2019 | Forum
Lektüren für die Gegenwart
Nachdem der langjährige Sektionsleiter Christoph Terhechte im Sommer 2018 das Forum verlassen hat, um sich neuen Aufgaben zu widmen, übernahmen Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus die Interimsleitung für 2019. Im Interview sprechen Birgit Kohler (verantwortlich für das Hauptprogramm) und Stefanie Schulte Strathaus (verantwortlich für „Archival Constellations“) über rote Fäden und das besondere Verhältnis von Bild und Ton in der diesjährigen Auswahl sowie über die Bedeutung der Filmgeschichte für die Gegenwart.
Gibt es in diesem Jahr einen roten Faden im Programm?
Birgit Kohler: Oh ja! Zahlreiche Filme gehen von Literatur aus oder arbeiten mit Briefen, Gedichten oder anderen Schriften. Die formale Bandbreite ist dabei ziemlich groß. Mit Die Kinder der Toten haben Kelly Copper und Pavol Liska Elfriede Jelineks gleichnamigen Roman in einen Stummfilm mit Blasmusik verwandelt. Ein auf Super-8 gedrehter Heimat-Horror-Movie. Die Darsteller*innen sind die Bewohner*innen der Originalschauplätze des Buches und geistern als Naziwitwe, Zombies und syrische Geflüchtete durch die Steiermark.
Eine auf den ersten Blick eher klassische Literaturverfilmung ist Rita Azevedo Gomes’ A portuguesa (The Portuguese Woman) nach Robert Musils Novelle. Prächtige Kostüme, opulente Bilder - aber auch da gibt es Brüche. An verschiedenen Stellen taucht unvermittelt Ingrid Caven auf und gurrt in ihrer unnachahmlichen Art Lieder.
Die Liste lässt sich fortsetzen: So Pretty ist die Verfilmung von Ronald M. Schernikaus Roman „So schön“ aus den 1980er-Jahren. Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli überträgt Alltag und politische Aktivitäten der West-Berliner Schwulenszene in eine queere WG im heutigen New York und verhandelt dort neu, wie sich Liebe und Zusammensein organisieren lassen. Der Film ist eine veritable Relektüre, einzelne Absätze des Romans werden szenisch vorgelesen. Und in Peter Parlows The Plagiarists spielt eine Stelle aus Karl Ove Knausgårds „Min Kamp“ eine zentrale Rolle. Der Film handelt von einem jungen Paar, sie Möchtegernschriftstellerin, er Möchtegernfilmemacher – dadurch konfrontiert Parlow Literatur und Film direkt und verhandelt ganz explizit die Frage, wann aus Alltag Kunst wird.
Sind Bücher und Schrift einfach nur durchgängige Motive oder lässt sich daran mehr ablesen?
BK: Ich würde daran keinen Trend festmachen, wir wollen mit der Auswahl dieser Arbeiten vor allem einen diskursiven Zusammenhang herstellen. Und die Schrift funktioniert nicht nur motivisch. Sofia Bohdanowicz und Deragh Campbell stellen Briefe in den Mittelpunkt; den literarischen Nachlass einer polnischen Dichterin, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada ausgewandert ist. Der Titel des Films – MS Slavic 7 – ist übrigens die Bibliothekssignatur dieses Nachlasses. Einerseits ist die analoge Schrift hier ein visuelles Motiv, gleichzeitig wird deren Stofflichkeit immer wieder ausgestellt. Der Film beginnt mit der leinwandfüllenden Aufnahme einer Doppelseite aus einem Buch, in dem ein Gedicht abgedruckt ist.
In einer Zeit, in der der Begriff „Fake News“, der stark mit einem Misstrauen gegenüber Bildern und deren Wahrheitsgehalt verbunden ist, lautstark diskutiert wird, sticht das Motiv der Schrift stark heraus. Zudem scheinen in vielen Werken des diesjährigen Programms die Ebenen von Bild und Ton entkoppelt zu sein...
BK: Stimmt, wir haben in diesem Jahr wirklich sehr viele Filme gesehen, die dezidiert mit der Bild-Ton-Schere arbeiten.
Einer dieser Filme ist Breathless Animals...
BK: Breathless Animals verwendet ausschließlich Archivmaterial. Aus dem Off sind Interviews des Filmemachers Lei Lei mit seiner Mutter zu hören – über die Zeit der Kulturrevolution und was sie für die Familie bedeutet hat. Dazu montiert Lei Found Footage, Bilder, die eine andere Geschichte erzählen als die Leidensgeschichte der Mutter: emblematische Aufnahmen chinesischer Architektur, von chinesischem Möbeldesign und Fahrrädern auf der Straße... Ausgehend von privatem akustischen Material und öffentlichem visuellen Material komponiert Breathless Animals zwei alternative Visionen des Lebens in China.
Etwas Ähnliches schafft Chun nuan hua kai (From Tomorrow on, I Will) für die Gegenwart. Ivan Marković und Wu Linfeng erzählen die Lebensumstände zweier junger Wanderarbeiter in Peking. Sie leben in einem unterirdischen Verschlag und teilen sich ein Bett, einer arbeitet am Tag, der andere bei Nacht. Dem Film gelingt es, über die fotografische Komposition zwei Erzählungen gleichzeitig zu zeigen: die des schnell wachsenden, luxuriösen Pekings und die der Prekarität, die damit verbunden ist.
Breathless Animals konfrontiert den Wahrheitsgehalt der Aussagen der Mutter mit den öffentlichen Bildern. Auch Kameni govornici (The Stone Speakers) untersucht den Wahrheitsgehalt bestimmter Narrative, oder?
BK: Igor Drljača zeigt vier Orte im heutigen Bosnien-Herzegowina, an denen nach dem Bürgerkrieg der Kapitalismus eingeführt wurde, aber die ökonomischen Verhältnisse nicht besser wurden. Dort sind Touristenzentren auf der Basis sonderbarer Vorfälle wie Marienerscheinungen entstanden. Oberflächlich kann man das als harmloses Kuriosum abtun, aber mit Blick auf Phänomene wie Fake News ist das bedenklich, denn es werden historische Narrative konstruiert, die die ethnische Spaltung verschärfen. Die Menschen halten sich an Esoterik und ersonnenen Geschichten fest, nicht an den Fakten.
Im Gegensatz zu Kameni govornici, wo es eher ein Defizit überdeckt, taucht das Motiv des Spirituellen in Lapü als Teil einer indigenen Identität auf...
BK: Lapü zeigt ein Ritual der kolumbianischen Wayuu. Sie holen die Toten noch einmal aus dem Grab, um sie zu waschen. Die Regisseure César Alejandro Jaimes und Juan Pablo Polanco haben den Film zusammen mit den Protagonist*innen erarbeitet. Sie interessieren sich besonders für die Gesichter der Anwesenden während des Rituals – viel mehr als für das Ritual selbst, das im Film nichts Spektakuläres hat. Dadurch findet man sich als Zuschauer*in in diesen Gesichtern wieder, muss sich in ein Verhältnis setzen. Man bekommt eine Ahnung, dass keine Welt endlich ist, sondern dass es immer noch etwas dahinter gibt. Der Film zeigt diese Spiritualität auf eine sehr geerdete Weise.
Lemohang Jeremiah Mosese betont in Mother, I Am Suffocating. This Is My Last Film About You. das Motiv des Kreuzes – ein deutlicher Anklang an die religiöse Sphäre. Welche Rolle spielt dabei die persönliche Geschichte?
BK: Mother, I am Suffocating. This Is My Last Film About You. verhandelt die Migrationsgeschichte des Filmemachers selbst, die Abnabelung von seinem Herkunftsland Lesotho – erzählt in symbolisch aufgeladenen, mystisch-schönen Bildern in Schwarz-Weiß. Auch hier sind Bild und Ton getrennt. Im Off hört man eine Frauenstimme, von der man annimmt, sie adressiere ihre Mutter. Aber der eigentliche Adressat ist das Mutterland. Je länger der Film dauert, desto stärker wechselt der Film von einer Innen- zu einer Außenperspektive auf das Land. Mother, I am Suffocating. This Is My Last Film About You. ist ein Lamento, ein Klagelied, das den schmerzvollen Abschied von der Heimat erfahrbar macht.
Auch Thomas Heise erzählt in Heimat ist ein Raum aus Zeit anhand der persönlichen Geschichte die Geschichte eines Landes...
BK: Die außerordentliche Qualität des Films ist tatsächlich, dass Heise mit Hilfe von persönlichen Erfahrungen aus dem Familienarchiv die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert von Wien über Dresden bis nach Berlin erzählt – anhand von Briefen, Schulaufsätzen, Kinderzeichnungen, Fotografien. Er untersucht die Spuren, die Biografien und Zeitläufe hinterlassen und wie diese im Verhältnis zueinander stehen. Der Film spannt den großen Bogen von der Deportation der Wiener Juden über die Kriegstoten in Dresden, über Kunst und Alltag in der DDR bis ins Heute – denn er montiert dazu heutige Aufnahmen der Orte, um die es in dieser Familiengeschichte geht. Heise zeichnet ein Panorama und hinterfragt gleichzeitig die Möglichkeit von Geschichtsschreibung immer wieder. Ein großer Film mit einem tollen Titel: Heimat ist ein Raum aus Zeit.
In Sachen Geschichtsschreibung schlagen Forum und Forum Expanded 2019 einen Bogen zur Tradition feministischer Filmemacherinnen. Lässt sich die Vergangenheit, wie man sie etwa in Delphine et Carole, insoumuses (Delphine and Carole) von Callisto Mc Nulty besichtigen kann, mit der heutigen #MeToo-Debatte verbinden?
BK: Delphine et Carole, insoumuses erzählt mit Archivaufnahmen von der französischen Frauenbewegung der 1970er-Jahre, vom frühen feministischen Videoaktivismus, der sich stark am Fernsehen abgearbeitet hat. Politische Aktion, mediale Intervention und dokumentarisches Archivieren waren Mittel des feministischen Projekts, sich selbst zu erzählen. Sie wurden nicht nur mit viel Power, sondern auch mit viel Humor betrieben.
Die Verbindung zu #MeToo findet sich eher bei einem anderen Film, Sois belle et tais-toi ! (Be Pretty and Shut Up!) von 1976, bei dem Delphine Seyrig und Carole Roussopoulos Regie geführt haben – die beiden Protagonistinnen aus Delphine et Carole, insoumuses. Sie befragen 24 Schauspielerinnen aus Frankreich und den USA zu ihrer Situation als Frau im Filmbusiness. Unter anderem Jane Fonda – das Interview mit ihr ist wirklich denkwürdig. Sieht man die Aufnahmen heute, ist es gar nicht ungewöhnlich, was die Frauen zu Protokoll geben, im Filmbereich hat sich wenig geändert. Erstaunlich ist vielmehr, dass diese Fragen damals zum ersten Mal gestellt wurden.
Ließe sich am Feminismus der 1970er-Jahre heute wieder anknüpfen?
BK: Wir haben ein Gespräch initiiert, in dem u.a. genau diese Frage verhandelt wird. Es findet in der Kuppelhalle des silent green statt, die wir in diesem Jahr als Werkstattkino bespielen. Im Anschluss an die Filme können dort Aspekte vertieft werden, die im Rahmen eines regulären Publikumsgesprächs oft zu kurz kommen. Delphine et Carole, insoumuses ist einer der Filme, die wir dort zeigen, gerade weil es so viele Anschlussmöglichkeiten zum Heute gibt. Wir haben Tatjana Turanskyj eingeladen, um den Film mit Callisto Mc Nulty zu diskutieren. Turanskyj ist eine feministische Filmemacherin, die mit mehreren Filmen im Forum vertreten war und sich bei ProQuote engagiert.
Stefanie Schulte Strathaus: In diesem Zusammenhang würde ich gerne noch Variety ergänzen. Der Film ist für mich ein Schlüsselwerk, in der Art, wie er feministische Theorie in eine filmische Form übersetzt. Er ist aus dem Jahre 1983. Bette Gordon erzählt von einer Frau in New York, die an der Kasse eines Pornokinos arbeitet. Die Männer, die das Kino betreten, müssen alle an ihr vorbei. Das klassische Hollywoodnarrativ – der Mann schaut und die Frau wird angeschaut – wird verkehrt. Darauf beruht die Erzählstruktur des Films. Die Hauptfigur beginnt einen der Kunden zu verfolgen und es bleibt offen, warum sie das tut. Das Blickverhältnis wird umgedreht, jedoch ohne die andere Seiten wieder zu objektivieren. Darüber nachzudenken ist heute äußerst relevant. Zum Glück wird über Gleichstellung viel mehr geredet als zuvor. Aber die Art der Diskussion verläuft häufig entlang einer Rückwendung, indem sie sich wieder auf Binarität beruft. In der einfachen Umkehr gerät aber die gesellschaftliche Matrix, um die es eigentlich geht, und die diese Binarität überhaupt erst hervor bringt, außer Acht.
Auch der indische Feminismus hat Eingang ins Programm gefunden...
SSS: Ja. Tambaku Chaakila Oob Ali (Tobacco Embers) und Idhi Katha Matramena (Is This Just a Story?) des indischen Yugantar-Kollektivs, die wir restauriert haben, sind im Rahmen von Forum Expanded und „Archival Constellations“ zu sehen. In den 1980er Jahren gab es in Indien Kollektive, die feministische Diskurse in ihrer Verschränkung mit Klassen- und Arbeitsverhältnissen betrachtet haben. Diese Werke waren extrem wichtig für die politische Arbeit und ein signifikanter Bestandteil der kollektiven Erfahrung im politischen Kampf. Diese Filme jetzt wieder zu zeigen, hat nichts Nostalgisches. Es geht darum, Geschichte und Gegenwart in ein räumliches Verhältnis zueinander zu setzen.
Über Reenactements knüpfen auch zwei weitere, sehr unterschiedliche Filme – Fortschritt im Tal der Ahnungslosen von Florian Kunert und Nos défaites (Our Defeats) von Jean-Gabriel Périot – an die Vergangenheit an...
BK: Die Reenactments in Fortschritt im Tal der Ahnungslosen beziehen sich in erster Linie auf die DDR-Geschichte. Die Protagonist*innen sind ehemalige Werksarbeiter*innen des Betriebs „Fortschritt“, die ihre eigene Geschichte im Museum, im Klassenzimmer, im Kombinat aufführen. Eine fast therapeutische Bearbeitung der DDR-Vergangenheit.
In Nos défaites spielen Schüler*innen eines französischen Gymnasiums Szenen aus Filmen über den Mai 68 nach, in denen es um Aufstand und Engagement geht. Am Ende des Films bestreiken sie im Zusammenhang mit der Bewegung der Gelben Westen ihr Gymnasium. So verwandelt sich Filmvermittlung in politisches Engagement.
Noch eine Beobachtung zum Schluss: Aidiyet (Belonging) von Burak Çevik und Sara Summas Gli ultimi a vederli vivere (The Last to See Them) spielen stark mit dem Wissensgefälle zwischen Film und Zuschauer*in. Lassen sich die beiden Filme vergleichen?
BK: Ja, beide erzählen von einem Verbrechen, das bereits stattgefunden hat und von dem die Zuschauer*innen vorab erfahren. Allerdings gehen die Filme formal sehr unterschiedlich mit diesem Setting um. Aidiyet zeigt im ersten Teil eine nüchterne Bestandsaufnahme von Schauplätzen, während im Off die Geschichte eines Mordkomplotts und ein Geständnis zu hören sind. Im zweiten Teil erfährt man, wie sich das Liebespaar, das für den Mord verantwortlich ist, kennengelernt hat – nüchternes Geständnis versus romantische Liebesbeziehung. Gli ultimi a vederli vivere beobachtet eine italienische Familie bei ihren täglichen Verrichtungen und die Zuschauer*innen wissen, dass alle den Tag nicht überleben werden. Sie sind also buchstäblich die letzten, die sie lebend sehen. Der Film wird so zu einem zarten Requiem.