2019 | Berlinale Shorts
Kraftwerk des Arthouse-Kinos
In diesem Jahr verantwortet die langjährige Kuratorin der Berlinale Shorts Maike Mia Höhne zum letzten Mal das Programm der Sektion – Zeit für ein Fazit. Ein Gespräch über das mutige Kurzfilm-Publikum, die Lust auf ungewöhnliche Sichtweisen und ein Programm zwischen Handarbeit und HD.
Kurze Filme, große Themen: Es geht in diesem Jahr bei den Berlinale Shorts um Teilhabe, Macht, Erinnerungskultur, aber auch um Verteilungskämpfe, Liebe und Traumata – was ist es, das gerade den Kurzfilm so spannend macht für derart aufgeladene Themen?
Also für mich ist am Kurzfilm spannend, dass er mich berührt, indem er ein Thema sehr konzentriert auf den Punkt bringt – in einer Art Miniatur. Und auch große Themen und eigentlich ausufernde Geschichten haben diesen Kern, diese poetische Essenz. Danach macht sich der Kurzfilm auf die Suche. Und zwar immer wieder erfolgreich.
Jenseits alter Framings
Auffällig ist, dass Filme wie Blue Boy, in dem es um Prostitution geht, ihr Thema bewusst nüchtern und unaufgeregt angehen.
Es sieht im Kino natürlich immer spannend aus, wenn man einen Straßenstrich zeigt. Dann hat man sofort die ganzen Klischees auf dem Tisch: die Armen, die Gewalt, das ganze Drama. Aber wenn man diese Bilder mal wegnimmt und der Tatsache ins Auge blickt, dass es genügend Leute gibt, die eine Leistung anbieten und genügend Menschen, die dieses Angebot nutzen, dann stellt sich vielleicht die Frage, wo eigentlich das Problem ist? Warum wird diese Arbeit so anders bewertet als ein Job im Büro? Wer macht diese Schemata auf, und möchten wir sie uns überhaupt noch zu eigen machen?
Und das Gleiche lässt sich auch bei Suc de síndria (Watermelon Juice) von Irene Moray finden, in dem eine Frau, die vergewaltigt wurde, sich ihre eigene Sexualität wieder zurück erkämpft. Natürlich ist es fürs Kino per se interessant, einen Akt des Übergriffs zu sehen, weil es ein dramatischeres Bild ist und starke Emotionen auslöst. Stattdessen aber schaut Moray jenseits dieses Voyeurismus auf das Danach und beobachtet, wie jemand wieder zu seiner eigenen Lust zurückfindet und wieviel Arbeit und Geduld das ihr und ihrem Freund abfordert. Da wird mancher Drehbuchschreiber sagen: Das ist langweilig, wo ist der Konflikt? Ich finde es aber gerade spannend, bei diesen beiden Personen zu sein, ohne dabei einen ausbeuterischen Blick einzunehmen. Es entsteht Raum für viele essenzielle Fragen. Ganz ähnlich bei Prendre feu (Catching Fire) von Michaël Soyez, der sich mit Gewalt in der Familie auseinandersetzt, aber den eigentlichen Gewaltakt gar nicht auf die Leinwand zerrt.
Und auch bei Në Mes (In Between) von Samir Karahoda kann man das beobachten, diese Suche nach einem anderen Blick. Der Film beschäftigt sich mit den ganz großen Themen: Europa, Migration, Arbeit und Familie. Und dann wird es plötzlich so wunderbar konkret an diesen Häusern, die die Familienoberhäupter ihren Kindern bauen, auch wenn diese weit weg im Ausland leben und arbeiten. Jedes Haus gleicht exakt dem anderen, alle stehen sie in einer Reihe und warten darauf, dass sie vielleicht eines Tages bewohnt werden. Wieviel das verrät, obwohl es doch eigentlich nur ein kleiner Ausschnitt aus einem riesigen Themenkomplex ist. Und das zieht sich durchs Programm: der Versuch, das Große zu verdichten, es zu erden, ihm eine Essenz abzugewinnen. Und das ist schon eine Leistung, wenn dieser Kern getroffen ist, wenn berührt wird, ohne dass einem alles erklärt wird über drei Stunden hinweg.
Der Kurzfilm wird oft als Sprungbrett zum Langfilm verstanden. Ein ungerechtes Label?
Auf jeden Fall muss man keine Konkurrenz zum Langfilm aufmachen. Beides ist wichtig und jedes Format kann eigene Akzente setzen. Man muss als Filmemacher*in nur sehr genau wissen, was denn eigentlich die Länge ist, die gefragt ist für mein Projekt und für meine Idee? Eva Könnemann hat zum Beispiel zwei, drei lange Filme gemacht, arbeitet aber eben auch immer wieder mit dem kurzen Format und zeigt jetzt Welt an Bord bei uns.
Martín Rejtman, der in diesem Jahr mit seiner Komödie Shakti aus Argentinien im Programm ist, war vor zwanzig Jahren schon im Forum mit seinem Spielfilm Silvia Prieto. Rejtman hat Dokumentarfilme gemacht, jetzt ist ein Kurzfilm dran und als nächstes kommt bestimmt wieder ein langer Spielfilm. Aber er kann das auch: Jedes Bild ist korrekt, jedes Bild hat die Länge, die es braucht. Es ist alles durchdacht und das muss man erst mal hinkriegen. Aber da sind natürlich auch viele dabei, die ebenso große Lust auf die lange Strecke haben und das will ich ihnen auch überhaupt nicht absprechen. Ganz im Gegenteil: Wir suchen ja Handschriften, die uns in zwei, drei Jahren lange Filme bringen werden, mit ihrem sehr persönlichen Ansatz. Ein gutes Arthouse-Kino braucht das.
Andere Verständnisse von Gegenwart
Es gibt mit dem Thema Arbeit noch einen weiteren Schwerpunkt im Programm: In Chris Filippones How to Breathe in Kern County heißt es an einer Stelle: „Ein Lied aus einer Welt ohne Arbeit. Und dann: atmen wir.“ Stehen alle Filmemacher*innen dem Thema Arbeit so skeptisch gegenüber wie Filippone?
Ich habe ihn eher zuschauend gelesen, aber sicherlich mit einer Interpretation, die einen gewissen Abstand verrät, ja. Ich glaube, es geht schon darum, was für Arbeiten hier eigentlich verrichtet werden und wie wir sie wertschätzen. Ich meine, wir beobachten in dem Film diese unglaubliche Handarbeit, die die Arbeiter*innen dort verrichten und gleichzeitig sehen wir die massiven Ölfördermaschinen, die stumpf vor sich hin pumpen in menschenleerer Landschaft. Da geht sofort das ganze Spektrum der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts auf. Und in Louis Frieds Flexible Bodies finden wir uns in einem Bürogebäude in Hamburg-Altona plötzlich in diesen kargen Bürolandschaften wieder. Auch dort fragen wir uns danach, wie Arbeit aussehen soll, wer welche Arbeit zugeteilt bekommt und unter welchen Bedingungen. Das ist alles nach wie vor Verhandlungssache, gerade bezogen auf die Genderposition und die Frage, wie die Arbeit zwischen Männern und Frauen gerecht aufgeteilt werden kann und wie das alles mit dem Privatleben und der Familie vereinbar sein soll. Da müssen wir unbedingt weg von den alten Framings. Die nächste große Frage ist, wie die Menschen in Zukunft mit Maschinen und künstlicher Intelligenz arbeiten werden – Rainer Kohlberger kreiert in seinem Film eine dystopische Zukunftsvision zu diesem Thema.
Du hast den Kurzfilm mal so schön als Barometer bezeichnet – als Gradmesser für das, was kommt. Wenn wir auf den Berlinale Shorts-Jahrgang 2019 schauen, was kündigt sich da an?
Bei allen technischen Neuerungen und filmischen Trends, eines ist sicher: analog bleibt. Aber ganz auf der Höhe der Zeit. Und das ist auch wichtig. Es gibt einen interessanten Retroblick auf die Frage des Materials, was wir bei Filmen wie The Spirit Keepers of Makuta’ay sehen, der auf Super-8-Film gedreht und dann per Hand von der Regisseurin Yen-Chao Lin entwickelt wurde.
Und trotzdem muss man ganz grundsätzlich bei allem ästhetischen Retro aufpassen, dass man nicht anfängt, etwas inhaltlich zu verklären, was es gesellschaftlich zu überwinden gilt. Wir müssen mit einer wirklich neuen Perspektive auf die Dinge schauen – in HD genauso wie auf 16mm. Ansonsten besteht die Gefahr, dass man sich vom schönen Material verführen lässt und sich eine Nostalgie einstellt, die den Blick verstellt, oder mit der man sich schnell wieder in längst hinfälligen Mustern wiederfindet. Das wollen wir nicht. Und das machen die Filme auch nicht.
Du hast in der Pressemitteilung in diesem Jahr davon gesprochen, dass wir neue Rollenbilder brauchen. Worin besteht die Kraft dieser alternativen Narrative im Film?
Wir alle leben ja ein Stück weit in überkommenen Strukturen. Das fängt schon in der Schule an, wo teilweise immer noch sehr antiquierte Bilder und Modelle vermittelt werden, was sich auch nur langsam ändert. Aber wenn ich in meinem eigenen Leben stehe, geht es darum, selbst eine Haltung zu entwickeln. Genau das machen viele der Filme und deren Protagonist*innen vor. So wie die jungen Menschen aus Rise, dem Film von Bárbara Wagner und Benjamin de Burca, die sich ihrer Geschichte und des Ortes, an dem sie leben, sehr bewusst sind. Man sieht da, wie Immigrant*innen der ersten und zweiten Generation die U-Bahn in Toronto für sich nutzen und an diesem sehr öffentlichen Ort ihre Stimme erheben. Das schafft Bewusstheit, Sichtbarkeit, auch Macht und ebnet letztlich den Weg für Veränderung. Es gilt, wirklich zu schauen, wo andere Verständnisse von Gegenwart sind: Wie kann ich unsere Zeit noch lesen? Und ich denke, dahinter steht ein großes und fundamentales Bedürfnis: Nämlich, dass immer mehr Menschen wirklich teilhaben möchten an unserer Gesellschaft.
Wie können wir erinnern?
Nicht nur die Auseinandersetzung mit der Gegenwart spielt eine große Rolle im Programm, sondern auch die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Gleich drei Filme machen den Bosnienkrieg zu ihrem Thema.
Ja, dieser lange vergessene Krieg und überhaupt der Zusammenbruch des postsowjetischen Jugoslawiens kommen wieder zurück. Wir haben es da mit einem schier unglaublich komplexen Verlauf zu tun, der sich nur schwer überblicken lässt. Aber vielleicht bekommen wir nun, nach über zwanzig Jahren, genug Abstand, um diesen Konflikt nochmal neu in den Blick zu nehmen. Außer Konkurrenz zeigen wir einen Dokumentarfilm von Jasmila Žbanić, die 2006 den Goldenen Bären für Grbavica bekommen hat. Crvene gumene čizme ist schon im Jahr 2000 entstanden und ist jetzt mit Unterstützung unseres Partners ARRI neu digitalisiert worden. In dem Film begleitet Žbanić eine Frau, die ihre beiden Kinder im Krieg verloren hat. Die beiden waren erst vier Jahre und neun Monate alt. Diese Mutter will einfach ihre Kinder wiederfinden – und sei es in einem dieser Massengräber. Žbanić schafft es in ihrem Film die schwierige Waage zwischen Distanz und Nähe zu halten.
Dann haben wir mit Omarska einen Film des indischen Regisseurs Varun Sasindran, der sich mit der Frage beschäftigt, wie man an den Orten des Verbrechens an die dort geschehenen Taten erinnern kann. In dem Film spricht er mit Nusreta Sivac, die im berüchtigten Gefangenenlager Omarska gemeinsam mit Tausenden anderen inhaftiert war. Heute steht dort eine ganz normale Fabrik und es gibt keine Möglichkeit, der dort Ermordeten zu gedenken, den Gräueltaten, die dort passiert sind, und dem Wahnsinn, der da an den Menschen praktiziert wurde. Genau da kommt der Film ins Spiel, der zu einer Art virtuellen Gedenkstätte wird. Hier sehen wir, dass das alles noch nicht abgeschlossen ist, weil die Menschen noch da sind und auch die Orte. Das alles drängt sich mit aller Macht wieder ins Bewusstsein zurück.
Man hat das Gefühl, dass es nicht allein um den Akt der Erinnerung geht, sondern um die Art und Weise, wie überhaupt erinnert wird?
Absolut, auch der dritte Film zum Bosnienkrieg, Clarissa Thiemes Can't You See Them? – Repeat., setzt genau dort an. Der Film basiert auf Found-Footage-Material, das während der Belagerung entstanden ist. Man sieht, wie bewaffnete Männer sich an einem Fluss entlangschleichen, wie jemand abgeführt wird. Das Ganze ist von einem Hochhaus aus gefilmt worden. Die Aufnahmen wackeln und man merkt, dass da ganz viel Unsicherheit und Angst bei demjenigen ist, der das gefilmt hat. Wir kennen alle diese dramatischen Bilder aus den Nachrichten und wissen, wie sie dann ausgeschlachtet werden können. Aber ich finde, Clarissa Thieme geht einen anderen Weg, indem sie das Material regelrecht anfasst und versucht, das intensiv Körperliche der ursprünglichen Aufnahmesituation wieder zurückzubringen. Das ist eine Auseinandersetzung, mit der man Geschichte nicht einfach wieder ablaufen lässt, sondern sie ganz bewusst verarbeitet und sie dann wieder nach vorne in die Gegenwart trägt. Dahinter steht dann oft die Frage, wie man dieses Material noch lesen kann? Wie kann ich mich dem auch von außen nähern, als jemand, der nicht Beteiligte war? Auch das ist immer eine schwierige Frage, die der Aneignung: Wer darf eigentlich was zu welchem Material sagen?
Kanon des Kurzfilms
Wir müssen unbedingt noch über Deinen Wechsel sprechen: Die diesjährige Berlinale wird nach elf Jahren Deine letzte als Kuratorin des Berlinale Shorts-Programms sein und du gehst als künstlerische Leitung zum Internationalen KurzFilmFestival Hamburg. Es ist wahrscheinlich noch zu früh für ein Fazit, aber wenn du so zurückblickst, was ist wichtig gewesen?
Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir dem Kurzfilm eine adäquate Bühne geben konnten über die vergangenen Jahre hinweg. Zwar ist der Kurzfilm auch vorher immer schon gesichtet, immer angeschaut und immer geliebt worden. Im Panorama genauso wie im Wettbewerb früher, oder auch mal im Forum. Aber die eigene Sektion war schon eine Ansage, mit Preisverleihung im Berlinale Palast obendrauf. Und das macht sich bemerkbar: Die Gäste haben heute ein ganz anderes Feedback von der Presse und vom Publikum. Die Berlinale ist mit den Berlinale Shorts eines der Festivals, das den Kanon des Kurzfilms ganz entscheidend prägt und das Trends setzen kann: mit den Filmen und Filmemacher*innen ebenso wie mit den Themen. Die Berlinale multipliziert und das gilt nicht weniger für das Kurzfilmprogramm. Auch andere Festivals ermöglichen ein schönes Erlebnis, aber sie generieren nicht die gleiche Reichweite. Dafür geben wir uns schließlich so viel Mühe: Dadurch, dass wir die Filme so oft zeigen und an ein Publikum heranführen, machen wir nicht nur elf Tage Berlinale, sondern arbeiten nachhaltig. Und dass mir freie Hand gegeben wurde, diese Entwicklung für den Kurzfilm mitzugestalten, das ist wirklich toll.
Wie wirst du das Publikum der Berlinale Shorts in Erinnerung behalten?
Es ist ja so: Jedes Jahr ist neu, jedes Jahr ist auf seine eigene Art aufregend. Auch als Kuratorin stellt man sich dem Prozess zu schauen, was eigentlich entstanden ist bei den Filmemacher*innen. Es gibt da eine unglaubliche Vielfalt an Fragen, auf die man sich innerhalb der Sichtung einlassen kann und muss, sowohl formal als auch inhaltlich. Und für das Publikum ist das nicht anders. Weil es immer wieder darum geht, fünf, sechs verschiedene Perspektiven zu sehen. Das fordert einen, fünf Mal woanders reinzuspringen auf so dichtem Raum. Und ich finde, ein Publikum ist mutig, wenn es das mitmacht! Dafür war ich immer dankbar.