2009 | Forum
Schöpferische Traditionsbrüche
Mit einer Fülle ästhetischer Unterfangen und starker Inhalte zeigt das Forum 2009, dass der Blick für die großen Zusammenhänge und die präzise Erkundung kleiner Situationen sich gegenseitig bedingen. Der Leiter der Sektion Christoph Terhechte im Interview zum diesjährigen Programm.
Ein Blick ins Programm verrät, dass neben jungen Filmemachern in diesem Jahr auch wieder eine Reihe von bekannten Gesichtern und „alten Hasen“ im Forum zu Gast sind. Ist das anders als in den letzten Jahren?
Tatsächlich sind zum Forum 2009 ein paar mehr „Wiederholungstäter“ eingeladen als 2008. Wobei sich als „alte Hasen“ ja in dem Sinne nur zwei deutsche Regisseure bezeichnen lassen, nämlich Ulrike Ottinger und Harun Farocki, der jetzt allerdings 19 Jahre lang nicht beim Forum war. Insofern hat er genauso wenig ein Abonnement auf einen Programmplatz wie Ulrike Ottinger, obwohl wir in den letzten Jahren mehrmals ihre Filme gezeigt haben. Insgesamt überwiegt aber auch 2009 wieder der Anteil jüngerer Regisseure bei uns, die meisten sind mit ihrem zweiten oder dritten Werk zu Gast.
Wie Yoav Shamir, der letztes Jahr mit Flipping Out im Programm war und nun mit Defamation einen ziemlich brisanten Stoff präsentiert?
Defamation beginnt als ein Film über den Antisemitismus und Menschen, die sich aufgemacht haben, den Antisemitismus weltweit zu bekämpfen und aufzuzeigen. Er stellt im Laufe seiner Untersuchungen jedoch fest, dass das Beharren auf dem Antisemitismus auch ein profitables Geschäft sein kann. Und der andere, vielleicht noch dramatischere Befund in Shamirs Film ist, wie junge Menschen in Israel systematisch und massenwirksam eingeimpft bekommen, dass die ganze Welt die Juden hasse und man sich als Israeli eigentlich nur über diese weltweite Feindschaft definieren könne. Von diesen Feindbildern, die gebraucht und produziert werden, handelt Defamation.
Das hört sich nach einem schwierigen Thema an, weil man immer Gefahr läuft, in einen diskursiven Teufelskreis zu geraten.
Es ist ein sehr schwieriges Thema, und ich glaube nicht, dass der Film sich allzu viele Freunde in Israel machen wird. Nichtsdestotrotz halten wir den Film für unbedingt zeigenswert, zumal es einen weiteren Beitrag im Programm gibt, der quasi ein passgleiches Gegenstück zu Defamation bildet.
Letters to the President von Petr Lom beschäftigt sich ebenso mit der Manipulation öffentlicher Meinung. Der „President“, um den es geht, ist Mahmud Ahmadinedschad und die „Letters“ sind Briefe, die zu schreiben das iranische Volk animiert wird. Millionen von Bittschriften, in denen die Menschen angeblich dem Präsidenten ihre Sorgen mitteilen, und derer er sich dann mit all seiner Fürsorglichkeit persönlich annimmt. Eine derartige Suggestion von Volksnähe ist schon ein Stück ziemlich heftiger Propaganda. Der Film verdeutlicht, wie die Menschen anhand dieser Form der Identitätsprägung außerdem dazu gebracht werden sollen, sich dem vermeintlichen Hass entgegenzustellen, den die gesamte nicht-islamische Welt – allen voran natürlich die angeblich weltbeherrschenden Juden – gegen die Muslime hege.
In Letters to the President findet sich spiegelbildlich also genau die gleiche Form des Repetierens einer Opferrolle, der Definition und Identifikation eines ganzen Volkes und einer Religionsgemeinschaft durch das Opfer-Sein, wie sie in Defamation dargestellt wird. Und diese Entsprechung erklärt auch, warum sich im Israel-Palästina-Konflikt beide Seiten als die Geprügelten empfinden und produzieren. Keiner sieht, dass man aus diesem Teufelskreis nur herauskommt, wenn man auf den Boden der Tatsachen zurückkommt und feststellt, dass weder die ganze Welt etwas gegen Muslime noch die ganze Welt etwas gegen Juden hat, sondern die meisten Menschen in erster Linie gerne Frieden hätten. Die beiden Filme sind sehr gut geeignet, diese Diskussion anzustoßen.
Balance zwischen Film und Geschichte
Auch bei anderen Dokumentarfilmen fällt in diesem Jahr der starke Bezug zu gesellschaftspolitischen Themen auf.
Das Thema der Manipulation öffentlicher Meinung ist auch in dem kanadischen Dokumentarfilm L’encerclement von Richard Brouillette ganz zentral. Im Mittelpunkt steht eine fast sektiererische, elitäre Gruppe von Neoliberalisten, die die Mär von der freien Entfaltung und Selbstkontrolle des Marktes einst in die Welt setzten und es letztlich mit dieser Doktrin geschafft haben, die gesamte globale Wirtschaft zu durchdringen. Diese Leute sagen sogar vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise noch, die einzige Lösung bestünde darin, sämtliche Wirtschaftsschranken fallen zu lassen.
Das behaupten sie tatsächlich jetzt noch?
Na klar, wenn auch nicht im Film, der bereits vorher fertig gestellt worden ist und einfach jetzt zu einem sehr passenden Zeitpunkt kommt. Er dokumentiert hauptsächlich in Interviews - und zwar auf eine sehr intelligente und sorgfältige Weise –, wie es dieser kleinen Gruppe möglich war, die öffentliche Meinung, speziell im Wirtschaftsleben, derart zu beeinflussen. Ein sehr spannender, intellektueller Diskurs, der da geführt wird.
Ein weiterer Dokumentarfilm, der das Thema der öffentlichen Meinungsbildung ganz unpolemisch darstellt, ist der israelisch-französische Beitrag von Raphaël Nadjari A History of Israeli Cinema. Nadjari legt hier, wie der Titel bereits verrät, eine Geschichte des israelischen Kinos vor. Das Schöne an dem Film ist, dass er sich nicht auf die Geschichte des Kinos beschränkt, sondern die des Landes gleichwertig miterzählt. Es gibt viele historische Filme, die das Kino sozusagen missbrauchen als Beleg und Zeugnis für bestimmte historische Entwicklungen, und es gibt viele Filmgeschichten, die sich nicht um soziologische und historische Hintergründe kümmern. Dieser Film jedoch hält die Balance und erklärt das eine aus dem anderen. Er zeigt, warum und wann bestimmte historische Entwicklungen entsprechende Filme gebraucht und hervorgebracht haben und wie die Filme wiederum Einfluss auf die Stimmung im Lande hatten. In einem unaufgeregten Sinne ist A History of Israeli Cinema also ein Film über die wichtige Rolle der Medien und nicht zuletzt des Films für die öffentliche Meinungsbildung.
Natürlich zeigen wir aber auch viele Filme, die sich auf einer anderen Ebene mit gesellschaftspolitisch interessanten Themen beschäftigen, dabei aber nicht unbedingt auf den großen Zusammenhang hinauswollen. Zum Beispiel The Mermaid and the Diver von Mercedes Moncada Rodríguez, ein sehr stiller, poetischer, fast märchenhafter Film. Oder Mr Governor von Måns Månsson, der, obwohl es um Politik geht, gar nicht politisch in einem substanziellen Sinne sein will, sondern vielmehr phänomenologisch beobachtet, wie Politik sich inszeniert. Ungewöhnlich ist auch der fast vierstündige, chinesische Dr. Ma’s Country Clinic, der im Ganzen genommen durchaus als Dokumentarfilm über die Chancen- und Perspektivlosigkeit chinesischer Landbevölkerung und Wanderarbeiter funktioniert. Sein spezifisches Interesse gilt allerdings den einzelnen Menschen, den Klinikpatienten, die mit ihren Gebrechen zur Behandlung kommen und gleichzeitig von ihren psychischen Problemen und ihren Lebenssituationen berichten.
Erfreulicherweise gibt es im Programm auch zwei osteuropäische Filme, die mit viel Ironie und Witz den Zustand einer Gesellschaft aufs Korn nehmen. In dem rumänischen Beitrag The Happiest Girl in The World gewinnt ein Mädchen ein Auto und soll dann in einem Werbespot das besagte glücklichste Mädchen der Welt spielen, was wirklich komisch wird. Und Help Gone Mad von Boris Khlebnikov ist die Geschichte eines Belorussen, der als Hilfsarbeiter nach Moskau kommt. Dort wird er von einem alten Ingenieur von einer Parkbank aufgesammelt und mit in dessen warme Wohnung genommen. Ehe er sich versieht, ist er tief in seltsame Unternehmungen involviert und merkt dabei nach und nach, dass der Alte total wahnsinnig ist. Bei allem Humor, den der Film vermittelt, wirft Help Gone Mad ein ziemlich bitteres Licht auf das heutige Putin-Russland.
Das Programm ist also insgesamt kein kämpferisch-politisches Programm in dem Sinne.
Nicht unbedingt kämpferisch, aber es werden doch in vielen Filmen größere Rahmen aufgemacht und Zusammenhänge einbezogen.
Ja natürlich, letztlich gilt das auch für so einen Film wie Mental von Soda Kazuhiro aus Japan. Dort geht es neben ganz konkreten Fällen ohne Zweifel auch um die Frage, wie man generell mit psychisch kranken Menschen umgeht.
Spektrum filmischer Möglichkeiten
Die menschliche Psyche wird in vielen Filmen in Augenschein genommen – besonders aufgefallen ist mir das Motiv des Traumas. Wie sehen die formalen Auseinandersetzungen mit diesen psychischen Dimensionen menschlichen Lebens aus?
Die filmischen Verarbeitungen sind natürlich sehr unterschiedlich. Es gibt so symbolistische Filme wie Winterstilte von Sonja Wyss, der sich in erster Linie um lustvolle Begierde und die Unterdrückung weiblicher Sexualität dreht. Die Handlung ist in der Schweiz vor – ich weiß nicht wie vielen – Jahren angesiedelt, als die Realität auf so einem Schweizer Bergdorf noch nicht wirklich angekommen war. Ein ziemlich archaisches Umfeld also.
Eine andere Variante des Umgangs liefert Can Go Through Skin, der versucht, die psychischen Verletzungen und Wahnvorstellungen einer Frau, die mehrere Traumata erlitten hat direkt in Bilder zu übertragen. Neben eher neorealistischen Darstellungen wie in Naked of Defenses, der den Seelenzustand einer Frau nach einer Fehlgeburt beschreibt, sind auch Filme wie Love Exposure zu sehen, der sich ebenfalls mit psychischen Traumata und Wunden auseinandersetzt, das Ganze aber auf eine extrem grafische, fast comic-hafte Weise visualisiert. Diese vielen verschiedenen Formen, mit dem Themenkomplex umzugehen, bedienen im Grunde das Bestreben des Forums, möglichst das ganze Spektrum filmischer Ausdrucksmöglichkeiten im Programm zu zeigen.
Als weiteres Motiv lässt sich die Beziehung zwischen den Generationen und die Frage der Traditionsbewahrung ausmachen.
Ein schönes Beispiel dafür ist Deep in the Valley von Funahashi Atsushi. Der Filmemacher siedelt den Generationenkonflikt in Yanaka an, einem Viertel im Nordosten Tokios, in dem man den Geist des alten Tokio noch spüren kann. Die Erinnerung an eine fünfstöckige Holz-Pagode, die 1957 abgebrannt ist, dient sozusagen als Aufhänger für die filmische Auseinandersetzung mit dem Traditionsbewusstsein der Menschen vor Ort. Interessant ist, dass es ein Dokumentarfilm ist, der auch Spielfilmebenen mit einschließt. Die eine Handlungslinie ist im Jetzt angesiedelt und erzählt von einem Filmclub, der nach 8mm-Material von dem Brand sucht. Eine zweite Linie behandelt, ausgehend von einem japanischen Roman, den Bau der Pagode. Dort muss ein junger Architekt mit seinem Lehrmeister brechen, um die damals neuartige Pagode errichten zu können, welche schließlich zu einem Meisterwerk japanischer Architektur geworden ist. Gerade dieser junge Mann also, der damals die Unmöglichkeit begangen hat, seinen alten Meister vom Thron zu stoßen, wird von den Alten heute als einer der großen Traditionsstifter bewundert. Das relativiert den Generationenkonflikt auf eine sehr schöne Weise, wie ich finde.
Starkes koreanisches Kino
Ihr habt ja immer wieder viele Filme aus dem asiatischen Raum - letztes Jahr besonders aus Japan und Südostasien, den Philippinen. Wie sieht es mit der Verteilung dieses Jahr aus?
Es sind wieder einige Filme aus Japan im Programm. Aus und über Thailand ist Citizen Juling von Ing K und Kraisak Choonhavan und wir freuen uns mit Garin Nugrohos The Blue Generation auch einen indonesischen Film präsentieren zu können. Sicherlich hätten wir in dem Zusammenhang gern mehr gezeigt, aber solche Akzente ergeben sich oft eher aus dem bestehenden Angebot, als das man es darauf anlegt.
In diesem Jahr bildet einen solchen Akzent das koreanische Kino, was mich selbst sehr überrascht hat. Nachdem das koreanische Kino vor ein paar Jahren noch der Motor der ostasiatischen Filmindustrie gewesen ist, liegt es heute eigentlich wirtschaftlich am Boden. Trotzdem haben wir dieses Jahr mehrere Filme aus Korea im Programm. Die meisten sind eher als Low-Budget-Filme zu bezeichnen, bringen aber einen ganz eigenen, ungeheuren Stil mit. Zwei der Filme sind Abschlussarbeiten der Filmhochschule KAFA, der Korean Academy of Film Arts: The Day After von Lee Suk-Gyung und Members of the Funeral von Baek Seung-Bin. Treeless Mountain von So Yong Kim ist nicht direkt ein koreanischer Film. Die Filmemacherin hatte schon In Between Days in Kanada gemacht, mit dem sie 2006 beim Forum war und der sich frei an ihrer eigenen Jugend orientierte. In Treeless Mountain erzählt sie nun motivisch von ihrer frühen Kindheit, welche sie in Südkorea verbracht hat.
Land of Scarecrows ist mit seiner romanesken Art und der gleichzeitigen extremen Reduziertheit für einen koreanischen Film sehr ungewöhnlich. Der Synopsis nach würde man sich in einem fünfbändigen russischen Roman des 19. Jahrhunderts vermuten, aber in Wirklichkeit ist es ein ganz zurückhaltender, sehr einfacher Film im besten Sinne des Wortes.
Und nicht zuletzt zeigen wir My Dear Enemy von dem renommierten Regisseur Lee Yoon-Ki und mit der wahnsinnig tollen Jeon Do-yeon in der Hauptrolle, die vor zwei Jahren für Secret Sunshine den Darstellerinnen-Preis in Cannes bekommen hat. Der Film ist eine sehr präzise erzählte Geschichte über die ambivalente Beziehung eines ehemaligen Paares.
Diese Filme zusammengenommen ergeben ein Panorama des halb-kommerziellen koreanischen Kinos, welches offensichtlich immer noch floriert, während sich auf der mittleren Ebene des kommerziell ambitionierten Arthouse-Kinos gerade sehr wenig tut. Das war eine erfreuliche Überraschung. Aber nicht nur das koreanische, sondern das gesamte asiatische Kino – vom Nahen Osten über China und Japan bis Südostasien – ist wieder stark bei uns vertreten. Betrachtet man den geringen Anteil asiatischer Produktionen im diesjährigen Wettbewerb, füllen wir diese natürlich gerne, zumal das Forum sich immer ein bisschen als Ergänzung zum offiziellen Festivalprogramm verstanden hat.