2008 | Forum
Von Mustern, Rollen und dem Spiel als Grund des Filmens
Das Forum als Anlaufstelle für couragierte und unkonventionelle Filmemacher legte auch 2008 eine Vielzahl formal außergewöhnlicher und politisch mutiger Werke vor. „Die Filmemacher, deren Arbeiten wir auf dem Forum zeigen, wollen sich in gewisser Hinsicht abheben von dem, was gängig ist“. Ein Blick auf das Programm zeigt, dass oft ein ausgeprägtes Interesse an gesellschaftspolitischen Prozessen als treibende Kraft hinter diesem Schaffen steht. Ein Gespräch mit Sektionsleiter Christoph Terhechte über ein nach wie vor starkes asiatisches Kino, Kinder ohne Kindheit und die Bedeutung von Lust und Erinnerung fürs Filmemachen.
SK: Mir sind im Forum-Programm verschiedene immer wiederkehrende Motive aufgefallen. Da ist zum Beispiel als eine Art „Geburtsthema“ des Mediums die Auseinandersetzung mit Erinnerung, dem Vergangenen bzw. der Bezug zur individuellen und kollektiven Geschichte. Gibt es in den Filmen, die Ihr zeigt, einen bestimmten, sozusagen zeitgenössischen Umgang damit?
CT: Wie zeitgenössisch das ist, sei dahingestellt, aber ich sehe eine Parallele zwischen mehreren asiatischen Filmen im Programm. Allerdings wird "Erinnerung" dort auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert, mal eher auf der privaten und das andere Mal eher auf der öffentlichen. In Invisible City geht es beispielsweise mehr um Historie als um private Geschichten, wobei auch das natürlich immer mit Menschen zu tun hat. Zentral ist hier die Frage, wie viele Zeugnisse der Geschichte noch vorhanden sind und was man eigentlich alles aufbewahren sollte oder eben nicht. Dass die Menschheit soviel aufbewahrt, nicht nur an Zeugnissen der Geschichte, sondern auch an Gegenständen, ist ja relativ neu. Und wenn wir so weitermachen, dann müllen wir uns irgendwann komplett zu mit Erinnerungsgegenständen - dann wird die ganze Welt ein Museum. Solche Fragen werden in dem Film aufgeworfen, das finde ich hochinteressant.
Von der privaten und der politischen Erinnerung
In den asiatischen Filmen geht es auch sehr stark um die japanische Dominanz in der asiatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das gilt für einen Film wie Yasukuni, der aus der Perspektive eines Chinesen, der lange Zeit in Japan gelebt hat, vom Yasukuni-Schrein erzählt, wo seit den 70er Jahren auch etliche Kriegsverbrecher verehrt werden. Die Japaner argumentieren, sie verehrten da einfach nur ihre Toten, die für ihr Land gefallen sind, und das ginge das Ausland nichts an. Dagegen steht das Argument: Wenn ihr Kriegsverbrecher verehrt, können wir eure Entschuldigungen für Kriegsverbrechen nicht ernst nehmen. Und das schlägt sich dann wiederum in einem Film wie Invisible City nieder, der zeigt, wie der Ort Singapur auch unter der japanischen Okkupation gelitten hat.
Oder der koreanische Film Grandmother’s Flower, der private und politische Erinnerung zusammenbringt. Anlässlich des Todes seines Großonkels fängt der Filmemacher an, Fragen zur Familiengeschichte zu stellen und stößt dabei auf die Tragödien, die die ältere Generation der jüngeren eigentlich gar nicht vermitteln kann, die jedoch praktisch jede koreanische Familie kennt. Angefangen bei der japanischen Besatzung, der Teilung des Landes durch die Russen und Amerikaner, über den Krieg und die nachfolgende innergesellschaftliche Spaltung, bis zur Flucht vieler Koreaner vor der Militärdiktatur und der anschließenden Unterdrückung in Japan. All diese Filme beschäftigen sich mit Vergangenem und lassen dabei politische und private Erinnerungen ineinander fließen.
Neben dieser zeitlichen Ausrichtung ist mir in einigen Filmen eine Fokussierung oder Konzentration auf bestimmte Orte aufgefallen. Im gerade erwähnten Yasukuni und seiner zentralen Erinnerungsstätte hat man ein Beispiel für eine Kombination von beidem. In einem Film wie Asyl - Park and Love Hotel kann man vielleicht eher von Zufluchtsorten sprechen.
„Zufluchtsort“ ist hier zutreffend, Asyl - Park and Love Hotel trägt das ja schon in seinem internationalen Titel: Asyl - Park and Love Hotel. Eine ähnliche Sichtweise ließe sich auch für Flipping Out behaupten, wenn auch vor einem viel heftigeren gesellschaftlichen Hintergrund. Die meisten jungen, israelischen Soldaten verspüren nach dem Militärdienst - und zwar Frauen wie Männer, weil dort auch Frauen Militärdienst leisten müssen - das riesige Bedürfnis, Israel erstmal hinter sich zu lassen. Trotzdem landen sie dann aber wieder in einem israelischen Mikrokosmos - Nordindien im Sommer, das südliche Goa im Winter - in dem es sowohl psychologische Betreuung als auch von Israelis eingerichtete Drogenentzugszentren gibt. Sie kommen also gar nicht richtig heraus aus ihrem Kosmos.
Darum geht es in Asyl - Park and Love Hotel eigentlich auch, aber eben nicht auf einer politisch-gesellschaftlichen Ebene, sondern eher auf einer individuellen Ebene von gesellschaftlich gestrandetem Zueinanderfinden und miteinander wieder Halt-Finden.
Aber solche Parallelen sind vage. Konkrete Gemeinsamkeiten sehe ich zum Beispiel zwischen Flipping out und Shahida. In letzterem geht es sozusagen um die andere Seite des Konfliktes, also die palästinensische, genauer gesagt um Frauen, die in Israel inhaftiert sind, weil sie Selbstmordattentate mit vorbereitet haben oder weil sie als (verhinderte) Selbstmordattentäterinnen verhaftet wurden. Aus unserer Sicht würde man von Terroristinnen sprechen, sie selbst verstehen sich jedoch als legitime Kämpferinnen für die palästinensische Sache. Diesen Konflikt in der Perspektive versucht der Film auch gar nicht aufzulösen, sondern nimmt vielmehr eine beobachtende Haltung ein. Ich finde es bemerkenswert für einen israelischen Film, wie ruhig er dieses Thema angeht, denn letztlich handelt es sich ja um Frauen, die Bomben in ihrem Land zünden wollten. Der Film schafft es, diesen Wahnsinn recht nüchtern zu beschreiben.
Ähnlich verhält es sich in Flipping out. Auch dort wird die Frage, was die israelischen Soldaten - die ja größtenteils auf palästinensischem Gebiet eingesetzt waren - eigentlich dort gemacht haben, um nun dermaßen „auszuflippen“, nur indirekt gestellt. In dieser Hinsicht passen die beiden Filme sehr gut zusammen.
Sich abheben vom Gängigen
RR von James Benning wird als Special Screening gezeigt. In Bennings Filmen nimmt die Selbstreflexivität des Kinoerlebnisses ja einen großen Platz ein, der Zuschauer wird im Blick auf die Leinwand sozusagen auf sich selbst zurückgeworfen und sieht - wenn man so will - sich selbst beim Bilderschauen zu.
Wenngleich das natürlich immer noch zutrifft, funktioniert sein neuer Film ein bisschen anders als die vorherigen. RR steht für Railroad und dementsprechend fahren in allen Einstellungen Züge. Benning hat auch in seinen früheren Arbeiten häufig Züge gefilmt, aber hier ist sogar die Länge der Einstellung der Länge der Züge angepasst. Neu ist auch, dass der meditative Aspekt, den seine Filme häufig hatten, hier durch die extrem lauten Zuggeräusche, gewissermaßen als störende Komponente, gebrochen wird. Während sonst eine andere Geräuschkulisse präsent war, man in einer Einstellung das Wasser plätschern hören konnte und in einer anderen den Wind in den Blättern, geht das hier nicht, weil das Donnern der Züge 90 Minuten lang quasi alles übertönt.
Filmische Reflexivität galt ja eine zeitlang quasi als Vorzeigemerkmal anspruchsvoller Filme. Findet man das im Programm wieder?
Aspekte von filmischer Reflexivität spielen in unserem Programm immer eine gewisse Rolle. Fast immer geht es in den Filmen auch um die filmische Form. Das hat damit zu tun, dass die meisten Filmemacher, deren Arbeiten wir im Forum zeigen, sich kritisch abheben wollen von dem, was gängig ist.
Ein gutes Beispiel dafür ist Wakamatsu Koji, der schon in den frühen Sechzigern zu einer Gruppe von japanischen Regisseuren gehörte, die sich nicht in das übliche japanische System einpassen mochten. Indem er Filme gedreht hat, die sozusagen pornographischen Ansprüchen genügt haben, hat er es letztlich mithilfe der Pornoindustrie geschafft, ein ganz anderes Kino zu finanzieren. Witzigerweise ist das im Ausland früher verstanden worden als in Japan selbst, wo er lange als reiner Schmuddelregisseur galt. Als er 1965 mit Secrets behind the wall auf der Berlinale im Wettbewerb lief, hielt man das in Japan für skandalös.
Jetzt hat er einen neuen Film gemacht und aus diesem Anlass zeigen wir auch drei seiner älteren Werke. Sein neuer Film United Red Army beschäftigt sich in erster Linie mit japanischer Politik, ist dabei aber auch sehr selbstkritisch. Wakamatsu war selbst politisch sehr linksorientiert und der japanischen Terrorgruppe United Red Army - quasi der japanischen RAF - nahe stehend. In seinem Film beschreibt er die Geschichte der militanten japanischen Studentenbewegung der 60er Jahre. Die Radikalisierung hat in Japan schon früher angefangen als in Deutschland oder in Europa. Nachdem die japanische Linke im zweiten Weltkrieg praktisch tot war und sich gezwungenermaßen in die japanische Staats- und Militärräson eingefügt hat - diese Vorgeschichte der 40er erzählt übrigens der Wettbewerbsfilm KABEI von Yamada Yoji - gab es in Japan schon in den 50er Jahren eine ganz starke Radikalisierung. Und an dieser Stelle setzt United Red Army ein und schildert die Geschichte der Studentenbewegung bis in die frühen 70er, als sich, hervorgehend aus militanten Fraktionskämpfen der Studenten, Terrorgruppen formierten.
Es gibt auffällig viele Filme aus dem südostasiatischen Raum, also Japan und den Philippinen, die von jüngeren Regisseuren sind. Liegt das an einer gesteigerten filmischen Aktivität?
Ja, das kann man auf jeden Fall sagen. Wir zeigen ja Filme von unangepassten Regisseuren und das sind erfahrungsgemäß eher die jüngeren. Natürlich gibt es Ausnahmen wie Wakamatsu und die haben wir selbstverständlich gern im Programm. Genauso verhält es sich auch in anderen Teilen der Welt. Zum Beispiel experimentiert Jacques Doillon aus Frankreich in seinem 27. Film immer noch mit Erzählformen.
Die hohe Anzahl japanischer Filme hat sich eher zufällig ergeben, aber es ist nicht zu übersehen, dass auf den Philippinen, in Indonesien, Singapur, Malaysia oder Thailand sehr viel mehr passiert als in früheren Jahren. Sehr persönliche, formal interessante und politisch sowie sozial relevante Filme. Da sind auf jeden Fall gewisse Globalisierungsprozesse im Gange.
Ich hatte den Eindruck, dass „Globalisierung“ in einigen Filmen eher unterschwellig bzw. in ihren individuellen Auswirkungen auftaucht und weniger als Gesamtstruktur thematisiert wird.
Der Begriff "Globalisierung" ist meiner Ansicht nach ein bisschen überstrapaziert, aber wir haben einige Filme, die sich mit den Auswirkungen solcher Prozesse auf Individuen beschäftigen, und das sind auffällig oft Kinder.
„Kindheit lässt sich nicht aufschieben“
Beispielsweise portraitiert La frontera infinita Menschen, unter ihnen zahlreiche Kinder, die von Mittelamerika, quer durch Mexiko in Richtung der US-amerikanischen Grenze ziehen und dabei enorme Risiken für ihr Leben auf sich nehmen. Wenn man sieht, wie hart diese jungen Menschen für eine bessere Zukunft kämpfen, stellt sich einem automatisch die Frage, was für eine Art von Kindheit ihnen eigentlich bleibt. Kindheit lässt sich nicht aufschieben, und wenn man schon als Kind nur auf die Zukunft ausgerichtet ist und nicht in der Gegenwart leben kann, hat man keine Kindheit.
Dasselbe gilt für die Kinder und Jugendlichen in dem irischen Film Seaview. Hier werden Flüchtlinge portraitiert, die in einem irischen Auffanglager auf ihren Asylbescheid warten. Diese Menschen haben - anders als in La frontera infinita - ihr Ziel Europa zwar erreicht, leben aber dennoch im Niemandsland des Auffanglagers. Die Kinder, die dort untergebracht sind, versuchen irgendwie, das Beste aus der Situation zu machen, letztlich werden aber auch sie um eine „unbeschwerte“ Kindheit gebracht.
Auch Balikbayan Box thematisiert den alltäglichen Überlebenskampf von Kindern, in diesem Fall in den ländlichen Gegenden der Philippinen. Die Filme Tirador und Tribu zeigen dagegen, wie Jugendliche sich in der Großstadt durchschlagen und um ihr Leben kämpfen müssen. Man kann diese Filme - wenn man will - unter dem Stichwort „Globalisierung“ verorten. Interessanter scheint mir aber die Frage, wie Zugehörigkeiten definiert und Verhaltensklischees repetiert werden. Zum Beispiel in Regarde-moi von Audrey Estrougo, einer jungen Filmemacherin aus Frankreich. Im Zentrum ihres Films stehen 24 Stunden in einer Cité, also in einer Pariser Vorstadt. Der Tag wird zweimal hintereinander erzählt und unterschiedlich inszeniert, nämlich einmal aus der männlichen Perspektive und einmal aus der weiblichen. Rollenklischees werden hier auf eine sehr spezielle Art beleuchtet. Die Protagonisten in Regarde-moi können ihnen insofern nicht entkommen, als sie quasi permanent unter Beobachtung stehen und sofort als Abweichler gebrandmarkt wären, würden sie ihr Verhalten ändern. Der Film bringt einem dabei sehr anschaulich nahe, wie sich Menschen über Verhaltensmuster und Rollen definieren. Das finde ich sehr spannend und in dieser Weise auch neu.
Wenn man sich dann so einen Film wie Shahida anguckt, wird deutlich, dass unter gesellschaftlichem Druck, hier im Gefängnis, oder in gesellschaftlichen Konflikten solche Muster noch viel stärker gefestigt und verinnerlicht werden.
Wolltet ihr mit Filmen zu islamischen Strukturen und Zusammenhängen gezielt auf aktuelle gesellschaftspolitische Diskussionen verweisen oder sind diese Filme eher zufällig im Programm?
Das ist eher Zufall. Natürlich spielt der Islam eine zentrale Rolle in Be Like Others von Tanaz Eshaghian. Die Filmemacherin stammt, soweit ich weiß, aus dem Iran, lebt aber in den USA. In ihrem Film geht es, verkürzt gesagt, um die Möglichkeit, im Iran Geschlechtsumwandlungen vorzunehmen. Transsexuelle sind nach islamischem Recht durchaus akzeptiert, denn der Koran erwähnt das Wort transsexuell nicht. Das bedeutet aber letztlich, dass der Dualismus von Mann und Frau nur verstärkt wird. Eine Konsequenz daraus ist, dass sehr viele Homosexuelle im Iran, die sonst schwere Strafen befürchten müssten, sich selbst als ein zweigeschlechtliches Paar definieren und Operationen über sich ergehen lassen, die sie eigentlich gar nicht nötig hätten - weil sie eben nicht wirklich transsexuell sind. Das wird im Film zwar nicht explizit ausgesprochen, aber man spürt es sehr stark. Darin kommt eben auch wieder zum Ausdruck, wie bestimmte Muster, die von Staat, Religion und Gesellschaft definiert werden, das Individuum biegen oder zerbrechen können.
Globale Verhaltensmuster
Ein deutscher Film, der gezeigt wird, ist Nacht vor Augen, eine Geschichte um einen aus dem Afghanistan-Einsatz zurückkehrenden Bundeswehrsoldaten. Bringt das eine aktuelle, politische Brisanz mit sich?
Die Ausgangssituation - ein traumatisierter Soldat kehrt aus einer Kriegssituation zurück - erinnert daran, dass deutsche Soldaten sich in einem kriegerischen Konflikt aufhalten in Afghanistan. Das hat sicher politische Brisanz. Aber auch dieser Film überführt sein Thema in andere Kontexte, denn nach seiner Rückkehr gefährdet der Protagonist einerseits die Beziehung zu seiner Freundin und macht andererseits seinen kleinen Bruder zur Geisel seines Traumas.
Man kann hier eine Parallele zu dem pakistanisch-australischen Film Son of a Lion erkennen. Dort will ein kleiner Junge gern zur Schule gehen, aber sein Vater, der selbst Waffen herstellt, will, dass sein Sohn das Gleiche tut. Sehr ähnliche Szenen, in denen das Kind sozusagen normiert werden soll, gibt es auch in Nacht vor Augen, wenn der größere Bruder den kleineren mit seinen Machtphantasien konfrontiert. Man kann schon fast von globalen Verhaltensmustern sprechen. So wird deutlich, dass die Frage nach dem Umgang mit Rollenklischees offenbar viele Filmemacher beschäftigt.
Mit Isabella Rossellinis Green Porno-Kurzfilmen und Guy Maddins My Winnipeg beginnt das Forum „lustvoll und verspielt“, wie die Sektion betont. Gibt es eigentlich immer noch das Vorurteil, das Forum sei zu ernsthaft und lustfeindlich?
Ich glaube nicht, dass unser Programm lustfeindlich ist oder von den Zuschauern so gesehen wird. Ganz im Gegenteil, wenn es irgendwo im Festival möglich ist, verspielt zu sein, dann doch am ehesten dort, wo man das Experiment schätzt und sich nicht um formale Grenzen schert. Verspielte Filme hat es schon immer gegeben. Wenn ich mir das Werk von Filmemachern wie Jonas Mekas angucke - was ist das anderes als spielerisch und zwar im schönsten Sinne.
Beim Stichwort "spielerisch" fällt mir auch gleich der australische Film Corroboree ein, in dem es ganz konkret um ein Spiel geht. Ein junger Schauspieler, wird von einem älteren Mann dafür bezahlt, Schlüsselsituationen aus dessen Leben nachzuspielen. Das ist extrem skurril, und wie die Figur in der Geschichte weiß man auch als Zuschauer nicht so genau, was da eigentlich passiert. Wenn dann in einer späteren Szene auch noch „I don’t wanna grow up“ von Tom Waits gesungen wird, ist klar, dass hier ganz programmatisch ein Recht auf Kindsein und Spielen verteidigt wird.
Das gibt es immer wieder, etwa in dem japanischen Film Musunde-Hiraite von Takahashi Izumi. Schon der Titel ist ein Kinderreim, den jedes japanische Kind im Kindergarten lernt. Der Film beginnt mit einem Taschenspielertrick. Ein paar Leute die sich eigentlich nicht kennen, sind nach einer Hochzeitsfeier in einer Bar gestrandet. Einer von ihnen führt einen Trick vor, bei dem die einzelnen Schlüssel vertauscht werden. Das ist sozusagen der spielerische Auftakt zu einem sozialen Experiment. Verspieltheit ist eine extrem wichtige Komponente. Die Voraussetzungen einer fiktiven, spielerischen Ausgangssituation sind in vielen Filmen gegeben und bedeuten meistens auch ein erzählerisches Experiment. Solche Stoffe sehe ich einfach lieber als einen Film, der sich nach dem letzten Drehbuchseminar von irgendeinem gescheiterten Hollywood-Autor definiert. Das ist doch furchtbar langweilig.
Mit dem Forum Expanded geht Ihr direkt auch in den Bereich der bildenden Kunst und Installationen. Kommen die innovativeren Ideen heute eher aus diesem Kontext und weniger aus dem Filmhochschulbereich?
Das kann man so pauschal nicht sagen, vor allem weil ja überhaupt erstmal der entsprechende Rahmen gegeben sein muss, da spielen ja auch ökonomische Zwänge eine Rolle. Ich denke, in der Kunstwelt sind insgesamt einfach mehr finanzielle Mittel vorhanden, weil Kunstliebhaber eben mehr Geld ausgeben als der Kinobesucher, der 8 Euro für sein Ticket bezahlt. Dadurch ist es in der bildenden Kunst leichter, verspielt und experimentell zu sein, was ja auch sehr gut ist. Oder man ist als Schauspielerin so bekannt wie Isabella Rossellini und kann es sich leisten, mit dem eigenen Image zu spielen. In ihren Green Porno-Filmen - die sie selbst als pornographisch bezeichnet, was sie aber natürlich nicht wirklich sind - inszeniert sie sich selbst als männliches Insekt und zeigt zum Beispiel, dass zwei Würmer, wenn sie es miteinander treiben, es in der 69er Position machen. Es ist großartig und witzig. Und das versuchen wir auch in der Präsentationsform aufzugreifen, indem wir die Clips nicht nur als Vorfilme zu My Winnipeg zeigen, sondern sie auch spielerisch in Szene setzen und in Terrarien auf kleinen Bildschirmen screenen. Da betrachtet man sozusagen Isabella Rossellini als Insekt im Terrarium.