2024 | Forum Expanded
Distant Connections
Im Interview sprechen die Leiterin Ala Younis und der Leiter Ulrich Ziemons über Gespenster als vielseitig einsetzbare Metaphern, das Comeback von 16mm beim experimentellen Filmemachen und darüber, was sie bei der diesjährigen Auswahl überrascht hat.
Könnt ihr etwas zum Auswahlprozess sagen? Welche Kriterien legt ihr an?
Uli Ziemons: Das ist eine schwierige Frage. Wir arbeiten auf einem Gebiet – ob man es nun Experimentalfilm oder künstlerisches Bewegtbild nennen möchte – das bekanntlich schwer zu definieren ist; das macht es so interessant. Folglich haben wir keine spezifischen Kriterien, also wir wählen für Forum Expanded keine Filme aus, die eine spezielle Ästhetik haben oder einen besonderen Ansatz beim Filmemachen verfolgen. Wir befassen uns mit einer Nische innerhalb der Filmkunst, die von der Tradition des Experimentalfilms geprägt ist, aber auch davon, wie Künstler*innen bewegte Bilder verwenden. Die Mitglieder des Auswahlgremiums bewegen sich in diesem Umfeld, aber sie interessieren sich vielleicht auch noch für spezielle Themen oder geografische Regionen, und all das fließt dann in unsere Diskussion ein. Es gibt keine öffentliche Ausschreibung für das Forum Expanded, was uns von anderen Berlinale-Sektionen unterscheidet. Wir suchen das ganze Jahr in den Netzwerken der Mitglieder unseres Auswahlgremiums nach geeigneten Werken.
Apropos Netzwerke. Die Pressemitteilung hebt Gemeinschaftsformen oder Netzwerke als immer wiederkehrendes Thema der diesjährigen Auswahl hervor. Könnt ihr einige Beispiele für diese Gemeinschaften und wie sie porträtiert werden, nennen?
UZ: Diese Idee kam uns während des Auswahlprozesses, als wir das Programm sahen, das wir zusammengestellt hatten. Es war etwas, das uns vielleicht unterbewusst aufgefallen ist, aber wir haben es nicht als Leitfaden für die Auswahl verwendet. In den Filmen wird eine große Bandbreite von Gemeinschaften gezeigt. Die meisten verbindet miteinander, dass sie irgendwie prekär sind, weil sie oft vor Herausforderungen stehen. Diese Herausforderungen ähneln sich zuweilen über die Filme hinweg. Der Film In Praise of Slowness von Hicham Gardaf porträtiert eine Gemeinschaft von Straßenhändlern, die Schwierigkeiten haben, in Tanger Bleichmittel zu verkaufen, weil die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen sie vom Markt verdrängen. CERTAIN WINDS FROM THE SOUTH von Eric Gyamfi handelt von einer Dorfgemeinschaft, die unter wirtschaftlichem Druck steht und infolgedessen auseinandergerissen wird, weil einige Dorfbewohner*innen auf der Suche nach einem besseren Leben in die städtischeren Zentren von Ghana ziehen. Beide Filme beschäftigen sich also mit Gemeinschaften, die durch wirtschaftliche und finanzielle Gegebenheiten entstehen und durch sie auf die Probe gestellt werden. In for here am i sitting in a tin can far above the world geht es um Kryptowährungen und die von Männern dominierten Online-Communitys, in denen die Menschen von Kryptowährungen und der vermeintlichen Zukunft, die sie sich dadurch ausmalen, begeistert sind.
Und es gibt Gemeinschaften, die auf Fürsorge basieren, wie beispielsweise in Robin Vanbesiens hold on to her. Der Film porträtiert Migrant*innen mit und ohne Papiere, Aktivist*innen und Unterstützer*innen, die zusammenkommen, weil ein Kind bei einem Grenzübertritt in Belgien durch eine Polizeikugel getötet wird. Sie versuchen, einen Weg zu finden, mit dem Fall umzugehen, weil die offiziellen rechtlichen Strukturen weder dem Opfer noch dessen Familie Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sarnt Utamachotes Ich will nicht nur eine Erinnerung sein (I Don't Want to be Just a Memory) zeigt eine Gemeinschaft, die ihre Trauer verarbeitet, indem sie ihre Freundschaften pflegt und stärkt.
Ala Younis: In manchen Filmen verwenden die Filmemacher*innen Alltagsgegenstände auf ungewöhnliche Weise, um eine Erfahrung zu erzeugen. So bewegt sich beispielsweise in QUEBRANTE von Janaina Wagner ein aufblasbarer Mond durch den Film, und immer, wenn er auftaucht, lässt er den Raum in eindrucksvoller Weise komplett anders erscheinen. Es bringt die Zuschauer*innen permanent dazu, darüber nachzudenken, was sie da sehen. Ist es ein Fels oder ein Spielzeug oder ein Gespenst oder eine Person? Wie verhält er sich in Anwesenheit der Menschen im Film? Ich finde dieses Hinterfragen der Filmkulisse inspirierend. In Zeiten, in denen es entweder zu viel Filmproduktion gibt oder gar keine, gestatten uns derartige kreative und experimentelle Herangehensweisen, das Filmerlebnis auf interessante Weise wahrzunehmen. Ich sehe Gemeinschaften auch unter diesem Aspekt – wenn Filmemacher*innen mit begrenzten Mitteln arbeiten oder Gegenständen in ihren Werken eine neue Verwendung oder Bedeutung geben.
Da wir gerade über die verwendeten Filmmaterialien sprechen: Wie beeinflusst oder erweitert in O Seeker die Materialität des 16mm-Films das Storytelling?
UZ: Es gibt so einige Filme im Programm, die 16mm oder andere analoge Filmformate verwenden; nicht zuletzt, weil der analoge Film seit Längerem ein Comeback erlebt – als Material für experimentelle Filmemacher*innen oder Bildende Künstler*innen. O Seeker ist interessant, weil die Filmemacherin Gavati Wad selbst Verbindungen zur Filmlaborszene hat. Es geht also darum, das Material mit eigenen Händen zu bearbeiten. Der Film erinnert an einen Traum, so als würden wir in einer Art Traumlogik viele verschiedene Gedanken durchspielen. Durch die recht körnige Textur des 16mm-Materials, fühlt sich der Film fast so an, als sei er nicht von dieser Welt.
AY: Wenn ein Film auf analogem Material gedreht ist, wirkt er oft so als gehöre er der Vergangenheit an. Folglich kann er uns in eine andere Zeit versetzen, die irgendwo zwischen unseren Erfahrungen in der Vergangenheit und unseren gegenwärtigen Möglichkeiten liegt. In Gavatis Film wird unser Zeitempfinden beständig verschoben, während die Bilder uns auf dramatische Weise in der Gegenwart verankern.
UZ: Das trifft auch auf barrunto von Emilia Beatriz zu, einen anderen Film, der von Hand bearbeiteten 16mm-Film verwendet. Die räumliche Verortung des Films ist durch diese Textur entfesselt und verbindet Räume, die weit voneinander entfernt sind – unter Wasser, über Wasser, auf der Erde und weit entfernt auf dem Uranus. Die hier verwendete Ästhetik transportiert das Gefühl, zwischen den Räumen zu schweben.
Einige Filme behandeln historische Themen. Wie verbinden sie diese mit der Gegenwart?
AY: Ein Film, der mir dazu einfällt, ist Here We Are von Chanasorn Chaikitiporn. Auf den ersten Blick wirkt er ganz offensichtlich wie ein Film, der von der Vergangenheit handelt, weil darin sehr viel Archivmaterial verwendet wird, aber dieses Material kann uns austricksen. Seltsamerweise neigen wir dazu, Archivarisches getrennt von den Menschen selbst zu betrachten. Der Film fordert diese Materialien zurück und macht sie so zur Stimme der Protagonistin.
UZ: Der Film macht uns bewusst, dass Geschichte eine*n Autor*in hat. Das „offizielle“ Archivmaterial wird dazu verwendet, durch die Augen der Protagonistin eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen, auch wenn sie vielleicht keine Protagonistin der offiziellen Geschichtsschreibung ist, sondern nur eine normale Person.
Geisterhafte Wesen oder Trugbilder scheinen ebenfalls ein wiederkehrendes Thema zu sein. Was macht sie so faszinierend?
AY: Heutzutage gibt es durch die sozialen Medien und vereinfachte Kommunikationswege leichteren Zugang zu Material aus der Vergangenheit, zu Legenden, zu anderen Kulturen oder auch zu Leuten aus dem eigenen Kulturkreis. Es gibt vieles, mit dem Künstler*innen sich auseinandersetzen und arbeiten können, das nicht unbedingt physisch vorhanden sein muss, wie zum Beispiel Vermächtnisse, Faszination, Ängste, Ideen, die uns verfolgen, und gemeinsame Trauer. Wie vermittelt man etwas, wovon keine physische Spur existiert? Diese Dinge können zu so einer gespenstischen Präsenz im Film werden. Ich denke, das ist ein Symptom für ein vielschichtiges, schnelles Leben voller Widersprüche.
UZ: Geister sind auch deswegen so faszinierend, weil sie so schwer zu definieren sind und wir diese Lücke mit Vorstellungen und Metaphern füllen können. Geister existieren in einer Zeit außerhalb unserer Zeit und einem Ort außerhalb des unseren. Daher sind sie geeignet, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die uns möglicherweise Sorgen bereiten, die mit einer gewissen Angst verbunden sind, oder die vielleicht zu groß sind, um einer rein rationalen Erklärung standzuhalten.
detours while speaking of monsters untersucht beispielsweise Themen, die wir einem Geist zuschreiben könnten, weil wir sonst nicht über sie sprechen könnten, weil sie einfach zu überwältigend sind, um sie zu begreifen, oder zu schwierig um sie zu verstehen. Nicht nur rational, sondern auch emotional. In Grandmamauntsistercat von Zuza Banasińska ist es kein Gespenst, sondern die Hexe Baba Yaga, die zum Symbol für das Matriarchat und die Befreiung von repressiven Ideologien wird. Geister können aber auch für ein größeres System stehen, dem man nicht entrinnen kann; sie können also Metaphern für viele verschiedene Dinge sein. Ich glaube, das ist es, was sie so interessant macht.
Welche anderen Formen von Widerstand sind im Programm zu sehen?
AY: Zunächst gibt es den Widerstand gegen das Vergessen oder den Verlust eines Teils dner eigenen Geschichte. Weiterhin gibt es Widerstand gegen historischen und gegenwärtigen Kolonialismus. Außerdem den Widerstand dagegen, einfach weiterzumachen, ohne die fortschreitenden Auswirkungen der Vergangenheit zu hinterfragen sowie Widerstand dagegen, marginalisiert zu werden. Widerstand durchdringt die Filme in unserem Programm, er zeigt sich in der Auswahl der Drehorte und der Bilder.
UZ: Ein Film, der das wunderbar poetisch zeigt, ist In Praise of Slowness, dessen Langsamkeit dafür steht Widerstand gegen eine sich mehr und mehr beschleunigende Wirtschaft zu leisten. Es handelt sich um eine sehr würdevolle Form des Widerstands, eine Art von „Ich möchte lieber nicht", um unsere Würde und unser Selbstbewusstsein durch unsere Arbeit zu bewahren.
Forum Expanded ist bekanntermaßen die experimentellste Sektion der Berlinale. Ist euch in der diesjährigen Auswahl etwas vollkommen Neues begegnet?
AY: Ich glaube, es gibt nichts, was wir bisher noch nie gesehen haben, aber das Überraschende sind die Kombinationen. Wie Dinge, die uns vermeintlich vertraut sind, miteinander in Beziehung gesetzt werden und uns dadurch völlig unerwartet vorkommen. Wie der Mann, der in In Praise of Slowness die durchsichtigen Flaschen trägt. Er streift durch eine farbenfrohe traditionelle Stadt und verkauft Bleiche in diesen Behältern – genauso navigiert der Film durch das Innenleben des Mannes, das langsame Verschwinden seines Berufsstandes und die Entfärbung, die seine Flüssigkeit verspricht. Als er sich dem Horizont nähert, verschwindet seine sperrige Flaschenkomposition, ohne in der Ferne zu glitzern. Der Filmemacher findet seine eigene Ästhetik der Transparenz.
Ebenso feinfühlig und sorgfältig komponiert sind die Szenen in O Seeker. Es liegt so viel Schönheit in diesen düsteren Schwarz-Weiß-Szenen, auch wenn man kaum etwas erkennen kann. Wir sehen nicht zum ersten Mal einen Zirkus, aber die Art und Weise, wie er gefilmt ist und mit anderen Bildern kombiniert wird, ist besonders. Diese Art Erfahrungen würden wir gerne dem Publikum mitgeben.
UZ: Viele Filme in unserem Programm verhandeln die sehr einfache und doch sehr komplizierte Frage danach, wie wir die Welt sehen. Für seinen Film The Perfect Square hat Gernot Wielands beispielsweise mit einem Tiertrainer zusammengearbeitet, der Vögeln das Fliegen in Kreisen oder Quadraten beibringt. Das Ergebnis ist eine auf sieben Minuten verdichtete Abhandlung, wie Ästhetik unsere Sicht der Welt formt. Der Film ist faszinierend, geistreich und witzig. Wie Ala bereits erwähnt hat, geht es nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern dem Film eine eigene Note zu geben, neue Einblicke zu geben, wie ein Gedanke, den man noch nie zuvor hatte oder ein Bild, das man mit diesem Gedanken verbinden kann.
Apropos Verbindungen: Wie verbindet Prapat Jiwarangsan in seiner Installation Myanmar Anatomy den Zoologischen Garten von Yangon mit der Yangon Ringbahn und dem Drogenbekämpfungsmuseum?
UZ: Die Installation beschäftigt sich mit diesen Orten im Hinblick auf die Geschichte des Kolonialismus. Sie erforscht, wie diese Institutionen mit dem kolonialen Erbe und den darauf basierenden Strukturen verknüpft sind. Visuell verbindet Prapat Jiwarangsan die Orte durch die Animierung unbelebter Gegenstände, quasi Stilleben bewegter Natur, wie wir sie aus Museen oder Dioramen kennen. Die Installation versucht, sie aus den Strukturen, in denen sie gefangen sind, zu befreien.
AY: Dadurch hinterfragen wir auch die Dinge, die wir manchmal beim Betrachten einer Ausstellung oder einer Geschichte über ein Tier aus einer anderen Zeit oder aus einem anderen Land, fraglos hinnehmen.
Was ist die wichtigste Botschaft oder Erfahrung, die ihr dem Publikum mit dem diesjährigen Programm mitgeben wollt?
AY: Trauer, Verlust oder Vertreibung stehen dieses Jahr in vielen Geschichten im Mittelpunkt. Die Filmemacher*innen gehen mit diesem Verlust auf eine Weise um, die Menschen, die gerade selbst eine schwere Zeit durchmachen, möglicherweise helfen könnte. Indem sie daran wachsen, oder um eine vorübergehende Schwäche auszudrücken.
In einigen Filmen geht es darum, neue Kräfte zu sammeln. Sie erforschen, wo wir Verbundenheit, Trost oder einen Rückzugsraum finden können, um uns zu erholen. Darauf spielt der diesjährige Untertitel Distant Connections - Entfernte Verbindungen an. Wie verbindet man zwei weit voneinander entfernte physisch nicht vorhandene Punkte? Welche Absicht oder Hoffnung könnte sie zusammengeführt haben? In diesem Jahr stehen die Filmemacher*innen im Zentrum der Geschichten, die sie erzählen. Ihre Geschichten sind ihnen ein Anliegen. Und das ist an sich schon eine Stärke oder Fähigkeit, die wachsen kann.