2015 | Berlinale Shorts

Spiegelachsen

Der Kurzfilm hat eine lange Tradition bei der Berlinale. Seit 1956 werden der Goldene und der Silberne Bär an die besten Kurzfilme vergeben. 2015 kam mit dem Audi Short Film Award erstmals auch ein dotierter Preis hinzu. Im Interview zum Programm 2015 der Berlinale Shorts spricht Kuratorin Maike Mia Höhne über die Chance, einen Auszug des aktuellen Denkens präsentieren zu können, die Kraft der Bilder und die Frage, was wir mit unserem Leben anfangen wollen.

Daniel Moreshet in Lama? (Warum?) von Nadav Lapid

Die beiden Filme MAR DE FOGO (Feuermeer) und Lama? (Warum?) scheinen direkt an unser Gespräch vom letzten Jahr anzuschließen, in welchem Du über den Funken der ursprünglichen Idee gesprochen hast, den es beim Filmemachen mit allen Mitteln zu beschützen gilt.

Ja, es geht durchaus wieder um diesen Funken, den Moment, der die Inspiration für ein Werk gibt und den es auch zu schützen gilt, um die Arbeit zu beenden. Manchmal entspringt dieser Funke anderen Filmen und sorgt so für Referenzen, indem er über die Geschichte ins Heute ausstrahlt. Mit MAR DE FOGO, Lama? und Snapshot Mon Amour haben wir dieses Jahr gleich drei Filme im Programm, die diese Brücke schlagen und zugleich eine gewisse Anordnung für die Berlinale Shorts 2015 vorgeben: Die Filme sind wie auf Spiegelachsen angeordnet und schaffen so gleichzeitig Trenn- und Verbindungslinien innerhalb des Gesamtprogramms. Das gilt auch für die Spielfilme und einige Filme im Programm, die sich mit der Intervention im öffentlichen Raum beschäftigen.

Christian Bau untersucht in Snapshot Mon Amour die existentielle Frage, welche Einflüsse eine Extremsituation auf die Struktur einer Beziehung haben kann. Nach der Katastrophe von Fukushima ist in Japan die Scheidungsrate so rapide gestiegen, dass ein neues japanisches Wort entstanden ist, „Genpatsu-Rikon“, welches sich aus den Schriftzeichen „Atom“ und „Scheidung“ zusammensetzt. Der Regisseur verweist durch Filmtitel und -zitate auf Alain Resnais‘ Filmklassiker Hiroshima, mon Amour (Frankreich / Japan 1959) und stellt damit gleichzeitig die Frage nach den Grenzen der Abbildbarkeit. Und das alles komprimiert in nur sechs Minuten!

Der israelische Filmemacher Nadav Lapid, bekannt für seine vom ästhetischen Ansatz her dialektischen Filme, ist in Lama? ungewöhnlich emotional und sehr persönlich. Nadav Lapid verdichtet wenige Szenen zu dem einen entscheidenden Moment, nach dem nichts mehr ist wie zuvor: Der Herausgeber der „Cahiers du Cinéma“ bittet den 40-jährige Regisseur Yoav ihm ein Filmbild zu nennen, das sein künstlerisches Schaffen beeinflusst hat. Er erinnert sich an seine Zeit als junger Soldat, der das Schießen liebte. Während seine Kameraden im Kino das Requiem von Mozart in Pier Paolo Pasolinis Teorema (Italien 1968) mit eigener Musik überspielen, findet er sich im Bild des schreiend durch die Wüste stolpernden Protagonisten wieder. Er hat sein Bild gefunden, das spüren lässt, welche Möglichkeiten dem Kino innewohnen. Ähnliches gilt für MAR DE FOGO. Selbst wenn man den referenzierten Film Limite (Brasilien 1931) von Mário Peixoto nicht kennt, bleiben die Kraft der Bilder und der Moment der Inspiration.

Antonio Altamirano und Samuel González in San Cristóbal von Omar Zúñiga Hidalgo

Was wollen wir mit unserem Leben anfangen?

Suchst Du in der Programmauswahl bewusst nach diesen Spiegelpunkten?

Im besten Verständnis bietet mir die jährlich immer noch steigende Zahl an Einreichungen die Möglichkeit und Chance, einen Auszug des aktuellen Denkens zu destillieren und das in allen erdenklichen Formaten. So stellen etwa die starken Erzählungen in diesem Jahr existentielle Fragen, und zwar weniger in einem politischen als einem privaten Sinne: Wo stehen wir eigentlich? Wo bewegen wir uns hin? Was wollen wir mit unserem Leben anfangen?

Die schwulen Männer aus San Cristóbal von Omar Zúñiga Hidalgo aus Chile entscheiden sich bewusst gegen eine direkte Auseinandersetzung mit der Diskriminierung und emanzipieren sich gerade durch das Ignorieren und die Nicht-Konfrontation von der Herabwürdigung.

In Blood Below the Skin von Jennifer Reeder gestehen sich zwei Teenager-Mädchen über die Kraft der Gedanken ihre zarte Liebe. Die dritte Protagonistin des Films muss ihrer vom Vater verlassenen Mutter beistehen. Das Verhältnis von Mutter und Tochter wird auf eine eindrückliche, hoffnungsvolle Weise umgeschrieben und damit überhaupt bewusst als Thema gesetzt, was in dieser Art im filmischen Mainstream nicht vorkommt.

Matt Porterfield berührt für mich ein weiteres zentrales Thema, das sich durch das Programm zieht: das augenscheinlich weit verbreitete Phänomen der Langeweile. Take What You Can Carry ist eine genaue Studie der Trägheit, die sich breit macht, wenn man als junger Erwachsener zwischen den Stühlen hängt und noch nicht weiß, was man mit seinem Leben anfangen will. Die Protagonistin ist Teil der Performancegruppe Gob Squad, die heute als Sprachrohr einer ganzen Generation fungiert – der Generation Y. Gob Squad sprühen raus, was viele nicht sagen können.

Ich bin sehr glücklich über die lustigen Filme im diesjährigen Programm: Bad at Dancing von Joanna Arnow oder auch The Mad Half Hour, der das Langeweile-Thema auf sehr lakonische Art aufgreift. Hauskatzen haben einen Moment am Tag, an welchem sie durchdrehen und auf diesen bezieht sich Leonardo Brzezicki aus Argentinien am Anfang seines Films, um dann ein Paar beim Tennisspielen zu zeigen. Urplötzlich weigert sich der eine weiterzuspielen, weil ihm die ganze Situation so absurd vorkommt. Wie das Leben selbst. „Vielleicht sollten wir uns trennen“, schlägt er seinem Freund vor, der wiederum sehr gelassen reagiert, weil er diese Phasen seines Partners schon kennt und damit umzugehen weiß.

Of Stains, Scrap & Tires von Sebastian Brameshuber

Im Forum lief letztes Jahr der Dokumentarfilm Und in der Mitte, da sind wir von Sebastian Brameshuber der über ein Jahr lang Jugendliche in der österreichischen Provinz beim Älterwerden begleitet. Die Jugendlichen wirken wie gelähmt, völlig energielos. Nur beim Paintball-Schießen haben sie Spaß (ein Motiv, das dieses Jahr übrigens im bereits erwähnten Lama? aufgegriffen wird). In Of Stains, Scrap & Tires setzt Sebastian Brameshuber wieder dort an und begleitet die afrikanischen Arbeiter einer an dieses Paintball-Feld grenzenden Werkstatt, in der für den europäischen Markt nicht mehr geeignete Autos für den Weiterverkauf nach Afrika aufbereitet werden. Sie blicken verständnislos auf das Treiben auf dem Paintball-Feld, und so steht auch im Zentrum von Of Stains, Scrap & Tires die Frage, was wir mit unserem Leben anfangen wollen.

… in der satten westlichen Welt.

Das Satt-Sein muss nicht das Problem sein, solange man sich mit seinem vollen Bauch nicht einfach nur zurücklehnt.

Ich suche Filme ohne doppelten Boden, Filme, die ein Wagnis eingehen, Filme, bei denen ich eine Dringlichkeit und Notwendigkeit spüre.

Im Sommer 2014 haben Mischa Leinkauf und Matthias Wermke weiße Flaggen auf der Brooklyn Bridge in New York City gehisst und nun haben sie die internationalen Fernsehbilder der Berichterstattung über ihre Aktion zu ihrem Dokumentarfilm Symbolic Threats (Regie: Mischa Leinkauf, Lutz Henke und Matthias Wermke) montiert. Mit ihrer Aktion sind sie ein großes persönliches Risiko eingegangen und haben ein Statement gemacht. Aber welches? Bedrohung oder Kunst? Affront oder Möglichkeit? Kapitulation oder Offensive?

Fatoum al Hussein in El Juego del Escondite (Versteckspiel) von David Muñoz

David Muñoz hat mit seinem Filmteam ein syrisches Flüchtlingslager im Libanon besucht. In El Juego del Escondite (Versteckspiel) stellt er nicht einfach nur die Frage, wie sich Wirklichkeit abbilden lässt, sondern auch die Frage nach der Verabredung zwischen Protagonist und Dokumentarist, indem er sich selbst und den Prozess seiner Arbeit beobachtet. Was passiert, wenn die eigenen Vorstellungen von der Wirklichkeit nicht eingehalten werden?

Spiegelachse und Spannungsfeld

Wie wirst Du die sich spiegelnden Filmen programmieren? Wie lässt sich beispielsweise an einen äußerst verstörenden Film wie HOSANNA anschließen?

Trotz der zahlreichen Bezüge und Querverweise fand ich es dieses Jahr extrem schwierig, die Filme zu Programmen zusammenzufassen, gerade weil sie so stark sind.

HOSANNA von Na Young-kil ist ein düsterer koreanischer Film über einen jungen Mann, der Tote zum Leben erwecken kann. Doch er erhält keine Anerkennung, keinen Dank dafür. Sein Eingreifen ändert nichts. Die zum Leben Erweckten werden nochmals getötet, die Frau wieder vergewaltigt. „Hosanna“ ist ein sehr alter Jubel- und Flehruf, mit dem laut Neuem Testament auch Jesus von der Menge begrüßt wurde, als er am Palmsonntag auf dem Esel in Jerusalem einzog. Im Film bleibt der Jubel aus. Auf HOSANNA folgt , ein kontemplativer, zum Nachdenken anregender Film, der den Zuschauern Zeit gibt und sie gleichzeitig ins Hier und Jetzt zurückholt. Und danach: Chitrashala (Haus der Bilder), der wiederum noch eine ganz andere Position zu der Frage von moralischer Positionierung des Individuums im sozialen Gefüge abbildet. Der hinduistische Glaube ermöglicht es, mit Gott eine körperliche Einheit einzugehen. Amit Dutta erzählt von der ewigen Liebe, indem er eine Sammlung von Miniaturen, die in der Gegend des Himalayas entstanden sind und ausgestellt werden, zum Leben erweckt. Und so ergibt sich ein interessantes Spannungsfeld zwischen den Filmen, das sich erst aus der Programmierung in einem Kurzfilmprogramm ergibt.

Und auch in Lo Sum Choe Sum (3 Jahre 3 Monate Rückzug) von Dechen Roder aus Bhutan spiegelt sich das religiöse Motiv. Um einen höheren Grad von Transformation zu erlangen, gebietet es eine buddhistische Meditationspraxis, sich drei Jahre und drei Monate aus allem Weltlichen zurückzuziehen. Die junge Protagonistin kehrt nach Ablauf dieser Zeit, die sie zum größten Teil im Gefängnis verbracht hat, in ihren Heimatort zurück, um ihren Vergewaltiger zu töten. Doch würde das wirklich etwas ändern? Oder bringt uns nicht erst das Verzeihen einen Schritt weiter, wie in dem von Holzschnittarbeiten des belgischen Grafikers und Zeichners Frans Masereel inspirierten Animationsfilm Däwit von David Jansen?

Die thematischen Achsen sind die Bögen des Programms. Spiegelachsen, wie schon erwähnt.

Alessandra Mesa und Anamari Mesa in Superior von Erin Vassilopoulos

Bedeutungsverschiebung

Einige Regisseure sind zum wiederholten Male bei den Berlinale Shorts vertreten. Welche Entwicklung erkennst Du?

Ich finde es toll, dass wir die Filmemacher auf ihrem Weg begleiten dürfen. Billy Roisz etwa wird immer emotionaler, wenn man das bei ihren Experimentalfilmen so sagen kann. THE (Regie Billy Roisz und Dieter Kovačič) ist ein Experimentieren mit Sehgewohnheiten und eine Hommage an den Horrorfilm. Er schlägt damit die Brücke zu Superior von Erin Vassilopoulos und spiegelt auf anderer Ebene wiederum die Endzeitszenarien aus HOSANNA und PLANET Σ von Momoko Seto.

Yoriko Mizushiri präsentiert mit maku (schleier) ihren dritten zarten, sexy-verspielten, weiblichen Animationsfilm. Da bin ich gespannt auf das Publikumsgespräch, weil sie so wahnsinnig schüchtern war im letzten Jahr. Und Architektura von Ulu Braun ist eigentlich die Quintessenz aus dem, was er die Jahre zuvor gemacht hat. Wer bestimmt den öffentlichen Raum? Welchen Einfluss haben Architekten? Und wer sind die Auftraggeber? Die Stadt oder Investoren?

In einigen Filmen treten die Landschaft und die Umgebung nicht nur als Kulissen auf, sondern werden scheinbar selbst zu Akteuren.

SHADOWLAND ist eine kontemplative, fast meditative Arbeit über die Besetzung von Orten, über Verschiebung von Bedeutung, und präsentiert uns im Stil der großen US-amerikanischen Fotografien von Ansel Adams und Alfred Stieglitz Orte, die von Hollywood okkupiert wurden. Die kalifornische Wüstenlandschaft ist mal der Mars, mal Afrika, mal Nordamerika.

In Lembusura von Wregas Bhanuteja verschiebt sich wiederum der postkoloniale Diskurs, indem unter dem prustenden Gelächter der Erben ein uralter indonesischer Mythos reinszeniert wird, und somit aller Ernst der Auseinandersetzung aufgeboben wird.

Lydela Leonor, Alexander Carver, Raul de Nieves, Carlos Solis-Keyser und Frankie Brun in La Isla está Encantada con Ustedes von Alexander Carver und Daniel Schmidt

La Isla está Encantada con Ustedes (Die Insel ist Verzaubert von Euch) von Alexander Carver und Daniel Schmidt verbindet den postkolonialen Diskurs mit konkreten Ereignissen der Geschichte Puerto Ricos: von der Eroberung durch die Spanier Ende des 15. Jahrhunderts über die flächendeckende Pockenimpfung und die Einführung eines Gesundheitssystems bis ins Heute als Steueroase der globalen Pharmaindustrie. Auf äußerst lustvolle Weise zeigt der Film, wie Gesundheit und Ökonomie seit jeher miteinander verknüpft waren. Ich bin sehr gespannt, La Isla está Encantada con Ustedes auf der großen Leinwand im Kino zu sehen. Und auch Dissonance von Till Nowak wird erst im Kino seine volle Wirkung entfalten. Durch eine unglaublich geschickt Verquickung von 3D-Animation und Spielfilmsequenzen merkt man erst relativ spät, dass etwas mit dem Protagonisten und seiner Wahrnehmung nicht stimmt. Wirklichkeit und psychotische Wahnvorstellung verschwimmen, ähnlich wie die Übergänge von Live-Action und Animation.

Ich denke, ein offener Blick ist nötig, um die Arbeiten in ihrer Vielfältigkeit zu verstehen. Deshalb freue ich mich sehr über die diesjährige Jury, und dass die Mitglieder auch einen kuratorischen Hintergrund mitbringen. Mit dem Audi Short Film Award ist in diesem Jahr außerdem ein weiterer Preis für die Berlinale Shorts hinzugekommen, durch dessen Vergabe die Chance besteht, die Entwicklung eines Filmschaffenden und seine individuelle Handschrift zu würdigen.