fils de Joseph und Barakah yoqabil Barakah (Barakah Meets Barakah) von Mahmoud Sabbagh klingen, als würden sie mit Freude Konventionen zerstören…
Le Fils de Joseph ist zumindest sehr eigenartig, der Regisseur Eugène Green lässt seine Schauspieler deklamieren wie im barocken französischen Theater. Die Künstlichkeit des Schauspiels steht in starkem Kontrast zur Inszenierung des Alltags im Film. Er erzählt von einem jungen Mann, der wissen will, wer sein Vater ist. Das ist mit viel Humor in Szene gesetzt, aber auch mythisch verankert, Abraham und Isaak werden wild mit anderen Elementen kombiniert.
Barakah yoqabil Barakah ist eine klassische romantische Komödie, boy meets girl. In Saudi-Arabien stehen dem zwei Unmöglichkeiten im Weg: Zum einen ist jede Art des Datings und des Flirtens nicht vorgesehen in der strikten Auslegung des Islam in diesem Land. Zum anderen gibt es das Medium selbst, den Film, eigentlich gar nicht. Das Land besitzt keine Film-, Unterhaltungs- oder visuelle Kultur. Und trotzdem inszeniert Mahmut Sabbah eine klassische romantische Komödie, die mit beiden Tabus bricht. Es gibt jede Menge Frauen mit wehendem Haupthaar ohne Hidschab und vieles mehr, was nicht mit unserem Bild von Saudi-Arabien übereinstimmt. Eine schrille Komödie.