2016 | Panorama

Rollenmodelle

Der Teddy Award – der einzig offizielle queere Filmpreis auf einem A-Festival - feiert in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag. Anlass genug, um mit dem Panorama-Kurator Wieland Speck nach Vergangenheit und Zukunft des queeren Kinos zu fragen. Im Interview spricht er außerdem über die Hartnäckigkeit der Kleinfamilie, schwierige Geburten und einen filmbesessenen Diktator.

Je, tu, il, elle (I, You, He, She) von Chantal Akerman

2016 feiert der queere Filmpreis Teddy seinen 30. Geburtstag. Kann man im Hinblick auf Queerness von Integration oder sogar einer gelungenen Integration sprechen?

Ich glaube nicht, dass eine Integration möglich ist, wenn damit ein Im-Anderen-Aufgehen gemeint ist. Mit der Sexualität steht ein grundlegender menschlichen Motor, ein Trieb, auf dem Spiel, den wir intellektuell nicht im Griff haben können. Man kann nicht ein paar Verkehrsschilder aufstellen und so die Welt befrieden. Integration kann nur heißen, dass die Mehrheit begreift, dass die Minderheit zu schützen ist. Kurz gesagt: Jeder darf leben und keiner hat Recht. Die politische Rechtegleichheit muss hergestellt werden und der Schutz gewährt sein – das betrifft auch sexuelle Übergriffe auf Frauen, was aktuell in der Presse Thema ist.

Aber wenn man auf die letzten 30 Jahre zurückblickt, dann hat sich viel getan oder?

Ja. Die Menschheit hat kapiert, dass sie eine Menschheit ist. In manchen Teilen der Erde ist das weiter gediehen, aber fast nirgends ist es eine gleichberechtigte Situation. Zwei Schwule laufen noch immer nicht so über die Straße, wie das Heteros tun können. Politisch sind wir allerdings sehr viel weiter gekommen, das ist richtig. Das darzustellen ist unsere Aufgabe. Und dazu dient der Teddy, als internationales Biest, das sich über die Geschlechter erhebt und überhaupt ein freundliches, großes Monster ist.

Nunca vas a estar solo (You'll Never Be Alone) von Alex Anwandter

Wie wichtig waren die 17 Filme, die ihr in der Reihe „Teddy30“ zeigt, für die queere Bewegung?

Die Sichtbarmachung von Nicht-Heterosexualität war und ist ein riesiger Schritt und immer risikobehaftet für diejenigen, die ihn gewagt haben. Wir lieben ja Film auch, weil daraus eine politische Kraft erwachsen kann. Die Kampfkraft, die Filmen innewohnt, ist ein Motor für das ganze Panorama-Programm und vom Thema unabhängig. Und ein nie versiegender Motor im Panorama ist natürlich die queere Welt. 2016 haben wir etwa Nunca vas a estar solo (You'll Never Be Alone) von Alex Anwandter im Programm. Der Film erzählt von einem Vater, der alleinerziehend mit seinem 17-jährigen Sohn zusammenlebt. Der Sohn wird fast totgeschlagen - von Jungs aus der Nachbarschaft, die ihn schon als Kind kannten. Ein ganz fürchterliches Verbrechen, das nur geschieht, weil der Junge schwul ist. Der Vater muss sehen, wie er in der Gesellschaft zurechtkommt und lernen, dass er keinerlei Rückhalt hat.

Hat das queere Kino eine eigene Ästhetik hervorgebracht?

Ja und nein. In Sachen Minderheitenthemen - egal ob es um sexuelle Orientierungen oder etwas anderes geht – gibt es immer zwei Seiten, das heißt die Filme wenden sich immer nach innen und nach außen. Ein Anliegen ist es, die subkulturelle Identität zu entwickeln, zu verstärken, weiterzutreiben. Auf der anderen Seite ist das Ziel, der Welt zu vermitteln, dass man dazugehört. Und beide Bewegungen finden sich in der Filmreihe zum Teddy-Jubiläum. Auch weil wir in die Zeit vor dem Teddy zurückgehen. Es gibt wahnsinnig tolle Entdeckungen zu sehen, Filme aus den frühen 1970ern von Chantal Akerman. Eine Aufgabe des Teddy ist es, das Morgen und das Gestern zu verbinden, um die Gegenwart überhaupt begreifen und etwas daraus machen zu können.

Já, Olga Hepnarová (I, Olga Hepnarova) von Tomas Weinreb und Petr Kazda

Von Familien mit oder ohne Kindern

Mit Blick auf das Programm 2016: Die zumindest politische Gleichstellung der queeren Gemeinschaft scheint mit dem Niedergang der klassischen Kleinfamilie zeitlich zusammenzufallen. Täuscht dieser Eindruck?

Ich denke, dass wir so viele „Familienversuche“ im Programm haben, weil die Familie im wirklichen Leben sehr stabil ist und das Denken noch immer besetzt hält. Das Familienideal wehrt sich mit allem was es hat vor einer Veränderung. Also eine höchst konservative Angelegenheit. Viele Menschen scheitern an der Familie, können sich aber andere Modelle vorstellen und spüren, dass sie in das alte Modell nicht hineinpassen müssen. Aber sich zu befreien bedeutet oft eine ungewisse Zukunft. Manchmal geht es um reine Flucht, was tödliche Folgen haben kann. Já, Olga Hepnarová (I, Olga Hepnarova) von Tomas Weinreb und Petr Kazda, der mit der Exekution der Protagonistin endet, zeigt so ein Beispiel. Im Film lassen sich auch die Grundzüge von Radikalisierung erkennen, die ja nicht im luftleeren Raum stattfindet, es gibt etwas, das sie ermöglicht, erzwingt. Es ist eine fatale Situation, die Já, Olga Hepnarová mit dem Vergrößerungsglas anguckt und anhand einer Biographie exemplarisch durchspielt. Die titelgebende Hauptfigur lebt in einer funktionierenden Familie aber hält dieses Funktionieren nicht aus.

Shelley von Ali Abbasi

Die Kleinfamilie als „Keimzelle“ der Gesellschaft spielt auch im Hinblick auf ihre krisenhafte Reproduktionsfähigkeit eine Rolle im Programm. Shelley von Ali Abbasi scheint als Genrestück den Horror der Kleinfamilie exemplarisch zu inszenieren und erinnert an die Gruselkinder der späten 1970er Jahre…

Rosemary's Baby und so weiter… Ja, aber das ist ein ganz modernes Paar, intellektuelle Mittelklasse, nette Leute, alles Bio. Es ist zwar ein Gruselfilm, spricht aber ganz viele Wirklichkeiten über Europa aus. Das Paar hat sich zurückgezogen aus der aktiven urbanen Welt, die Frau musste sich die Fortpflanzungsorgane entfernen lassen, das müssen sie verdauen, sie wollen sich besinnen. Die Leihmutterschaft mit der rumänischen Haushaltshilfe ergibt sich zufällig. Trotzdem zeigt der Film, dass das Bedürfnis nach Zukunft - symbolisiert im Motiv des Kindes - nicht unproblematisch ist.

Wir haben auch ganz andere Perspektiven auf das Thema: Inside the Chinese Closet von Sophia Luvarà zeigt Mann und Frau, sie lesbisch, er schwul, beide werden von der Familie dazu verdonnert, zu heiraten. Zum einen damit das Bild stimmt, denn ohne Hochzeitsbild können Eltern nicht überleben. Zum anderen weil die Kinder auch Kranken- und Rentenversicherung sind. Es ist vollkommen unmöglich, dieses Modell nicht zu erfüllen. Die Chinesen orientieren sich mittlerweile an Amerika, bauen christliche Kirchen nach, tragen weiße Hochzeitskleider – alles nur für dieses Hochzeitsbild. Eine Obsession mit dem westlichen Abbild, das es ja so noch nicht lange gibt. Im Grunde ist die Kleinfamilie eine Erfindung der frühen Industrialisierung. Die Figuren in Inside the Chinese Closet leiden unter dieser Vorstellung, versuchen mit tausend Tricks sie selbst zu bleiben und gleichzeitig die Eltern nicht zu enttäuschen.

Der Dokumentarfilm Europe, She Loves von Jan Gassmann führt das Thema fort, oder?

Ja, Gassmann hat seine Protagonisten aufgrund eines gemeinsamen Nenners zusammengestellt: Mama, Papa, kleine Wohnung. Diese Industrialisierungs-Versuchsanlage und die gesellschaftliche Fantasie, dass Mann und Frau ein kleines Nest brauchen. Und von Drogen bis Sex, von IKEA bis alternativen Ideen steht alles zur Verfügung. Die Figuren versuchen nur zu leben. Das sind alles vollkommen freundliche, affirmative Leute. Das ist sehr schön lakonisch gezeigt, ohne manipulativ zu sein, reduziert auf diese vier kleinen Nester, an vier weit auseinander liegenden Stellen des zusammengeflickten Kontinents zur gleichen Zeit.

Goat von Andrew Neel

Ein weiterer Aspekt der Geschlechterfrage ist das Thema „The Sensitive Male“, das Du 2016 ausgemacht hast und das in Goat besonders stark zum Ausdruck kommt.

Ja, Goat von Andrew Neel ist ein Ankerfilm im Programm. Er transportiert dieses Thema sehr gut. Unter „sensitive male“ verstehe ich Männerfiguren, die in ihrer Rollenvorstellung über das hinausgehen, was das konservative Modell vorsieht. Goat zeigt, wie junge Männer durch die Initiationsriten der amerikanischen Studentenverbindungen gebrochen werden, um die Vorherrschaft der weißen, männlichen Elite in den USA zu erhalten. Die Praktiken ähneln denen in Abu Ghraib. Empathie, Schmerz und Würde werden systematisch ausgetrieben. So wird die zukünftige Elite fit gemacht für ihre Posten als Bankenchefs, die die Menschen dann gnadenlos ausrauben. Goat ist eine James-Franco-Produktion, er spielt auch mit. Christine Vachon, die 2016 den Special Teddy erhält, hat ebenfalls produziert und David Gordon Green, der 2013 den Silbernen Bären als Regisseur gewonnen hat, hat das Drehbuch mitgeschrieben.

Nakom von Kelly Daniela Norris und TW Pittman

Die Plötzlichkeit der Ereignisse

Ein weiteres Motiv sind die vielen plötzlichen Schicksalsschläge, Unfälle, Amokläufe, die sich im diesjährigen Programm häufen. Aquì no ha passado nada (Much Ado about Nothing), Grüße aus Fukushima, Kater, Remainder... um nur einige zu nennen. Kann man von einem globalen Unbehagen sprechen, das sich da äußert?

Das ist eine gute Frage. Die Vorfälle sind tatsächlich nicht vorhersehbar. In Kater ist die Situation paradiesisch und dann kommt diese selbst erzeugte Katastrophe, die unerklärlich ist.

Gleichzeitig gibt es eine hohe Zahl an Filmen im Programm, in denen eine Figur zurückgeht, ins Dorf, in die Familie, in die Tradition. Der ghanaische Nakom oder El rey del Once

Das Rückkehr-Motiv finde ich hochinteressant weil es etwas über unsere Zeit aussagt und das ist ja das Ziel des Panoramas: ein zeitgeistiges Bild der Welt zu präsentieren. Und Rückkehren bedeutet Sehnsucht nach Sicherheit im Zuhause, spricht vom Bedürfnis nach Unhinterfragtem und Wärme. Für den Protagonisten in Nakom von Kelly Daniela Norris und TW Pittman ist es allerdings nur ein kurzer Aufenthalt, ehe er in sein eigenes Leben zurückgeht. Er verlässt die Tradition wieder, nachdem er dort für Ordnung gesorgt hat.

In El rey del Once von Daniel Burman kehrt ein junger jüdischer Argentinier, der in New York gelebt hat, nach Buenos Aires zurück. Er hat einen ganz anderen Blick auf die Vergangenheit und das Viertel Once, das dem Film seinen Namen gibt. Er bleibt auf Distanz, aber beobachtet seine Heimat weniger ablehnend, als zu dem Zeitpunkt, als er sich von ihr befreien musste.

Hotel Dallas von Livia Ungur und Sherng-Lee Huang

Von Kapitalisten und Sozialisten

Eine weitere Rückkehr sehen wir in Hotel Dallas. Der Film zeigt die rumänische Flucht in den Kapitalismus über Fernsehbilder und scheint allem zu widersprechen, was den aufgeklärten, politisch korrekten Europäer heute ausmacht. Was hat dich dazu gebracht, diesen Film ins Programm zu nehmen?

J.R. Ewing, eine der Hauptfiguren der amerikanischen Serie Dallas und der gewissenlose Kapitalist schlechthin, ist ein wahnsinnig erfolgreiches Rollenmodell für viele Leute, die ich nicht kenne, weil ich in einer Parallelwelt lebe, mit Menschen die eigentlich eine bessere Welt für alle wollen und künstlerisch interessiert sind. Wir kriegen nicht mit, dass die andere Waagschale dieser Welt voll ist mit J.R.'s. In Rumänien hätte mit dem Niedergang der Ceausescu-Ära die Chance auf etwas Eigenständiges und Neues bestanden, stattdessen fahren die Bewohner auf diesen kapitalistischen Unfug ab, wie Protagonist Ilie, der nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems sein Dallas nachbaut. Seine Tochter verlässt Rumänien, lebt in den USA und kehrt nun zurück, um der „lieben“ Dallas-Figur Bobby Rumänien zu zeigen. Das heißt sie führt Patrick Duffy, der Bobby gespielt hat, durch diese postsozialistische Welt. Der Film bringt ihn tatsächlich dazu, sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen und erzählt mit dieser stoischen Ironie, die man nur aus dem Osten kennt.

Before Stonewall von Greta Schiller und Robert Rosenberg

Noch eine letzte Frage: Der Plot von The Lovers and the Despot von Rob Cannan und Ross Adam klingt nach wildester Fantasie, trotzdem ist es ein Dokumentarfilm, oder?

Eine unglaubliche Geschichte. Der nordkoreanische Präsident Kim Jong-il lässt das Traumpaar der südkoreanischen Filmindustrie der 1950er Jahre vom Geheimdienst entführen, weil er ein Filmbesessener ist und der heimischen Filmindustrie auf die Sprünge helfen will. The Lovers and the Despot zeigt sehr viel Originalmaterial: Jong-il mit seiner Rockabilly-Frisur… Die Gespräche mit ihm wurden auf kleinen Diktafon-Kassetten mitgeschnitten und das ist alles im Film zu hören. Und selbst wenn die Dokumente gefaked wären, wäre es ein großer Film!