2025 | Meet the Sections | Retrospektive

„Der Reiz liegt in der Stoffwahl“

„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ ist das Thema der Retrospektive 2025. Im Interview sprechen Sektionsleiter Rainer Rother und Annika Haupts, Mitglied der Auswahlkommission und Programmkoordinatorin, über den Reiz des Unperfekten, die Lust am Genre und die Faszination für den Outlaw im diesjährigen Programm.

Evelyne Kraft in Lady Dracula von Franz Josef Gottlieb

Die Deutsche Kinemathek hat sich bereits 2010 bei einem Symposion intensiv mit der „Lust am Genre“ befasst. In der entsprechenden Publikation heißt es, dass „das Nichtperfekte, die im Vergleich zum teuren A-Picture mangelnde Glätte, das schnell Hergestellte vieler Genrefilme zu ihrer Faszination beiträgt“. Haben Sie sich bei Ihrer Auswahl von Filmen aus den 1970er-Jahren von dieser Beobachtung leiten lassen?

Rainer Rother: „Mangelnde Glätte“ und „schnell hergestellt“ trifft auf viele der Filme zu. Wobei der Titel „Wild, schräg, blutig“ aber auch schon zeigt, dass wir Unterschiede machen. Wir versuchen, verschiedene Valeurs innerhalb des Genrekinos zu markieren, mit denen es sich vom klassischen und konventionellen Erzählen absetzt. Da werden auch gelegentlich Geschmacksgrenzen überschritten. Das ist für das Publikum vielleicht eine Überraschung, dass so etwas in den 1970er-Jahren möglich war. Wir haben in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass wir mit unseren Reihen auch ein junges Publikum erreichen. Und wir glauben, dass dieses Programm, das etwas quer zu dem steht, was üblicherweise als Kanon bezeichnet wird, gerade das junge Publikum sehr faszinieren wird.

Annika Haupts: „Lust am Genre“ wäre auch ein passender Titel für diese Retrospektive gewesen. Ihre Filme sollen Lust machen. Sie fordern das Publikum heraus, provozieren, machen aber gleichzeitig Spaß in ihren ganz verschiedenen Ausprägungen „wild“, „schräg“ und „blutig“, auf die wir bei unserem Streifzug durch die 1970er gestoßen sind.

Mascha Elm Raben in Deadlock von Roland Klick

Die Filmgeschichte kennt zahlreiche Genres, vom Abenteuer- bis zum Zirkusfilm. Welche stellt die Retrospektive vor?

Annika Haupts: Wir haben bewusst manche Genres ausgelassen, denn wir wollten auf jeden Fall Ost- und Westdeutschland gemeinsam abbilden. Die zum Teil sehr großartigen Science-Fiction-Filme der DEFA haben wir allerdings schon 2017 in unserer Retrospektive „Future Imperfect“ präsentiert. Dafür haben wir diesmal unter den DDR-Filmen außergewöhnlich inszenierte Satiren, Musicals und romantische Komödien mit hohem Musikanteil gefunden, die ausgesprochen charmant und bezaubernd bunt sind und die sich auch gar nicht scheuen, etwas Extravagantes auszuprobieren. Aus dem bundesdeutschen Kino sind mit Fremde Stadt, Deadlock und Blutiger Freitag Gangsterfilme stark vertreten. Es sind Überfallfilme, „heist movies“, in denen es um Geld geht und um Männer, die um die Beute konkurrieren. Daneben gibt es echte Exploitationfilme – etwa Rocker, aus meiner Sicht der einzige Bikerfilm, der je in Deutschland produziert wurde. Auch Blutiger Freitag mit seiner extremen Gewalt und Drastik gehört dazu. Zudem gibt es Horror in drei Vampirfilmen – in Hans W. Geißendörfers Jonathan, in Lady Dracula, einem Genremix aus Grusel, Krimi und Komödie, sowie in Ulli Lommels Die Zärtlichkeit der Wölfe, der als Serienmörderfilm das Vampirmotiv aufnimmt.

Armin Mueller-Stahl in Nelken in Aspik von Günter Reisch

Die westdeutschen Filme sind eher kleine Produktionen, die DEFA-Filme vergleichsweise sehr viel aufwendiger. Bestand in der DDR ein anderes Genreverständnis als in der Bundesrepublik?

Rainer Rother: Man stößt bei der DEFA auf die Sachlage, dass der DEFA-Film viel weniger davon getrieben war, Unterhaltung zu produzieren. Vielmehr sollte er Kunst sein. Das ist dann natürlich eine gewisse Einschränkung für das, was im Genre überhaupt möglich ist. Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass die Filme ganz stark die Verhältnisse in der DDR thematisieren. Es gibt in ihnen Verweise auf reale wirtschaftliche Notlagen oder Versorgungsengpässe. So etwa in Nelken in Aspik, einer Satire, die sich um eine Werbefirma dreht – erstaunlich genug für einen DDR-Film! Hier kann man sehen, wie ein Ausweichen vor dem Kunstanspruch möglich wird, ohne dass der Anspruch „Irgendwie handeln wir doch von der Realität“ aufgegeben wird.

Es fällt auf, dass so gut wie alle westdeutschen Filme von Münchner Regisseuren oder Produktionsgesellschaften hergestellt wurden, auch wenn sie in Berlin (wie Einer von uns beiden) oder Hamburg (Rocker) spielen. Ist das Zufall oder unvermeidlich?

Annika Haupts: Es ist jedenfalls kein Zufall, denn es liegt an den Münchner Filmemachern, die sich in dieser Zeit ganz bewusst dem Genre zuwandten und ihre Vorbilder in Hollywood fanden, in Howard Hawks oder John Huston. So sind diese tollen Filme als Gegenprogramm zum Kino der „auteurs“ entstanden. Wir haben es hier mit einer Generation von jungen Filmemachern zu tun, die sich im Genrekino ausprobieren wollten.

Ortrud Beginnen, Jürgen Prochnow und Elke Sommer in Einer von uns beiden von Wolfgang Petersen

Rainer Rother: Es kamen auch ältere Regisseure in Betracht und auch arrivierte Produzenten wie Artur Brauner mit seiner Berliner CCC-Film, der im Genrekino traditionell stark vertreten war. Gerade im Bereich des Thriller- und Exploitationfilms war er sehr aktiv. Doch handelte es sich dabei um internationale Koproduktionen, oft mit italienischen oder spanischen Regisseuren, wie zum Beispiel Jess Franco. Und ältere Genreregisseure wie Alfred Vohrer drehten in diesem Jahrzehnt vorrangig hoch budgetierte Simmel-Verfilmungen. Dass unter diesen Umständen jemand wie Wolfgang Petersen, der sich schon während des Studiums an der Berliner dffb stark am Genrekino orientierte, für sein Kinodebüt Einer von uns beiden, in Berlin keinen Produzenten fand, ist vielleicht nicht zwangsläufig. Aber dass es für ihn in München einfacher war, ist auch klar.

Bei den westdeutschen Produktionen sind die Regisseure in der Regel auch die Drehbuchautoren. Das entspricht im Grunde nicht den Genreregeln. Handelt es sich bei den Filmen der 1970er-Jahre nicht auch um – ein allerdings verkapptes – Autorenkino?

Rainer Rother: Indem sich inzwischen längst namhafte Regisseure wie Geißendörfer oder Rudolf Thome damals dem Genrekino zuwandten, haben sie eine Entscheidung getroffen, die man vielleicht ein bisschen mit Martin Scorsese vergleichen kann. Dessen Beginn 1972 mit Boxcar Bertha und weiteren Filmen, die er und andere Regisseure des New Hollywood für Roger Corman gemacht haben, waren nicht primär als Autorenfilme gemeint, sondern sollten ein bestimmtes Publikum ansprechen. Und so ist es bei den Filmen, die wir ausgewählt haben, eigentlich auch. Die Filmemacher kommen nicht mit dem Anspruch daher, Autoren zu sein. Sondern sie wollten eine andere Kategorie von Filmen repräsentieren.

Raimund Harmstorf und Ursula Erber in Blutiger Freitag von Rolf Olsen

Gibt es vergleichbare Strategien auch in der Gegenwart?

Annika Haupts: Der Reiz liegt in der Stoffwahl. Was die Filme heutiger deutscher Genreregisseure wie Thomas Arslan, Jan Bonny oder Christoph Hochhäusler mit dem 1970er-Jahre-Kino gemeinsam haben, ist die Figur des Gangsters, des Outlaws, der sich nicht in die Gesellschaft integriert, der schnell Geld machen will. Bemerkenswert ist, dass schon in Blutiger Freitag von den Handelnden Überlegungen zu ihren individuellen Motivationen angestellt werden. So erklärt Heidi, die an den Überfällen beteiligt ist, dass sie in einem Dasein als Ehefrau und Mutter in einem „Milieu ohne Chancen“ keine Perspektive sieht; ihrem Freund und Vater ihres Kindes Luigi würde jeder gesellschaftliche Aufstieg verwehrt. Das spiegelt die 1970er-Jahre mit ihren gesellschaftlichen Diskursen sehr gut wider – wunderbar verpackt in Genreinszenierungen. Dabei besitzen manche Szenen eine Härte und Drastik, die heutzutage auf keinen Fall mehr von einer Redaktion abgenommen werden würde.

Das Programm der Retrospektive 2025