2012 | Generation
Vom Aufwachsen
2012 geht Generation ins 35. Jahr und zum zweiten Mal mit eigener Spielstätte – dem Haus der Kulturen der Welt – ins Festival. Sektionsleiterin Maryanne Redpath und ihr Stellvertreter Florian Weghorn über die Lust der Jugend am Entdecken der Sexualität, fast zerstörte Kulturen und die Komplexität eines glücklichen Endes.
Mit Blick auf das diesjährige Programm fällt auf, wie viele Filme eine Flucht zum Thema haben – manchmal aus der Not, manchmal sehr sehnsuchtsvoll.
Maryanne Redpath: Das stimmt. Das Ausbrechen, Wegbrechen, das passiert in vielen unserer Filmen. Viele der jungen Protagonisten folgen ihren Träumen oder flüchten aus einer Struktur – gesellschaftlich, kulturell oder politisch – in der sie sich gefangen fühlen. Im 14plus-Eröffnungsfilm Electrick Children von Rebecca Thomas ist es die Religion, die das Korsett zu eng schnürt. Die Protagonistin ist mormonisch aufgezogen worden, sehr streng und keusch. Mit 15 Jahren glaubt sie, dass sie durch das Hören eines verbotenen Musikstücks schwanger geworden ist. Sie bricht aus der familiären Enklave aus und geht nach Las Vegas. Dort tut sie sich mit einer punkigen Musikergruppe zusammen, also mit Jugendlichen für die Musik, Drogen und Sex zum Alltag gehören. Diesem Umfeld begegnet das Mädchen in seiner Naivität und seinem Glauben und kommt überraschend gut zurecht. Sie ruht in sich selbst und ist zugleich auf der Suche nach sich selbst. Schritt für Schritt nähert sie sich dem, was jenseits der Grenzen ihrer Erziehung liegt.
Wie ist Las Vegas inszeniert?
MR: Es ist laut, grell, konsumistisch, das genaue Gegenteil des Ortes, von dem sie stammt. Denn dort gibt es keine Musik, keine Neonlichter.
Florian Weghorn: Ihre erste Assoziation mit Las Vegas ist ein biblischer Ausspruch: „Am Anfang war das Wort“. Sie nimmt die Stadt mit dem Blick einer Gläubigen wahr, liest die Schilderwälder voller Wörter und die verschiedensten Leuchtschriften auf ihre Weise. So begegnen sich die beiden Welten und finden ihre Überschneidungen.
MR: Es ist ein unterhaltsamer Film, man geht die ganze Zeit mit. Die Protagonistin ist eine Hoffnungsträgerin, sehr positiv dargestellt in ihren Problemen, die als Herausforderungen wahrgenommen werden. Sie bewältigt die Situation, durchläuft eine Veränderung und bestimmt dann ihr Leben selbst.
Die Protagonisten gehen auf eine Reise?
FW: Ja, und das sowohl innerlich wie auch im wirklichen Leben. Kein Wunder also, dass das Road-Movie eine so häufig vertretene filmische Form in unserer Sektion ist. In Un mundo secreto (A Secret World) von Gabriel Mariño bricht ein Mädchen zusammen mit dem Zuschauer zu einer Reise quer durch Mexiko auf. Sie flüchtet vor Dingen, die sie hinter sich lassen will, aber sie hat auch ein ganz klares und geheimes Ziel vor Augen. Zu Beginn ist sie komplett in sich gekehrt, ein verschwiegenes Mädchen, autoaggressiv bis an die Grenze zur Misshandlung, zarte Gefühle kann sie nur in ihrem Tagebuch ausdrücken. Erst im Verlauf ihrer Reise lernt sie ihrem inneren Ziel ein äußeres Bild zu geben und sich anderen Menschen gegenüber zu artikulieren. Coming-of-Age kann den Weg der Charaktere zu sich selbst beschreiben, aber auch den Prozess, den der Zuschauer gemeinsam mit der Figur durchläuft.
Neuanfänge zerstörter Kulturen
Viele Figuren in den Filmen wirken, als wären sie aus der Zeit gefallen oder würden sich zwischen verschiedenen Zeitaltern bewegen. Wie in Maori Boys Genius…
MR: Die Frage nach der Kultur der Maori ist sehr modern und aktuell, auch wenn die Kultur selbst uralt ist. Der Film zeigt einen jungen Mann, der die Kraft dieser Urkultur für sein Leben nutzt. Darin ähnelt er Nosilatiaj. La Belleza (Beauty) von Daniela Seggiaro in 14plus. In beiden Filmen erleben wir Protagonisten, die in indigenen Kulturen leben, die durch den Kolonialismus fast ausgelöscht wurden. Heute gibt es wieder junge Leute, die sich um diese alten Kulturen kümmern, die nach ihren Wurzeln suchen, um ihre Identität zu stärken und das Erbe zu tradieren.
Im Fall von Maori Boy Genius (14plus) ist der heute 17-jährige Junge schon als Baby von den Stammesältesten als Auserwählter berufen worden, als zukünftiger Anführer des Kampfes um ihre Rechte. Pietra Brettkellys Dokumentarfilm zeigt uns seine Kindheit - seine erste Sprache ist Maori, erst mit vier Jahren beginnt er Englisch zu lernen – und seinen Weg nach Yale, wo er Jura, Ethik und Politik studieren möchte. Er bringt damit zwei unterschiedliche Welten zusammen, seine Urkultur und die westliche Welt. Er ist überzeugt, dass aus dieser Begegnung Veränderung entsteht. Damit ist er ein großes Vorbild, und es wird für unsere Berliner Zuschauer interessant sein, zu sehen, wie ein hochbegabter 17-jähriger als der nächste Premierminister Neuseelands gehandelt wird.
Die Kinder vom Napf, der Eröffnungsfilm von Kplus, thematisiert eine sehr isolierte Kultur, oder?
FW: Ja, die Regisseurin bezeichnet die Region um den Napf als den „Wilden Westen“ Luzerns. Ihr Dokumentarfilm porträtiert das Aufwachsen von 50 Bergbauernkindern. Sie folgt ihnen auf ihrem Weg zur Schule, die sie nur mit der Seilbahn erreichen können. Ganz zart im Hintergrund wirft der Film dabei die Frage auf: Hat diese abgelegene Existenz eine Zukunft? Wie ist es, in dem Bewusstsein zu leben, dass die Heimat zwar eine wunderbare, auf ihre Weise exotische Kindheitsidylle bieten kann, aber nicht der Ort ist, an dem alle ihr Leben lang bleiben können. Ziemlich am Anfang des Films fragen die Kinder: Was kann man tun, um das Dorf wieder bekannter in der Welt zu machen? Der Film ist auf seine Art eine Antwort.
Vom Entdecken der Sexualität
Ein weiteres Thema im diesjährigen Programm scheint die Sexualität zu sein …
FW: Ja, aber das ist nichts Außergewöhnliches, schließlich ist das Entdecken der eigenen Sexualität zentraler Bestandteil des Erwachsenwerdens. Die Filme im Programm skandalisieren und dramatisieren nichts. Im bereits erwähnten Un mundo secreto ist die sexuelle Befreiung integrales Moment der Selbstwerdung der Protagonistin. Um sich zu behaupten, muss sie einen eigenen Umgang mit der Geschlechtlichkeit finden. Joven & Alocada (Young & Wild) der chilenischen Filmemacherin Marialy Rivas (14plus) stellt uns eine Protagonistin vor, die Sexualität wie eine Waffe einsetzt, um sich von ihrem streng evangelikalen Elternhaus zu emanzipieren. Auf der anderen Seite, jenseits dieses Konfliktes, entwickelt sie eine neugierige und entdeckungslustige Art und Weise, sich verschiedensten Geschlechtern anzunähern.
MR: Jugendliche haben Lust zu experimentieren, ihre Grenzen auszutesten, und das ist ein leidenschaftlicher und hormongetriebener Lernprozess. Sexuelles ist auch immer Zeichen an die Gesellschaft, die Religion, die Strenge der Erziehung, an die Eltern: Ich rebelliere, überschreite die Grenzen des Erlaubten. Und manche Filme sind so hormonbetrieben wie ihre Protagonisten selbst, zum Beispiel das Musical Magi i luften.
FW: Genau, Magi i Luften (Love Is In The Air) von Simon Staho in 14plus ist eine Spur zu laut, zu bunt und zu extrem. Also ein Film, der formal so dicht am Jungsein dran ist, dass er manchem Erwachsenen zu nah treten wird – das ist eine Qualität!
MR: In Bezug auf Sexualität unterscheiden sich die Kulturen. Der türkische Film Lal Gece (Night of Silence) in 14plus thematisiert Sexualität im Kontext traditioneller Regeln und Riten. Der Regisseur Reis Çelik inszeniert die Hochzeitsnacht eines 14-jährigen Mädchens und eines viel älteren Mann. Die beiden wurden zwangsverheiratet, die Ehe von der fundamentalistischen Gesellschaft, in der sie leben, bestimmt. Das Besondere ist, dass der Film nicht nur das Leiden des Mädchens zeigt, sondern auch den Druck, der auf dem Mann lastet. In Lal Gece bleibt Sexualität eine Andeutung und ist auch eine Bedrohung. Der Mann muss am nächsten Morgen beweisen, dass das Brautpaar miteinander geschlafen hat und sie Jungfrau war. Das Mädchen zögert den Akt mit allen Mitteln hinaus.
Gibt es Themen und Darstellungsweisen, die ihr kategorisch ausschließen würdet – jenseits der Qualität des jeweiligen Films?
MR: Bei der Filmauswahl gibt es wenige Tabuthemen. Im Grunde stellen wir uns bei den Filmen, die uns gefallen, die Frage, ab welcher Altersstufe diese geeignet sein können. Innerhalb eines Wettbewerbs – Kplus oder 14plus – ist das Spektrum riesig und die Altersempfehlungen sind daher sehr differenziert. Ganz junge Kinder würden wir etwa nie mit dem bolivianischen Beitrag Pacha von Hector Ferreiro (Kplus) konfrontieren, weil die Bildsprache und das Thema zu komplex sind. Wir bitten unsere Zuschauer, die Empfehlungen sehr ernst zu nehmen. Das gilt auch für 14plus, dort haben wir in diesem Jahr erstmals zwei Filme ab 16 Jahren empfohlen.
„Happyend geht auch anders.“
Kommen wir noch einmal auf die Familie zu sprechen. Viele der diesjährigen Filme zeichnen sich gerade durch die Abwesenheit eines Elternteils aus.
MR: Die Sehnsucht nach der heilen Welt der Familie und nach einem Happy End gibt es besonders bei jüngeren Kindern zum Glück nach wie vor. Wenn es nicht gut auszugehen droht, müssen die jungen Protagonisten in den Filmen handeln.
FW: Nono von Rommel Tolentino, der philippinische Beitrag in Kplus zum Beispiel erzählt von verschiedensten Charakteren, die in einer Patchworkfamilie zusammenfinden. Wo Familienmitglieder fehlen, besteht der intensive Wunsch, diese Leerstelle zu füllen.
MR: „Familie“ im weiteren Sinne bedeutet ja auch den Ort, an dem man zu Hause ist. Das hat mit Glauben zu tun, mit Herkunft, berührt die Rückzugsgebiete, in denen man sich geborgen fühlt. Das klassische Familienmodell ist nur ein Modell von vielen. Die jungen Protagonisten suchen nach geeigneten Alternativen und die Zuschauer artikulieren dieses Interesse auch in den Publikumsgesprächen.
FW: Happy End geht auch anders. Ein guter Ausgang bedeutet nicht unbedingt die Wiederherstellung von überkommenen oder scheinbar harmonischen Modellen, sondern kann auch heißen, mit einer schwierigen Situation endlich umgehen zu lernen. In Kauwboy von Boudewijn Koole fehlt in einer Familie die Mutter, und erzählt wird der Auseinandersetzungsprozess zwischen dem Sohn und dem Vater. Beide trauern auf ihre ureigene Art. Am Ende ist die Mutter nicht wieder da, sondern Vater und Sohn finden ihren gemeinsamen Weg, mit der Abwesenheit umzugehen. Das ist auch ein Happy End.
2012 ist der 35. Geburtstag der Sektion. Habt ihr eine kleine Feier geplant?
MR: Es ist ein schönes Alter, mit dem sich ganz viele Erfahrungen, Erlebnisse und Geschichten verbinden. Wir nehmen es ganz locker, haben keine Feierlichkeiten organisiert und schauen weiter nach vorne. Aber wenn uns jemand einen Kuchen backen will, das wäre super!