2018 | Retrospektive
„Wir wollen den Blick tatsächlich weiten“
Sektionsleiter Rainer Rother über die Filmauswahl, thematische Relevanz und Zukunftsaussichten der Retrospektive „Weimarer Kino – neu gesehen“
In der Retrospektive zeigen Sie knapp 30 Filme. Von diesen werden in den klassischen Darstellungen des Weimarer Kinos allerdings die wenigsten erwähnt. Siegfried Kracauer behandelt in seinem Buch „Von Caligari zu Hitler“ gerade einmal zehn der Filme, die in der Retrospektive laufen, Lotte Eisner in ihrer „Dämonischen Leinwand“ sogar nur sechs oder sieben. Wollen Sie den Kanon sprengen?
Wir wollen den Blick tatsächlich weiten. Wichtige Kriterien bei der Vorbereitung waren: Wo sind außerhalb des Kanons interessante Entdeckungen möglich? Und welche dieser Filme überzeugen heute noch so, dass wir sie dem Berlinale-Publikum vorstellen möchten? Mit dieser Fragestellung haben wir uns selten gezeigte Archivkopien angesehen, aber auch aktuelle Restaurierungen, durch die manche Filme überhaupt erst wieder zugänglich werden. Ausgewählt haben wir beispielsweise den in Vergessenheit geratenen und jetzt rekonstruierten zweiteiligen Film Urban Gads, der auf Jakob Wassermanns literarischer Vorlage von 1919 „Christian Wahnschaffe“ basiert: Christian Wahnschaffe, Teil 1: Weltbrand und Christian Wahnschaffe, Teil 2: Die Flucht aus dem goldenen Kerker.
Der Titel „Weimarer Kino – neu gesehen“ hat für uns aber noch eine weitere Bedeutung. Selbst viele der kanonischen Werke jener Zeit waren lange Zeit nur in schlechtem Zustand verfügbar. Die zunehmende Zahl hochwertiger digitaler Restaurierungen macht es jetzt möglich, auch scheinbar bekannte Filme neu zu entdecken. Es ist außerordentlich spannend, einen Film, den man zu kennen glaubt, plötzlich in einer Version zu sehen, die in ihrer Qualität womöglich nicht weit entfernt ist von der Premierenkopie.
Bei der Vorbereitung einer Retrospektive stehen Sie in Kontakt mit zahlreichen Institutionen. Inwieweit konnten Sie von vorangegangenen Initiativen zu einer Neubewertung der Filmgeschichte in Deutschland profitieren?
Die Grundlage dieser Retrospektive ist die Arbeit der Filmarchive, die sich ja nicht darauf beschränken, nur die Meisterwerke zu bewahren, sondern das Ziel haben, die ganze Bandbreite des Weimarer Kinos zugänglich zu machen. Anregungen für die Vorauswahl der Filme lieferten unter anderem die vom Hamburger CineGraph kuratierte Reihe „The Other Weimar“ beim Stummfilmfestival in Pordenone 2007 mit 15 Stummfilmen und die mehr als 70 Filme umfassende Retrospektive „Weimar Cinema, 1919–1933: Daydreams and Nightmares“ im Museum of Modern Art von 2010/11, an der auch die Deutsche Kinemathek mitgewirkt hat. Hilfreich war auch die Reihe „Wiederentdeckt“, in der CineGraph Babelsberg seit 25 Jahren im Berliner Zeughauskino regelmäßig wenig bekannte Filmproduktionen aus dieser Epoche vorstellt.
Die Filmindustrie in Deutschland war zwischen den Weltkriegen die produktivste Europas. Dementsprechend groß dürfte der Fundus sein, der Ihnen zu Verfügung stand. Unter welchen thematischen Gesichtspunkten haben Sie die Filme ausgewählt?
Deutschland hatte in den 1920er Jahren die höchste Zahl an Kinos in Europa und produzierte für ein Massenpublikum von bis zu zwei Millionen Zuschauern täglich, die sich vor allem Unterhaltungsfilme ansahen. Uns interessierten besonders Themen, die sich quer durch die unterschiedlichen Genres und Filmstile dieser blühenden Filmwirtschaft ziehen. In die Vorauswahl haben wir über 200 Filme einbezogen. Die 50 bekanntesten Titel des Weimarer Kinos haben wir dabei von vornherein ausgeschlossen – es sei denn, sie wurden in jüngerer Zeit restauriert, wie das beispielsweise bei G. W. Pabsts Abwege (1928) wie auch bei Kameradschaft (1931) der Fall ist. Schließlich haben wir drei Schwerpunkte ausgewählt und uns auf diese konzentriert: „Alltag“, „Geschichte“ und „Exotik“. Ein besonderes Augenmerk legten wir zudem auf experimentelle Ansätze bei der Gestaltung der Filme, beispielsweise im Umgang mit Ton, der ja in dieser Zeit eingeführt wurde.
In welchen Formen kommt der Alltag in den ausgewählten Filmen denn zum Ausdruck? Es sind doch mehrheitlich Spielfilme, die Sie zeigen, und nur wenige Dokumentarfilme. Oder gibt es auch Mischformen?
Mit ihrer Hinwendung zur Neuen Sachlichkeit haben in diesen Jahren viele Spielfilme die Wirklichkeit in ihre Geschichten einfließen lassen. Das gilt beispielsweise für Werner Hochbaums ausschließlich mit Laien besetzten Film Brüder (1929), der vor dem Hintergrund des Hamburger Hafenarbeiterstreiks von 1896/97 den Alltag im Hamburger Hafen zeigt und darüber einen stark dokumentarischen Stil und Gehalt gewinnt. Vielen der Filme ist es ein Anliegen, soziale Fragen anzusprechen. So wollte etwa Gerhard Lamprecht mit seiner Berliner Kindertragödie Die Unehelichen (1925) sehr realitätsnah das Leben der unterschiedlichen Klassen, der Arbeiterschaft und des Bürgertums, abbilden. Alexis Granowskys Das Lied vom Leben (1931), der stark zum Experimentellen tendiert, sorgte für einen Zensurskandal vor allem, weil er dokumentarische Bilder einer Geburt in einem Kreißsaal enthält. Sprengbagger 1010 (Karl-Ludwig Acház-Duisberg, 1929), mit der Maschinenmusik des Schönberg-Schülers Walter Gronostay ebenfalls ein Film-Experiment, ist in der Darstellung der technischen Abläufe im Braunkohle-Tagebau ungemein nah am Alltag, obwohl er ansonsten keinen realistischen Anspruch verfolgt. Immer wieder erleben wir auch die Verflechtung einer melodramatischen oder einer humorvollen Geschichte mit dem Alltag. Am unmittelbarsten scheint der Alltag aber in einem Kurzfilmprogramm auf. Hier findet man weitgehend ungefiltert das Berlin um 1930, das man hätte wahrnehmen können, wäre man damals einen Tag lang durch die Straßen geschlendert. Es führt zum Wittenbergplatz in Markt in Berlin (Wilfried Basse, 1929) und zum Alexanderplatz in Alexanderplatz Überrumpelt (Peter Pewas, 1932-34), aber auch in verrufenere Ecken der Stadt in Polizeibericht Überfall (Ernö Metzner, 1928).
Und in welche Weltgegenden führen uns die exotischen Filme?
In nahezu alle. Und dies allein schon in dem Dokumentarfilm Im Auto durch zwei Welten (Clärenore Stinnes, Carl-Axel Söderström, 1927-31), der auf einer von Clärenore Stinnes tatsächlich durchgeführten Weltreise beruht. Dabei handelt es sich um eine Dokumentation des Exotischen, die aus unserer Sicht sowohl herausfordernd wie auch manchmal fragwürdig ist. Das gilt auch für Menschen im Busch (Friedrich Dalsheim, Gulla Pfeffer, 1930), einer ethnologischen Studie in Togo. In einer langen Eröffnungssequenz spricht der letzte Gouverneur der einstigen deutschen Kolonie und erschüttert heutige Zuschauer*innen mit seinem rassistisch und kolonialistisch geprägten Weltbild. Im Anschluss daran gehen Ethnologin Gulla Pfeffer und Expeditionsleiter Friedrich Dalsheim neue Wege und lassen die porträtierte togolesische Familie selbst zu Wort kommen, statt aus dem Off zu kommentieren. Diese Zweideutigkeiten, Ambivalenzen – gerade auch des Dokumentarischen, soweit es sich um exotische Themen handelt – werden im Programm deutlich sichtbar. Dabei haben wir versucht, die Vielfalt der Genres darzustellen und zu zeigen, mit welch unterschiedlichen filmischen Mitteln man sich an diese fernen Wirklichkeiten anzunähern versuchte. Das reicht vom ethnologischen Ansatz in Menschen im Busch bis hin zu dem exotisch daherkommenden Spielfilm Opium (Robert Reinert, 1919), der nahezu vollständig im Studio entstand und in dem die chinesischen Protagonist*innen von deutschen Schauspieler*innen verkörpert werden. In ihm ist viel Klischeehaftes enthalten – ein Asienbild, das mehr mit damaligen Fantasiewelten und Sehnsüchten zu tun hat als mit der Wirklichkeit.
Überraschenderweise zählen Sie aber auch die Alpen zu den exotischen Weltgegenden.
Der Bergfilm ist natürlich auch eine Spielart des Exotischen, gerade in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Der Kritiker Béla Balázs hat sich für Bergfilme zum Beispiel von Arnold Fanck eben deshalb so begeistert, weil sie für ihn ein Genre repräsentierten, das weit über die Konventionen des Spielfilms hinausging. Für ihn waren die Narrationen deutlich weniger wichtig als die Darstellungen einer Realität, die den Städtern nicht zugänglich war. An Leni Riefenstahls fantastischer Berglegende Das blaue Licht (1932) hat er als Co-Autor sogar mitgewirkt. Auch das 2016 restaurierte Bergdrama Der Kampf ums Matterhorn (Mario Bonnard, Nunzio Malasomma, 1928), basierend auf der realen Geschichte der Erstbesteigung des Matterhorns, ist letztlich die Darstellung einer für die Menschen damals ganz exotischen Welt – fast genauso exotisch wie das Indien im Spielfilm Die Leuchte Asiens (Franz Osten, 1925), der Episoden aus der Jugend des Gautama Buddha erzählt und zugleich einen touristischen Blick auf das Land wirft.
Nun waren die 1920er und frühen 1930er Jahre eine politisch aufgeregte und konfliktreiche Zeit. Spiegelt sich das in den Filmen wider?
Ja, durchaus. Das Lied vom Leben oder Brüder nehmen explizit auf die damals aktuelle politische Situation Bezug. Wenn Hochbaum einen Hafenarbeiterstreik um 1900 rekonstruiert, hat das zugleich sehr viel mit der politischen Realität zu tun, in der sich die Filmemacher selbst bewegten. Ich denke, dass sogar eine charmante Tonfilmoperette wie Ihre Majestät die Liebe (Joe May, 1931) auf ihre Weise vom Alltag spricht. Es ist eine von vielen Tonfilmoperetten, die auf eine sozial sehr schwierige Situation blickten und auch Klassenverhältnisse spiegeln. Und einen Film wie Die Unehelichen wird man ohne weiteres als sozialkritisch bezeichnen dürfen.
Auch der Blick auf die Historie war damals häufig politisch geprägt. Aus welchen Perspektiven schaut die Retrospektive auf die geschichtliche Vergangenheit zurück?
Die historischen Filme in unserer Auswahl eint, dass ihre Hauptfiguren in der Regel Antihelden sind, gebrochene Charaktere. So etwa in Heimkehr (Joe May, 1928), wo es um die Rückkehr der Männer aus dem Ersten Weltkrieg geht und um die Frage, was diese Rückkehr für eine Frau bedeutet, die jahrelang auf ihren Mann gewartet hat. In Die andere Seite (Heinz Paul, 1931) spielt Conrad Veidt einen britischen Offizier, der vom Krieg schwer traumatisiert und dem Alkohol verfallen ist. Wir sehen hier durchweg Figuren, die reflektieren und Menschliches, Tragisches zeigen. Das macht diese Filme so stark und auch heute noch interessant. In dieser Hinsicht ist Ludwig der Zweite, König von Bayern (Wilhelm Dieterle, 1930) einer der bewegendsten Filme, wenn er den Märchenkönig als eine gebrochene Figur, immer in der Nähe zum Irrsinn, zeigt. Besonders sehenswert ist auch Der Katzensteg (1927) von Gerhard Lamprecht. Wir nehmen ja von Preußenfilmen an, dass sie in einer bestimmten ungebrochenen Tradition die preußischen Tugenden verherrlichen. Aber dieser Film ist vollkommen anders: Er hat überhaupt keine Sympathie für preußische Tugenden, sondern schaut hinter diese Fassade und erzählt ganz bitter eine Geschichte aus den antinapoleonischen Kriegen – das ist die Aufkündigung jeder Verherrlichung. Und selbst der in Geiselgasteig realisierte Historienfilm Der Favorit der Königin (Franz Seitz sen., 1922), in dem man die Münchener Antwort auf die Babelsberger Großproduktionen sehen kann und der im England des 16. Jahrhunderts spielt, ist 1922 ein Verweis auf eine Gegenwart, die in Unordnung ist, die nach Geschichten verlangt, die Ambivalenzen aufweisen. Das macht diese Epoche bis heute so faszinierend und erinnert uns auch immer wieder an die jetzige Zeit. Diese Darstellungen einer polarisierten Gesellschaft sind hochaktuell.
Die Jahre zwischen 1918 und 1933 waren auch eine Zeit der rasanten filmtechnischen Entwicklung. Sind in der Retrospektive auch solche technischen Neuerungen zu bestaunen?
Am reizvollsten treten sie wohl im Kurzfilmprogramm „Experimente mit Ton und Farbe“ zutage. In dieser Auswahl sind unter anderem Arbeiten von Avantgardekünstlern wie Hans Richter und Oskar Fischinger zu sehen. Das Programm beginnt mit Filmen von 1922, die mit den damals bekannten Möglichkeiten, Filme farbig zu gestalten, arbeiten – also mit Virage und Kolorierung. Es folgen Filme, die die neuen Farbverfahren vorstellen, die Ende der 20er Jahre in Deutschland entwickelt wurden – darunter das seltene Zweifarben-Verfahren von Sirius-Kleuren. Damit schreiben wir auch unsere Technicolor-Retrospektive fort: In Hollywood wurde ja damals das Zwei-Farben-Technicolor-Verfahren entwickelt. Ufacolor und Gasparcolor, die wir hier nun präsentieren, waren konkurrierende Techniken. Seiner Zeit voraus war der Münchener Tonfilmer Rudolf Pfenninger, auf dessen Experimente mit einer auf den Filmstreifen gezeichneten „Tönenden Handschrift“ sich später Avantgardisten wie Malcolm McLaren ausdrücklich bezogen haben.
Das Großstadtdrama Morgen beginnt das Leben ist erkennbar der jüngste Film der Retrospektive. Er spielt am 21. April 1933 und wurde tatsächlich erst nach dem 30. Januar, also nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, gedreht. Warum läuft er in einer Retrospektive mit Filmen der Weimarer Republik?
Morgen beginnt das Leben (Werner Hochbaum, 1933) ist ein Film, der die Stärken des Weimarer Kinos in seiner Bildsprache und seiner Experimentierfreude noch einmal aufgreift. Gleichzeitig verweist er auf das, was am Anfang der NS-Herrschaft im Kino gerade noch möglich war – eine Vielfalt, die nach kurzer Zeit ausgeschaltet wurde. Er führt noch einmal vor Augen, was im Kino hätte sein können, wenn nicht diese Entwicklung durch die Nationalsozialisten unterbrochen worden wäre. Er ist für uns eine Art Schlusskommentar.
Morgen beginnt das Leben ist ein gutes Stichwort, um in die nähere Zukunft zu blicken. Welche Folgen wird die Retrospektive für die filmischen Neuentdeckungen haben?
Wir haben die begründete Hoffnung, dass unsere Auswahl andere Festivals und Programmkinos dazu anregen wird, Filme aus dem Programm zu zeigen. Dazu zählen ja zahlreiche Filme, die noch niemals außerhalb Deutschlands liefen und die mit den für die Berlinale angefertigten englischen Untertiteln erstmals einem internationalen Publikum zugänglich sind. Auch haben wir mit der Auswahl schon ein weiteres Projekt angestoßen. Von Der Katzensteg ist bei der Berlinale noch eine 16-mm-Kopie zu sehen, aber demnächst wird der Film – basierend auf überliefertem 35-mm-Material – restauriert. Das zählt natürlich zum Schönsten bei einer Retrospektive, wenn sie einem alten Film zu neuem Leben verhelfen kann.